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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

künftiger Historiker der preußischen Invasion eifrig Notizen über die Reihen¬
folge der an ihm vorbeimarschierenden Truppenteile gemacht, als Spion auf¬
gegriffen und mit fortgeschleppt worden! Mit Mühe kounte mein Vater die
aufgeregte Frau so weit beruhigen, daß sie einigermaßen die Fassung wieder
erlangte; er werde, sobald nur die leiseste Möglichkeit sei, dem Armen zu Hilfe
zu- kommen, das Seinige tun. Es war zum Glück nicht nötig; gegen Abend
kam der geängstete Mann auf weitem Umwege zurück; der Oberst des 54. In¬
fanterieregiments, von Buddenbrock, vor den er in ungemütlichen Zuge längs
der gerade rastenden Truppenkolonne geführt worden war, hatte ihn "auf sein
ehrliches Gesicht hin" losgelassen; anch seine Notizen erhielt er später zurück.
Am Nachmittage kamen neue Truppen an, und diese wurden nun einquartiert;
anch wir erhielten zunächst zwei Mann vom 54. Regiment, Pommern, die seit
drei Uhr früh auf dem Marsche von Löbau her wnreu und kein andres Be¬
dürfnis hatten als Ruhe. Gegen sieben Uhr fiel mit einem Gewitter ein
strömender Regen ein und hielt die ganze Nacht um. Aber noch nach nenn
Uhr kam ein Stabsapotheker in Offiziersrang mit seinem Burschen an, triefend
vor Nässe (sein Mantel entsandte Ströme von Wasser), denn er war von
Görlitz ans stundenlang in der Kolonne geritten. Alle Massenquartiere in
der Stadt waren überfüllt, eine Reihe öffentlicher Gebäude, die soeben be-
zogue neue Bürgerschule und die Realschule an der Promenade, das Schie߬
haus u. a. waren für Lazarette beansprucht, und vor den? Gymnasium waren
die Wagen eines schweren Feldlazaretts aufgefahren. Da blieb nichts übrig,
als auch die Schulen vorläufig auf acht Tage zu schließen, die schon in den
letzten bewegten Tagen den Unterricht teilweise hatten aussetzen müssen.

In der Nacht rasselte nach zwölf Uhr der dröhnende Generalmarsch durch
die stillen Straßen; auch unsre Pommern stürzten fort, kamen aber bald
wieder, und wir haben niemals erfahren, was den Alarm veranlaßt habe,
denn schon war Reichenberg besetzt, von einer Gefahr durch die Österreicher
konnte also gar keine Rede mehr sein, und am nächsten Tage, Sonntags, wurde
auch die Eisenbahn nach Reichenberg für militärische Zwecke wieder eröffnet,
sodaß zwei große Munitionskolonnen, die noch in der Stadt standen, auf ihr
dorthin gebracht werden konnten. Nachmittag setzte abermals Regenwetter ein;
aber es blieb alles ruhig, fast unheimlich ruhig. Man wollte fernen Kanonen¬
donner hören, und ein paar kleine Gefechte um Reichenberg hatte es wirklich
schon am vorigen Tage gegeben, auch waren zwei ungarische Husaren als
Gefangne eingebracht worden, am Abend kamen die ersten Verwundeten an,
und wir erfuhren zugleich, daß gestern die Elbarmee uuter Herwarth von
Bitterfeld, das achte (rheinische) Armeekorps und die vierzehnte Division, von
Dresden her kommend um Großschönau, zwei Stunden westlich von Zittau, ge¬
lagert habe, um über den Paß von Waltersdorf an der Lausche vorüber in
Böhmen einzurücken. So standen am 23. und 24. Juni im ganzen vier Armee¬
korps und eine Division, etwa 150000 Mann, genau die Hälfte der gesamten


vor vierzig Jahren

künftiger Historiker der preußischen Invasion eifrig Notizen über die Reihen¬
folge der an ihm vorbeimarschierenden Truppenteile gemacht, als Spion auf¬
gegriffen und mit fortgeschleppt worden! Mit Mühe kounte mein Vater die
aufgeregte Frau so weit beruhigen, daß sie einigermaßen die Fassung wieder
erlangte; er werde, sobald nur die leiseste Möglichkeit sei, dem Armen zu Hilfe
zu- kommen, das Seinige tun. Es war zum Glück nicht nötig; gegen Abend
kam der geängstete Mann auf weitem Umwege zurück; der Oberst des 54. In¬
fanterieregiments, von Buddenbrock, vor den er in ungemütlichen Zuge längs
der gerade rastenden Truppenkolonne geführt worden war, hatte ihn „auf sein
ehrliches Gesicht hin" losgelassen; anch seine Notizen erhielt er später zurück.
Am Nachmittage kamen neue Truppen an, und diese wurden nun einquartiert;
anch wir erhielten zunächst zwei Mann vom 54. Regiment, Pommern, die seit
drei Uhr früh auf dem Marsche von Löbau her wnreu und kein andres Be¬
dürfnis hatten als Ruhe. Gegen sieben Uhr fiel mit einem Gewitter ein
strömender Regen ein und hielt die ganze Nacht um. Aber noch nach nenn
Uhr kam ein Stabsapotheker in Offiziersrang mit seinem Burschen an, triefend
vor Nässe (sein Mantel entsandte Ströme von Wasser), denn er war von
Görlitz ans stundenlang in der Kolonne geritten. Alle Massenquartiere in
der Stadt waren überfüllt, eine Reihe öffentlicher Gebäude, die soeben be-
zogue neue Bürgerschule und die Realschule an der Promenade, das Schie߬
haus u. a. waren für Lazarette beansprucht, und vor den? Gymnasium waren
die Wagen eines schweren Feldlazaretts aufgefahren. Da blieb nichts übrig,
als auch die Schulen vorläufig auf acht Tage zu schließen, die schon in den
letzten bewegten Tagen den Unterricht teilweise hatten aussetzen müssen.

In der Nacht rasselte nach zwölf Uhr der dröhnende Generalmarsch durch
die stillen Straßen; auch unsre Pommern stürzten fort, kamen aber bald
wieder, und wir haben niemals erfahren, was den Alarm veranlaßt habe,
denn schon war Reichenberg besetzt, von einer Gefahr durch die Österreicher
konnte also gar keine Rede mehr sein, und am nächsten Tage, Sonntags, wurde
auch die Eisenbahn nach Reichenberg für militärische Zwecke wieder eröffnet,
sodaß zwei große Munitionskolonnen, die noch in der Stadt standen, auf ihr
dorthin gebracht werden konnten. Nachmittag setzte abermals Regenwetter ein;
aber es blieb alles ruhig, fast unheimlich ruhig. Man wollte fernen Kanonen¬
donner hören, und ein paar kleine Gefechte um Reichenberg hatte es wirklich
schon am vorigen Tage gegeben, auch waren zwei ungarische Husaren als
Gefangne eingebracht worden, am Abend kamen die ersten Verwundeten an,
und wir erfuhren zugleich, daß gestern die Elbarmee uuter Herwarth von
Bitterfeld, das achte (rheinische) Armeekorps und die vierzehnte Division, von
Dresden her kommend um Großschönau, zwei Stunden westlich von Zittau, ge¬
lagert habe, um über den Paß von Waltersdorf an der Lausche vorüber in
Böhmen einzurücken. So standen am 23. und 24. Juni im ganzen vier Armee¬
korps und eine Division, etwa 150000 Mann, genau die Hälfte der gesamten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/478>, abgerufen am 09.06.2024.