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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Monarchen beauftragt ist, durch zweckentsprechende Reformen erst verfassungs¬
mäßige Zustände herbeizuführen. Das Maß und der Umfang dieser Reformen
waren durch den Kaiser im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 vorgeschrieben
worden. Die Aufgabe konnte jedoch bisher aus verschiednen Gründen, deren
Ursprung in der Schwäche der Regierung liegt, nicht durchgeführt werden. Auf
der einen Seite versuchte die sozialistisch erzogne Intelligenz weit über das
hinauszugehn, was für den historisch entstandnen Staat zulässig ist, und auf
der andern suchte ein durch die Negierung seit dreißig Jahren verzogner Adel
jede gründliche Reform zu verhindern. Der Gegner von links ist hierbei als
die treibende, also gesundere, wenn auch leicht staatsgefährliche Kraft, der Gegner
von rechts aber, der unter allen Umständen zu den Verhältnissen zurückkehren
will, die früher zur Revolution geführt haben, ist als stagnierende und zer¬
setzende Kraft zu betrachten. Hier ist, wohlverstanden, nicht von liberal und
konservativ die Rede. Das sind Begriffe, die wohl noch recht lange in Ru߬
land nicht im westeuropäischen Sinne werden angewandt werden dürfen. Hier
heißt noch konservativ soviel wie asiatisch-roh, und liberal bedeutet Schwäche.
Beide kämpfenden großen Richtungen bedienen sich zur Erreichung ihrer Ziele
der Gewalt, beide sind unduldsam, wie es nur Dogmatiker sein können. Die
Regierung hat vor beiden die Waffen gestreckt. Vor der Intelligenz im
Winter 1905/06, vor dem reaktionären Adel am 3. (16.) Juni 1907. Von
diesem Standpunkt betrachtet kann das neue Wahlgesetz nur die Bedeutung
einer zeitweiligen Folgeerscheinung haben, während der Befehl W. Gringmuts
am Kopf der Moskowskija Wjedemosti gegenwärtig die schaffende Kraft an¬
deutet, die die Tätigkeit der Regierung und die Wirksamkeit des Wahlgesetzes
ausfüllen soll.

Trotz dieser Auffassung soll aber das Wahlgesetz zuerst besprochen werden,
weil sich aus manchem seiner Paragraphen das ergibt, was über die neuerdings
wieder zur Macht gekommene Partei weiter unten gesagt werden muß.




Das Wahlgesetz vom 3. Juni beruht im allgemeinen auf denselben Grund¬
sätzen, auf denen das Bulyginsche vom 6. (19.) August 1905 aufgebaut war.
Aber die Ziele sollen im einzelnen mit andern Mitteln erreicht werden als
früher. Die Aufgabe der Gesetzgeber war, wie vor zwei Jahren, eine der
Bureaukratie genehme Volksvertretung zu schaffen, also eine solche, die für die
Bauern keine Landzuweisung durch Enteignung, für die Nichtrussen keine der
Russifizierung entgegenstehenden Freiheiten fordern würde, und -- last not
Isast -- die sich nicht zu intensiv um die Finanzwirtschaft des Reiches
kümmerte.*) Im ersten Wahlgesetz sollte das Ziel, wie wir vor zwei Jahren
an dieser Stelle nachwiesen, erreicht werden mit Hilfe der Ungebildeten und der



*) S. meinen letzten Brief.
Russische Briefe

Monarchen beauftragt ist, durch zweckentsprechende Reformen erst verfassungs¬
mäßige Zustände herbeizuführen. Das Maß und der Umfang dieser Reformen
waren durch den Kaiser im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 vorgeschrieben
worden. Die Aufgabe konnte jedoch bisher aus verschiednen Gründen, deren
Ursprung in der Schwäche der Regierung liegt, nicht durchgeführt werden. Auf
der einen Seite versuchte die sozialistisch erzogne Intelligenz weit über das
hinauszugehn, was für den historisch entstandnen Staat zulässig ist, und auf
der andern suchte ein durch die Negierung seit dreißig Jahren verzogner Adel
jede gründliche Reform zu verhindern. Der Gegner von links ist hierbei als
die treibende, also gesundere, wenn auch leicht staatsgefährliche Kraft, der Gegner
von rechts aber, der unter allen Umständen zu den Verhältnissen zurückkehren
will, die früher zur Revolution geführt haben, ist als stagnierende und zer¬
setzende Kraft zu betrachten. Hier ist, wohlverstanden, nicht von liberal und
konservativ die Rede. Das sind Begriffe, die wohl noch recht lange in Ru߬
land nicht im westeuropäischen Sinne werden angewandt werden dürfen. Hier
heißt noch konservativ soviel wie asiatisch-roh, und liberal bedeutet Schwäche.
Beide kämpfenden großen Richtungen bedienen sich zur Erreichung ihrer Ziele
der Gewalt, beide sind unduldsam, wie es nur Dogmatiker sein können. Die
Regierung hat vor beiden die Waffen gestreckt. Vor der Intelligenz im
Winter 1905/06, vor dem reaktionären Adel am 3. (16.) Juni 1907. Von
diesem Standpunkt betrachtet kann das neue Wahlgesetz nur die Bedeutung
einer zeitweiligen Folgeerscheinung haben, während der Befehl W. Gringmuts
am Kopf der Moskowskija Wjedemosti gegenwärtig die schaffende Kraft an¬
deutet, die die Tätigkeit der Regierung und die Wirksamkeit des Wahlgesetzes
ausfüllen soll.

