Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.vor vierzig Icchn'u aufstieg, flüchteten aus deu benachbarten Dörfern Hunderte von kräftigen Als das Nequisitionskvmmando gegen acht Uhr Abends mit sechzehn vor vierzig Icchn'u aufstieg, flüchteten aus deu benachbarten Dörfern Hunderte von kräftigen Als das Nequisitionskvmmando gegen acht Uhr Abends mit sechzehn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300867"/> <fw type="header" place="top"> vor vierzig Icchn'u</fw><lb/> <p xml:id="ID_1506" prev="#ID_1505"> aufstieg, flüchteten aus deu benachbarten Dörfern Hunderte von kräftigen<lb/> Männern und Jünglingen, die nach der preußischen Heerverfassung alle hätten<lb/> unter Waffen sein müssen und nicht hätten zuhause hocken dürfen — wie wenig<lb/> war doch damals die Wehrkraft des kleinstaatlichen Deutschlands entwickelt! —<lb/> Hals über Kopf, oft dürftig bekleidet, in die Berge und Wälder und über<lb/> die Grenze, auch manche ältere Gymnasiasten dcirnnter, die es besser hätten<lb/> wissen müssen; der eine wurde vom Strudel der Ereignisse bis nach Prag<lb/> gewirbelt und zog schließlich dort am 8. Juli mit den Preußen ein. Dabei<lb/> traten die Preußen durchgängig artig und bescheiden ans, auch ihre Forderungen<lb/> gingen uicht über das hinaus, was jede Armee im Feindeslande zu.fordern<lb/> pflegt, und sie waren eben doch im Feindesland. Sie waren nur erbittert<lb/> über den Minister Beust und die sächsischen Stunde, und man hörte sie sagen:<lb/> „Wir führen nicht Krieg mit euch Sachsen, sondern mit Beust." Warum<lb/> und wofür waren wir die Gegner dieser stämmigen, blonden Männer ge¬<lb/> worden, unsrer nächsten Landsleute, die uns doch wahrhaftig unendlich näher<lb/> standen als die ungarischen Husaren, die mau mit Hurra begrüßte? Es war<lb/> jammervoll.</p><lb/> <p xml:id="ID_1507" next="#ID_1508"> Als das Nequisitionskvmmando gegen acht Uhr Abends mit sechzehn<lb/> Wagen ans Görlitz abzog und einige einzelne, weiter draußen stehende Posten<lb/> durch die Stadt zurückkehrten, um sich anzuschließen, wurden sie ans dem<lb/> Markte von einer aufgeregten, über die Requisitionen erbitterten Menge um¬<lb/> ringt und beschimpft und auch „notorische Preußenfreunde" aus der Stadt<lb/> selbst hier und da laeues mißhandelt. Denn man hoffte immer noch auf den<lb/> Anmarsch der Österreicher, man glaubte irgendwo Kanonendonner gehört zu<lb/> haben, und der etwas trübe Abend schien einen Einbruch durch die Gebirgs¬<lb/> pässe zu begünstigen. Aber es blieb alles totenstill. Doch am nächsten<lb/> Morgen, Mittwoch, nach acht Uhr sah ich von den Fenstern unsrer Wohnung<lb/> aus zwei ungarische Husaren vom Markte her nach der Webergasse sprengen,<lb/> von einer schreienden und jubelnden Menge umringt und begleitet; am späten<lb/> Nachmittage kamen zwei andre auf der Eisenbahustreckc von Grottan her bis<lb/> zum Bahnhofe, rissen dort die preußische Proklamation herunter, zeigten dem<lb/> staunenden Publikum ihre Neiterknnststücke, die offenbar die Bürgschaft des<lb/> Sieges in sich trugen, und ritten nach zweistündigem Aufenthalt unter dem<lb/> Jubel der Zuschauer zurück. Die Stimmung wurde durch deu Stillstand der<lb/> Fabriken, der eine Menge von Arbeitern brotlos machte, noch mehr erregt.<lb/> Müßiges Volk sammelte sich auf dem Markte, und da die paar städtischen<lb/> Polizisten, vor denen ohnehin niemand Respekt hatte, gegen etwaige Ruhe¬<lb/> störungen nicht entfernt ausreichten, so berief der Stadtrat die Kommnnnlgarde<lb/> zum Dienst und ließ die Hauptwache auf der Neustadt vou einer halben<lb/> Kompagnie beziehen. Inzwischen tauchten die abenteuerlichsten Gerüchte ohne<lb/> einen Schatten von Grundlage auf. Alles, was man wünschte und hoffte,<lb/> gestaltete sich in der erregten Volksphantasie zu Tatsachen: Löbnu stand in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0368]
