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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Tünzelfritze

Gegenwärtig ist die Fabrikmarke alles, was der Verkäufer auf seinen Waren
braucht. Es würde aber bald anders werden, wenn sich das Publikum dazu
verstehe" wollte, sachkundig prüfen zu lerne", was es einkauft.

Unser Rüstzeug dazu ist schwach, wir müssen es uns erst kräftig machen,
ja eigentlich erst herstellen. Um dem Publikum die reellen Waffen in die Hand
zu geben, will ich jetzt die Einzelheiten besprechen, die, ohne die Aufgabe zu
schwierig zu machen, das Publikum instant setzen sollen, den Kampf gegen die
unechten Farben mit Hoffnung auf Erfolg aufzunehmen.




Tänzelsritze
Max Grad von
(Fortsetzung)

!as junge Mädchen braucht um frühen, hellen Sommermorgen gar
nichts mehr, um sich völlig klar zu sein über alles, was sich ereignet
hatte, und noch mehr über das, was hätte geschehen können, wenn
Fritz Telemann nicht so glattweg vorgezogen hätte, zur Hochzeit zu
fahren, statt noch länger mit ihr, die er doch so sehr zu lieben
^ schien, zusammen zu sein. Immer enger hätte sich eine Fessel zuge¬
zogen, die ihr -- o sie fühlt es deutlich -- statt zum dauernden Rosenband treuer
Neigung zum rauhen, erbarmungslosen Henkerstrick geworden wäre! Jetzt weis;
Wine, daß ein zu spät erkanntes, unechtes Gefühl zur fressenden Lebenslüge werden
kann. Wie traurig, daß man erst herabstürzen muß, um aus dem Zustande einer
halben Betäubung zu erwachen! Lange hatte Malwine Reichhardt nicht mehr so
recht gebetet. Aber jetzt -- obgleich sie die Hände um die heraufgezognen Knie
gelegt hat, statt sie zu falten -- jetzt betet sie. Inbrünstig! Wie sie meint, so
inbrünstig, wie fast noch nie vorher in ihrem Leben. Mit jenem Augenblicke,
da sie die Zärtlichkeiten des Mannes geduldet, seine Küsse erwidert, seine Liebes-
beteuernngen angehört hatte, fühlte sie sich ihm verbunden als seine Braut, als
sein künftiges Weib. Und dennoch mußte sie nach so jammervoll kurzer Zeit, da
sich ihre Lippen kaum voneinander gelöst hatten, schon den deutlichen Beweis er¬
halten, daß ihm ein lustiger Streich, der Tanz mit Neuen, Fremden und andern,
denen er vielleicht dieselben Liebesworte zuflüstern würde wie ihr, werter dünkte,
als mit ihr, der kaum Gefuudnen, in innigem Vereine einige weitere Stunden zu
verbringen. Jetzt weiß sie, wie seine Liebe beschaffen ist, und wie er sie auffaßt.
Scham erdrückt sie fast, und heißer Zorn peitscht sie wieder auf. Tänzelfritze! ruft
das blasse Mädchen leidenschaftlich gegen die kahle" Wände der Kammer. Ja ja!
Nur Tänzelfritze, Tänzelfritze!

Amen! murmelt nebenan die tiefschlafende Alte, im Traume ein Gebet be¬
schließend. Erst schrickt Wine zusammen und horcht gespannt, aber nichts regt sich
mehr. Immer Heller wird es ihr vor den Augen, und sie denkt und grübelt weiter.
Hat sie je ein vernünftiges Wort mit Fritz Telemann gesprochen bei den Dutzende"
vou Begegnungen, die sie mit ihm gehabt? Hatte er auch nur ein Gespräch auf¬
kommen lassen, das nur im entferntesten denen glich, die sie daheim mit dem Vater


Tünzelfritze

Gegenwärtig ist die Fabrikmarke alles, was der Verkäufer auf seinen Waren
braucht. Es würde aber bald anders werden, wenn sich das Publikum dazu
verstehe» wollte, sachkundig prüfen zu lerne», was es einkauft.

Unser Rüstzeug dazu ist schwach, wir müssen es uns erst kräftig machen,
ja eigentlich erst herstellen. Um dem Publikum die reellen Waffen in die Hand
zu geben, will ich jetzt die Einzelheiten besprechen, die, ohne die Aufgabe zu
schwierig zu machen, das Publikum instant setzen sollen, den Kampf gegen die
unechten Farben mit Hoffnung auf Erfolg aufzunehmen.




Tänzelsritze
Max Grad von
(Fortsetzung)

!as junge Mädchen braucht um frühen, hellen Sommermorgen gar
nichts mehr, um sich völlig klar zu sein über alles, was sich ereignet
hatte, und noch mehr über das, was hätte geschehen können, wenn
Fritz Telemann nicht so glattweg vorgezogen hätte, zur Hochzeit zu
fahren, statt noch länger mit ihr, die er doch so sehr zu lieben
^ schien, zusammen zu sein. Immer enger hätte sich eine Fessel zuge¬
zogen, die ihr — o sie fühlt es deutlich — statt zum dauernden Rosenband treuer
Neigung zum rauhen, erbarmungslosen Henkerstrick geworden wäre! Jetzt weis;
Wine, daß ein zu spät erkanntes, unechtes Gefühl zur fressenden Lebenslüge werden
kann. Wie traurig, daß man erst herabstürzen muß, um aus dem Zustande einer
halben Betäubung zu erwachen! Lange hatte Malwine Reichhardt nicht mehr so
recht gebetet. Aber jetzt — obgleich sie die Hände um die heraufgezognen Knie
gelegt hat, statt sie zu falten — jetzt betet sie. Inbrünstig! Wie sie meint, so
inbrünstig, wie fast noch nie vorher in ihrem Leben. Mit jenem Augenblicke,
da sie die Zärtlichkeiten des Mannes geduldet, seine Küsse erwidert, seine Liebes-
beteuernngen angehört hatte, fühlte sie sich ihm verbunden als seine Braut, als
sein künftiges Weib. Und dennoch mußte sie nach so jammervoll kurzer Zeit, da
sich ihre Lippen kaum voneinander gelöst hatten, schon den deutlichen Beweis er¬
halten, daß ihm ein lustiger Streich, der Tanz mit Neuen, Fremden und andern,
denen er vielleicht dieselben Liebesworte zuflüstern würde wie ihr, werter dünkte,
als mit ihr, der kaum Gefuudnen, in innigem Vereine einige weitere Stunden zu
verbringen. Jetzt weiß sie, wie seine Liebe beschaffen ist, und wie er sie auffaßt.
Scham erdrückt sie fast, und heißer Zorn peitscht sie wieder auf. Tänzelfritze! ruft
das blasse Mädchen leidenschaftlich gegen die kahle» Wände der Kammer. Ja ja!
Nur Tänzelfritze, Tänzelfritze!

Amen! murmelt nebenan die tiefschlafende Alte, im Traume ein Gebet be¬
schließend. Erst schrickt Wine zusammen und horcht gespannt, aber nichts regt sich
mehr. Immer Heller wird es ihr vor den Augen, und sie denkt und grübelt weiter.
Hat sie je ein vernünftiges Wort mit Fritz Telemann gesprochen bei den Dutzende»
vou Begegnungen, die sie mit ihm gehabt? Hatte er auch nur ein Gespräch auf¬
kommen lassen, das nur im entferntesten denen glich, die sie daheim mit dem Vater


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[0542] Tünzelfritze Gegenwärtig ist die Fabrikmarke alles, was der Verkäufer auf seinen Waren braucht. Es würde aber bald anders werden, wenn sich das Publikum dazu verstehe» wollte, sachkundig prüfen zu lerne», was es einkauft. Unser Rüstzeug dazu ist schwach, wir müssen es uns erst kräftig machen, ja eigentlich erst herstellen. Um dem Publikum die reellen Waffen in die Hand zu geben, will ich jetzt die Einzelheiten besprechen, die, ohne die Aufgabe zu schwierig zu machen, das Publikum instant setzen sollen, den Kampf gegen die unechten Farben mit Hoffnung auf Erfolg aufzunehmen. Tänzelsritze Max Grad von (Fortsetzung) !as junge Mädchen braucht um frühen, hellen Sommermorgen gar nichts mehr, um sich völlig klar zu sein über alles, was sich ereignet hatte, und noch mehr über das, was hätte geschehen können, wenn Fritz Telemann nicht so glattweg vorgezogen hätte, zur Hochzeit zu fahren, statt noch länger mit ihr, die er doch so sehr zu lieben ^ schien, zusammen zu sein. Immer enger hätte sich eine Fessel zuge¬ zogen, die ihr — o sie fühlt es deutlich — statt zum dauernden Rosenband treuer Neigung zum rauhen, erbarmungslosen Henkerstrick geworden wäre! Jetzt weis; Wine, daß ein zu spät erkanntes, unechtes Gefühl zur fressenden Lebenslüge werden kann. Wie traurig, daß man erst herabstürzen muß, um aus dem Zustande einer halben Betäubung zu erwachen! Lange hatte Malwine Reichhardt nicht mehr so recht gebetet. Aber jetzt — obgleich sie die Hände um die heraufgezognen Knie gelegt hat, statt sie zu falten — jetzt betet sie. Inbrünstig! Wie sie meint, so inbrünstig, wie fast noch nie vorher in ihrem Leben. Mit jenem Augenblicke, da sie die Zärtlichkeiten des Mannes geduldet, seine Küsse erwidert, seine Liebes- beteuernngen angehört hatte, fühlte sie sich ihm verbunden als seine Braut, als sein künftiges Weib. Und dennoch mußte sie nach so jammervoll kurzer Zeit, da sich ihre Lippen kaum voneinander gelöst hatten, schon den deutlichen Beweis er¬ halten, daß ihm ein lustiger Streich, der Tanz mit Neuen, Fremden und andern, denen er vielleicht dieselben Liebesworte zuflüstern würde wie ihr, werter dünkte, als mit ihr, der kaum Gefuudnen, in innigem Vereine einige weitere Stunden zu verbringen. Jetzt weiß sie, wie seine Liebe beschaffen ist, und wie er sie auffaßt. Scham erdrückt sie fast, und heißer Zorn peitscht sie wieder auf. Tänzelfritze! ruft das blasse Mädchen leidenschaftlich gegen die kahle» Wände der Kammer. Ja ja! Nur Tänzelfritze, Tänzelfritze! Amen! murmelt nebenan die tiefschlafende Alte, im Traume ein Gebet be¬ schließend. Erst schrickt Wine zusammen und horcht gespannt, aber nichts regt sich mehr. Immer Heller wird es ihr vor den Augen, und sie denkt und grübelt weiter. Hat sie je ein vernünftiges Wort mit Fritz Telemann gesprochen bei den Dutzende» vou Begegnungen, die sie mit ihm gehabt? Hatte er auch nur ein Gespräch auf¬ kommen lassen, das nur im entferntesten denen glich, die sie daheim mit dem Vater

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/542>, abgerufen am 22.05.2024.