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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Rulturbilder aus den Balkanstaaten

der Balkcmstüdte ziemlich weit außerhalb liegen, so muß man zunächst durch
jene äußern, noch halb orientalischen Buden- und Hüttenstädte hindurch und ist
dann erstaunt über den Kontrast zweier Welten, indem man in einer Viertel¬
stunde aus dem Orient nach Europa gelangt, aus ungepflasterten, staubigen
Landstraßen, belebt von Hammelherden oder Büffelwagen, Bauern- und
Hirtengestalten in dem sarmatischen Hemd (über den Hosen) oder der alba-
nesischen Fustanella, in gerade, breite und saubre Straßen mit elektrischen
Bahnen, eleganten Fiakern und nach der neusten französischen Mode gekleideten
Passanten.

Eines freilich fällt einem sofort auf, besonders wenn man durch die
Straßen von Bukarest oder Athen geht, und beweist einem, daß man nicht
so ganz in Europa ist: an Stelle der hohen, aneinandergedrängten Miet¬
kasernen und Warenhäuser sieht man mit wenig Ausnahmen kleine, ein¬
stöckige, würfelartige Häuschen mit spitz zulaufenden, gleichseitigen Dächern,
freistehend und meist von der Seite aus zugänglich -- das kann wohl nur
ein Villenviertel sein, denkt unwillkürlich der europäische Großstädter, doch
nein, da ist ja ein großes Cafe in dem einen Hause, und gegenüber das
königliche Schloß, wir müssen also wohl im Mittelpunkte der Stadt sein.
Allerdings ist es so, aber die Balkanleute sind noch keine so eingefleischter
Kulturmenschen, daß sie sich in vier- und mehrstöckigen Mauermassen lebendig
begraben ließen; sie wollen Luft und Licht, und vor allem wollen sie ihre
eignen Herren sein. Sie sind in dieser Hinsicht ebenso patriarchalisch und so
exklusiv wie die Engländer mit ihrem Begriff des noivöliks und des mz^ Kousiz
i8 inzs vastis. Da es nun aber in den meisten Fällen nicht möglich ist, daß
jede Familie ihr eignes Haus bewohnt, so hat man sich in der Regel auf
das einstöckige Zweifamilienhaus geeinigt, doch so, daß zu jeder Wohnung
eine eigne Treppe führt, damit sich die beiden Familien nicht begegnen; dem
ausgeprägten Sippenbewußtsein des Balkanmenschen -- ein Überrest des alten
Clanwesens -- wäre das unerträglich.*) Da also jeder seinen eignen Eingang
hat, und da nur gute Bekannte ins Haus zu kommen wagen, hält man auch
nicht ängstlich auf die Türverschließung, und man kann, wie auf dem Lande,
meist ungehindert eintreten; Abends muß man sich dann des überall ver¬
breiteten Türklopfers bedienen. Vor etwa zwanzig Jahren dachte man in
Athen sogar des Nachts nicht daran, die Türen zu verschließen, und es wurde
erst in den Zeitungen darauf hingewiesen, daß es Diebe gebe.

Diese Kleinheit und weite Anordnung der Häuser mit dem dazwischen
liegenden Gärtchen hat zweifellos etwas anheimelndes; man ist zum Beispiel
in Bukarest in einer Großstadt, ohne doch das Drückende der Großstadt zu
empfinden -- hier wie in Athen sind es nur verschwindend wenig Geschäfts¬
straßen, die festgeschlossene Häuserreihen aufweisen, und diese sind nach deutschem



Nur das Proletariat wohnt in Bukarest in sogenannten Mietkasernen.
Rulturbilder aus den Balkanstaaten

der Balkcmstüdte ziemlich weit außerhalb liegen, so muß man zunächst durch
jene äußern, noch halb orientalischen Buden- und Hüttenstädte hindurch und ist
dann erstaunt über den Kontrast zweier Welten, indem man in einer Viertel¬
stunde aus dem Orient nach Europa gelangt, aus ungepflasterten, staubigen
Landstraßen, belebt von Hammelherden oder Büffelwagen, Bauern- und
Hirtengestalten in dem sarmatischen Hemd (über den Hosen) oder der alba-
nesischen Fustanella, in gerade, breite und saubre Straßen mit elektrischen
Bahnen, eleganten Fiakern und nach der neusten französischen Mode gekleideten
Passanten.

