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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Vor vierzig Jahren

Göttingen einsteigenden Reisenden, die sich dieser Möglichkeit entziehn wollten,
ziemlich groß, auch Schiller des Gymnasiums waren darunter. Weiterhin
stiegen ein paar junge hannöversche Kadetten ein, die in ihre Garnison Goslar
einberufe,, worden waren und im Gespräch lebhaft ihren Standpunkt verteidigten;
was aus ihnen wohl geworden sein mag! Nach Göttingen und Langensalza sind
sie zu ihrem Heile wahrscheinlich nicht gekommen. So konnte man das, was
im Westen geschehen würde, schon einigermaßen voraussehen. Dagegen wußte
ich von Sachsen noch immer nichts. Erst auf der weitern Fahrt ersah ich aus
einem Blatte der Magdeburgischen Zeitung, das mir ein Mitreisender überließ,
die Preußen seien (am 15. Abends) in Sachsen eingerückt, die (damals hölzerne)
Eisenbahnbrücke bei Riesa sei abgebrannt, auch die Oberlausitz sei schon teil¬
weise besetzt. Damit war mir jede Möglichkeit abgeschnitten, über Leipzig
weiterzukommen; es blieb mir nur übrig, von Magdeburg aus über Berlin
nach Görlitz, also hinter der offenbar in breiter Front nach Süden vorgehenden
Preußischen Armee, zu fahren und von dort irgendwie nach Zittau zu gelangen.

So kam ich Abends sieben Uhr in Magdeburg an. Es war kalt, windig,
bewölkt, und düster genug sah der breite belebte Elbstrom und die ganze
Landschaft aus, wie ich sie vom Fürstenwalle aus übersah. In der Stadt
fiel mir auf, daß alle Posten mit Landwehrleuten besetzt waren, meist ältern,
bärtigen Männern, die Garnison war offenbar längst ausgerückt. Am Markte,
den das altertümlich steife Denkmal Kaiser Ottos des Großen ziert, war eine
Proklamation des Magistrats angeschlagen, die Eltern und Lehrherren auf¬
forderte, die jungen Leute am Abend zu Hause zu halten, um Aufläufe zu
vermeiden, wie sie an den beiden vorhergehenden Abenden stattgefunden hätten.
Auf dem Breiten Wege, der alten Hauptstraße der Stadt, las ich ein Extrablatt
mit der Meldung, der König von Hannover sei über Bremerhaven nach Eng¬
land geflüchtet. So wenig Sicheres wußte man hier wieder von den Ereig¬
nissen in Hannover. Im Gasthofe zum Erzherzog Stephan traf ich nur ein
älteres vornehmes englisches Ehepaar mit einem deutschen Reisebegleiter; sie
sprachen im gleichgiltigsten Tone von den Dingen, die jeden Deutschen aufs
tiefste bewegten. Was mögen sie von einer Nation gedacht haben, die sich
soeben anschickte, sich selbst zu zerfleischen!

Am nächsten Tage früh um fünf Uhr fuhr ich mit dem Schnellzuge nach
Berlin ub. Einförmig dehnte sich die Flachlandschaft, bis die Havelseen
Mannigfaltigkeit hineinbrachten. Dort lag Brandenburg in dichtem grünem
Buschwerk, weiter kündigten die prächtige Kuppel der Nikolaikirche in Potsdam
und die Weltkugel auf dem Neuen Palais, die golden in der Sonne glänzte,
die Nähe der Hauptstadt an. Unterwegs war keine Spur vou Krieg und
Kriegsvorbereitungen zu sehen gewesen, außer daß der Zug auffallend schwach
besetzt war; aber auf dem Potsdamer Bahnhofe sperrte die Polizei sofort die
Ausgünge ab und forderte von jedem Ankömmling die Legitimation. In der
Stadt, die ich ihrer ganzen Länge von West nach Ost durchfahren mußte, war


Vor vierzig Jahren

Göttingen einsteigenden Reisenden, die sich dieser Möglichkeit entziehn wollten,
ziemlich groß, auch Schiller des Gymnasiums waren darunter. Weiterhin
stiegen ein paar junge hannöversche Kadetten ein, die in ihre Garnison Goslar
einberufe,, worden waren und im Gespräch lebhaft ihren Standpunkt verteidigten;
was aus ihnen wohl geworden sein mag! Nach Göttingen und Langensalza sind
sie zu ihrem Heile wahrscheinlich nicht gekommen. So konnte man das, was
im Westen geschehen würde, schon einigermaßen voraussehen. Dagegen wußte
ich von Sachsen noch immer nichts. Erst auf der weitern Fahrt ersah ich aus
einem Blatte der Magdeburgischen Zeitung, das mir ein Mitreisender überließ,
die Preußen seien (am 15. Abends) in Sachsen eingerückt, die (damals hölzerne)
Eisenbahnbrücke bei Riesa sei abgebrannt, auch die Oberlausitz sei schon teil¬
weise besetzt. Damit war mir jede Möglichkeit abgeschnitten, über Leipzig
weiterzukommen; es blieb mir nur übrig, von Magdeburg aus über Berlin
nach Görlitz, also hinter der offenbar in breiter Front nach Süden vorgehenden
Preußischen Armee, zu fahren und von dort irgendwie nach Zittau zu gelangen.