Trotz dieser Auffassung soll aber das Wahlgesetz zuerst besprochen werden,
weil sich aus manchem seiner Paragraphen das ergibt, was über die neuerdings
wieder zur Macht gekommene Partei weiter unten gesagt werden muß.




Das Wahlgesetz vom 3. Juni beruht im allgemeinen auf denselben Grund¬
sätzen, auf denen das Bulyginsche vom 6. (19.) August 1905 aufgebaut war.
Aber die Ziele sollen im einzelnen mit andern Mitteln erreicht werden als
früher. Die Aufgabe der Gesetzgeber war, wie vor zwei Jahren, eine der
Bureaukratie genehme Volksvertretung zu schaffen, also eine solche, die für die
Bauern keine Landzuweisung durch Enteignung, für die Nichtrussen keine der
Russifizierung entgegenstehenden Freiheiten fordern würde, und — last not
Isast — die sich nicht zu intensiv um die Finanzwirtschaft des Reiches
kümmerte.*) Im ersten Wahlgesetz sollte das Ziel, wie wir vor zwei Jahren
an dieser Stelle nachwiesen, erreicht werden mit Hilfe der Ungebildeten und der



*) S. meinen letzten Brief.
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[0282] Russische Briefe Monarchen beauftragt ist, durch zweckentsprechende Reformen erst verfassungs¬ mäßige Zustände herbeizuführen. Das Maß und der Umfang dieser Reformen waren durch den Kaiser im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 vorgeschrieben worden. Die Aufgabe konnte jedoch bisher aus verschiednen Gründen, deren Ursprung in der Schwäche der Regierung liegt, nicht durchgeführt werden. Auf der einen Seite versuchte die sozialistisch erzogne Intelligenz weit über das hinauszugehn, was für den historisch entstandnen Staat zulässig ist, und auf der andern suchte ein durch die Negierung seit dreißig Jahren verzogner Adel jede gründliche Reform zu verhindern. Der Gegner von links ist hierbei als die treibende, also gesundere, wenn auch leicht staatsgefährliche Kraft, der Gegner von rechts aber, der unter allen Umständen zu den Verhältnissen zurückkehren will, die früher zur Revolution geführt haben, ist als stagnierende und zer¬ setzende Kraft zu betrachten. Hier ist, wohlverstanden, nicht von liberal und konservativ die Rede. Das sind Begriffe, die wohl noch recht lange in Ru߬ land nicht im westeuropäischen Sinne werden angewandt werden dürfen. Hier heißt noch konservativ soviel wie asiatisch-roh, und liberal bedeutet Schwäche. Beide kämpfenden großen Richtungen bedienen sich zur Erreichung ihrer Ziele der Gewalt, beide sind unduldsam, wie es nur Dogmatiker sein können. Die Regierung hat vor beiden die Waffen gestreckt. Vor der Intelligenz im Winter 1905/06, vor dem reaktionären Adel am 3. (16.) Juni 1907. Von diesem Standpunkt betrachtet kann das neue Wahlgesetz nur die Bedeutung einer zeitweiligen Folgeerscheinung haben, während der Befehl W. Gringmuts am Kopf der Moskowskija Wjedemosti gegenwärtig die schaffende Kraft an¬ deutet, die die Tätigkeit der Regierung und die Wirksamkeit des Wahlgesetzes ausfüllen soll. Trotz dieser Auffassung soll aber das Wahlgesetz zuerst besprochen werden, weil sich aus manchem seiner Paragraphen das ergibt, was über die neuerdings wieder zur Macht gekommene Partei weiter unten gesagt werden muß. Das Wahlgesetz vom 3. Juni beruht im allgemeinen auf denselben Grund¬ sätzen, auf denen das Bulyginsche vom 6. (19.) August 1905 aufgebaut war. Aber die Ziele sollen im einzelnen mit andern Mitteln erreicht werden als früher. Die Aufgabe der Gesetzgeber war, wie vor zwei Jahren, eine der Bureaukratie genehme Volksvertretung zu schaffen, also eine solche, die für die Bauern keine Landzuweisung durch Enteignung, für die Nichtrussen keine der Russifizierung entgegenstehenden Freiheiten fordern würde, und — last not Isast — die sich nicht zu intensiv um die Finanzwirtschaft des Reiches kümmerte.*) Im ersten Wahlgesetz sollte das Ziel, wie wir vor zwei Jahren an dieser Stelle nachwiesen, erreicht werden mit Hilfe der Ungebildeten und der *) S. meinen letzten Brief.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/282>, abgerufen am 14.05.2024.