Eines freilich fällt einem sofort auf, besonders wenn man durch die
Straßen von Bukarest oder Athen geht, und beweist einem, daß man nicht
so ganz in Europa ist: an Stelle der hohen, aneinandergedrängten Miet¬
kasernen und Warenhäuser sieht man mit wenig Ausnahmen kleine, ein¬
stöckige, würfelartige Häuschen mit spitz zulaufenden, gleichseitigen Dächern,
freistehend und meist von der Seite aus zugänglich — das kann wohl nur
ein Villenviertel sein, denkt unwillkürlich der europäische Großstädter, doch
nein, da ist ja ein großes Cafe in dem einen Hause, und gegenüber das
königliche Schloß, wir müssen also wohl im Mittelpunkte der Stadt sein.
Allerdings ist es so, aber die Balkanleute sind noch keine so eingefleischter
Kulturmenschen, daß sie sich in vier- und mehrstöckigen Mauermassen lebendig
begraben ließen; sie wollen Luft und Licht, und vor allem wollen sie ihre
eignen Herren sein. Sie sind in dieser Hinsicht ebenso patriarchalisch und so
exklusiv wie die Engländer mit ihrem Begriff des noivöliks und des mz^ Kousiz
i8 inzs vastis. Da es nun aber in den meisten Fällen nicht möglich ist, daß
jede Familie ihr eignes Haus bewohnt, so hat man sich in der Regel auf
das einstöckige Zweifamilienhaus geeinigt, doch so, daß zu jeder Wohnung
eine eigne Treppe führt, damit sich die beiden Familien nicht begegnen; dem
ausgeprägten Sippenbewußtsein des Balkanmenschen — ein Überrest des alten
Clanwesens — wäre das unerträglich.*) Da also jeder seinen eignen Eingang
hat, und da nur gute Bekannte ins Haus zu kommen wagen, hält man auch
nicht ängstlich auf die Türverschließung, und man kann, wie auf dem Lande,
meist ungehindert eintreten; Abends muß man sich dann des überall ver¬
breiteten Türklopfers bedienen. Vor etwa zwanzig Jahren dachte man in
Athen sogar des Nachts nicht daran, die Türen zu verschließen, und es wurde
erst in den Zeitungen darauf hingewiesen, daß es Diebe gebe.

Diese Kleinheit und weite Anordnung der Häuser mit dem dazwischen
liegenden Gärtchen hat zweifellos etwas anheimelndes; man ist zum Beispiel
in Bukarest in einer Großstadt, ohne doch das Drückende der Großstadt zu
empfinden — hier wie in Athen sind es nur verschwindend wenig Geschäfts¬
straßen, die festgeschlossene Häuserreihen aufweisen, und diese sind nach deutschem



Nur das Proletariat wohnt in Bukarest in sogenannten Mietkasernen.
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[0096] Rulturbilder aus den Balkanstaaten der Balkcmstüdte ziemlich weit außerhalb liegen, so muß man zunächst durch jene äußern, noch halb orientalischen Buden- und Hüttenstädte hindurch und ist dann erstaunt über den Kontrast zweier Welten, indem man in einer Viertel¬ stunde aus dem Orient nach Europa gelangt, aus ungepflasterten, staubigen Landstraßen, belebt von Hammelherden oder Büffelwagen, Bauern- und Hirtengestalten in dem sarmatischen Hemd (über den Hosen) oder der alba- nesischen Fustanella, in gerade, breite und saubre Straßen mit elektrischen Bahnen, eleganten Fiakern und nach der neusten französischen Mode gekleideten Passanten. Eines freilich fällt einem sofort auf, besonders wenn man durch die Straßen von Bukarest oder Athen geht, und beweist einem, daß man nicht so ganz in Europa ist: an Stelle der hohen, aneinandergedrängten Miet¬ kasernen und Warenhäuser sieht man mit wenig Ausnahmen kleine, ein¬ stöckige, würfelartige Häuschen mit spitz zulaufenden, gleichseitigen Dächern, freistehend und meist von der Seite aus zugänglich — das kann wohl nur ein Villenviertel sein, denkt unwillkürlich der europäische Großstädter, doch nein, da ist ja ein großes Cafe in dem einen Hause, und gegenüber das königliche Schloß, wir müssen also wohl im Mittelpunkte der Stadt sein. Allerdings ist es so, aber die Balkanleute sind noch keine so eingefleischter Kulturmenschen, daß sie sich in vier- und mehrstöckigen Mauermassen lebendig begraben ließen; sie wollen Luft und Licht, und vor allem wollen sie ihre eignen Herren sein. Sie sind in dieser Hinsicht ebenso patriarchalisch und so exklusiv wie die Engländer mit ihrem Begriff des noivöliks und des mz^ Kousiz i8 inzs vastis. Da es nun aber in den meisten Fällen nicht möglich ist, daß jede Familie ihr eignes Haus bewohnt, so hat man sich in der Regel auf das einstöckige Zweifamilienhaus geeinigt, doch so, daß zu jeder Wohnung eine eigne Treppe führt, damit sich die beiden Familien nicht begegnen; dem ausgeprägten Sippenbewußtsein des Balkanmenschen — ein Überrest des alten Clanwesens — wäre das unerträglich.*) Da also jeder seinen eignen Eingang hat, und da nur gute Bekannte ins Haus zu kommen wagen, hält man auch nicht ängstlich auf die Türverschließung, und man kann, wie auf dem Lande, meist ungehindert eintreten; Abends muß man sich dann des überall ver¬ breiteten Türklopfers bedienen. Vor etwa zwanzig Jahren dachte man in Athen sogar des Nachts nicht daran, die Türen zu verschließen, und es wurde erst in den Zeitungen darauf hingewiesen, daß es Diebe gebe. Diese Kleinheit und weite Anordnung der Häuser mit dem dazwischen liegenden Gärtchen hat zweifellos etwas anheimelndes; man ist zum Beispiel in Bukarest in einer Großstadt, ohne doch das Drückende der Großstadt zu empfinden — hier wie in Athen sind es nur verschwindend wenig Geschäfts¬ straßen, die festgeschlossene Häuserreihen aufweisen, und diese sind nach deutschem Nur das Proletariat wohnt in Bukarest in sogenannten Mietkasernen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/96>, abgerufen am 04.06.2024.