So kam ich Abends sieben Uhr in Magdeburg an. Es war kalt, windig,
bewölkt, und düster genug sah der breite belebte Elbstrom und die ganze
Landschaft aus, wie ich sie vom Fürstenwalle aus übersah. In der Stadt
fiel mir auf, daß alle Posten mit Landwehrleuten besetzt waren, meist ältern,
bärtigen Männern, die Garnison war offenbar längst ausgerückt. Am Markte,
den das altertümlich steife Denkmal Kaiser Ottos des Großen ziert, war eine
Proklamation des Magistrats angeschlagen, die Eltern und Lehrherren auf¬
forderte, die jungen Leute am Abend zu Hause zu halten, um Aufläufe zu
vermeiden, wie sie an den beiden vorhergehenden Abenden stattgefunden hätten.
Auf dem Breiten Wege, der alten Hauptstraße der Stadt, las ich ein Extrablatt
mit der Meldung, der König von Hannover sei über Bremerhaven nach Eng¬
land geflüchtet. So wenig Sicheres wußte man hier wieder von den Ereig¬
nissen in Hannover. Im Gasthofe zum Erzherzog Stephan traf ich nur ein
älteres vornehmes englisches Ehepaar mit einem deutschen Reisebegleiter; sie
sprachen im gleichgiltigsten Tone von den Dingen, die jeden Deutschen aufs
tiefste bewegten. Was mögen sie von einer Nation gedacht haben, die sich
soeben anschickte, sich selbst zu zerfleischen!

Am nächsten Tage früh um fünf Uhr fuhr ich mit dem Schnellzuge nach
Berlin ub. Einförmig dehnte sich die Flachlandschaft, bis die Havelseen
Mannigfaltigkeit hineinbrachten. Dort lag Brandenburg in dichtem grünem
Buschwerk, weiter kündigten die prächtige Kuppel der Nikolaikirche in Potsdam
und die Weltkugel auf dem Neuen Palais, die golden in der Sonne glänzte,
die Nähe der Hauptstadt an. Unterwegs war keine Spur vou Krieg und
Kriegsvorbereitungen zu sehen gewesen, außer daß der Zug auffallend schwach
besetzt war; aber auf dem Potsdamer Bahnhofe sperrte die Polizei sofort die
Ausgünge ab und forderte von jedem Ankömmling die Legitimation. In der
Stadt, die ich ihrer ganzen Länge von West nach Ost durchfahren mußte, war


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[0361] Vor vierzig Jahren Göttingen einsteigenden Reisenden, die sich dieser Möglichkeit entziehn wollten, ziemlich groß, auch Schiller des Gymnasiums waren darunter. Weiterhin stiegen ein paar junge hannöversche Kadetten ein, die in ihre Garnison Goslar einberufe,, worden waren und im Gespräch lebhaft ihren Standpunkt verteidigten; was aus ihnen wohl geworden sein mag! Nach Göttingen und Langensalza sind sie zu ihrem Heile wahrscheinlich nicht gekommen. So konnte man das, was im Westen geschehen würde, schon einigermaßen voraussehen. Dagegen wußte ich von Sachsen noch immer nichts. Erst auf der weitern Fahrt ersah ich aus einem Blatte der Magdeburgischen Zeitung, das mir ein Mitreisender überließ, die Preußen seien (am 15. Abends) in Sachsen eingerückt, die (damals hölzerne) Eisenbahnbrücke bei Riesa sei abgebrannt, auch die Oberlausitz sei schon teil¬ weise besetzt. Damit war mir jede Möglichkeit abgeschnitten, über Leipzig weiterzukommen; es blieb mir nur übrig, von Magdeburg aus über Berlin nach Görlitz, also hinter der offenbar in breiter Front nach Süden vorgehenden Preußischen Armee, zu fahren und von dort irgendwie nach Zittau zu gelangen. So kam ich Abends sieben Uhr in Magdeburg an. Es war kalt, windig, bewölkt, und düster genug sah der breite belebte Elbstrom und die ganze Landschaft aus, wie ich sie vom Fürstenwalle aus übersah. In der Stadt fiel mir auf, daß alle Posten mit Landwehrleuten besetzt waren, meist ältern, bärtigen Männern, die Garnison war offenbar längst ausgerückt. Am Markte, den das altertümlich steife Denkmal Kaiser Ottos des Großen ziert, war eine Proklamation des Magistrats angeschlagen, die Eltern und Lehrherren auf¬ forderte, die jungen Leute am Abend zu Hause zu halten, um Aufläufe zu vermeiden, wie sie an den beiden vorhergehenden Abenden stattgefunden hätten. Auf dem Breiten Wege, der alten Hauptstraße der Stadt, las ich ein Extrablatt mit der Meldung, der König von Hannover sei über Bremerhaven nach Eng¬ land geflüchtet. So wenig Sicheres wußte man hier wieder von den Ereig¬ nissen in Hannover. Im Gasthofe zum Erzherzog Stephan traf ich nur ein älteres vornehmes englisches Ehepaar mit einem deutschen Reisebegleiter; sie sprachen im gleichgiltigsten Tone von den Dingen, die jeden Deutschen aufs tiefste bewegten. Was mögen sie von einer Nation gedacht haben, die sich soeben anschickte, sich selbst zu zerfleischen! Am nächsten Tage früh um fünf Uhr fuhr ich mit dem Schnellzuge nach Berlin ub. Einförmig dehnte sich die Flachlandschaft, bis die Havelseen Mannigfaltigkeit hineinbrachten. Dort lag Brandenburg in dichtem grünem Buschwerk, weiter kündigten die prächtige Kuppel der Nikolaikirche in Potsdam und die Weltkugel auf dem Neuen Palais, die golden in der Sonne glänzte, die Nähe der Hauptstadt an. Unterwegs war keine Spur vou Krieg und Kriegsvorbereitungen zu sehen gewesen, außer daß der Zug auffallend schwach besetzt war; aber auf dem Potsdamer Bahnhofe sperrte die Polizei sofort die Ausgünge ab und forderte von jedem Ankömmling die Legitimation. In der Stadt, die ich ihrer ganzen Länge von West nach Ost durchfahren mußte, war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/361>, abgerufen am 09.06.2024.