vor vierzig Icchn'u
aufstieg, flüchteten aus deu benachbarten Dörfern Hunderte von kräftigen
Männern und Jünglingen, die nach der preußischen Heerverfassung alle hätten
unter Waffen sein müssen und nicht hätten zuhause hocken dürfen — wie wenig
war doch damals die Wehrkraft des kleinstaatlichen Deutschlands entwickelt! —
Hals über Kopf, oft dürftig bekleidet, in die Berge und Wälder und über
die Grenze, auch manche ältere Gymnasiasten dcirnnter, die es besser hätten
wissen müssen; der eine wurde vom Strudel der Ereignisse bis nach Prag
gewirbelt und zog schließlich dort am 8. Juli mit den Preußen ein. Dabei
traten die Preußen durchgängig artig und bescheiden ans, auch ihre Forderungen
gingen uicht über das hinaus, was jede Armee im Feindeslande zu.fordern
pflegt, und sie waren eben doch im Feindesland. Sie waren nur erbittert
über den Minister Beust und die sächsischen Stunde, und man hörte sie sagen:
„Wir führen nicht Krieg mit euch Sachsen, sondern mit Beust." Warum
und wofür waren wir die Gegner dieser stämmigen, blonden Männer ge¬
worden, unsrer nächsten Landsleute, die uns doch wahrhaftig unendlich näher
standen als die ungarischen Husaren, die mau mit Hurra begrüßte? Es war
jammervoll.
Als das Nequisitionskvmmando gegen acht Uhr Abends mit sechzehn
Wagen ans Görlitz abzog und einige einzelne, weiter draußen stehende Posten
durch die Stadt zurückkehrten, um sich anzuschließen, wurden sie ans dem
Markte von einer aufgeregten, über die Requisitionen erbitterten Menge um¬
ringt und beschimpft und auch „notorische Preußenfreunde" aus der Stadt
selbst hier und da laeues mißhandelt. Denn man hoffte immer noch auf den
Anmarsch der Österreicher, man glaubte irgendwo Kanonendonner gehört zu
haben, und der etwas trübe Abend schien einen Einbruch durch die Gebirgs¬
pässe zu begünstigen. Aber es blieb alles totenstill. Doch am nächsten
Morgen, Mittwoch, nach acht Uhr sah ich von den Fenstern unsrer Wohnung
aus zwei ungarische Husaren vom Markte her nach der Webergasse sprengen,
von einer schreienden und jubelnden Menge umringt und begleitet; am späten
Nachmittage kamen zwei andre auf der Eisenbahustreckc von Grottan her bis
zum Bahnhofe, rissen dort die preußische Proklamation herunter, zeigten dem
staunenden Publikum ihre Neiterknnststücke, die offenbar die Bürgschaft des
Sieges in sich trugen, und ritten nach zweistündigem Aufenthalt unter dem
Jubel der Zuschauer zurück. Die Stimmung wurde durch deu Stillstand der
Fabriken, der eine Menge von Arbeitern brotlos machte, noch mehr erregt.
Müßiges Volk sammelte sich auf dem Markte, und da die paar städtischen
Polizisten, vor denen ohnehin niemand Respekt hatte, gegen etwaige Ruhe¬
störungen nicht entfernt ausreichten, so berief der Stadtrat die Kommnnnlgarde
zum Dienst und ließ die Hauptwache auf der Neustadt vou einer halben
Kompagnie beziehen. Inzwischen tauchten die abenteuerlichsten Gerüchte ohne
einen Schatten von Grundlage auf. Alles, was man wünschte und hoffte,
gestaltete sich in der erregten Volksphantasie zu Tatsachen: Löbnu stand in
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |