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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Kapitalisten aller Grade -- Großgrundbesitzer, Fabrikant und Kulak. Dem
Adel wurde nicht getraut, und er mußte sogar gegenüber den Bauern zurück¬
stehn, weil er sich in den Sjemstwo als unzuverlässig, d. h. konstitutionell er¬
wiesen hatte. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Grund der
Unzuverlässigkeit des ganzen Standes hauptsächlich darin zu finden war, daß
sich eben nur die verhältnismäßig wenigen Konstitutionalisten in die Sjemstwo
drängten, während die damals viel zahlreichern Absolutisten keine gemeinnützige
Politik trieben; was jeder Einzelne von ihnen brauchte, erwirkte er direkt durch
seine Petersburger Verbindungen. Im neuen Wahlgesetz werden die Kapitalisten
im allgemeinen als zuverlässig bevorzugt. Dagegen gelten die Bauern nach
den Erfahrungen während der beiden ersten Wahlkämpfe als durchaus unzu¬
verlässig. Darum schenkt die Bureaukratie ihr Vertrauen wieder dem Adel.
Es handelt sich dabei nur um den absolutistischen Adel, der durch die Ansprüche
der Bauern aus seiner Apathie aufgeschreckt, sich politischen Organisationen
angeschlossen hat und nun aus der Abwehr der Konstitution zum Angriff gegen
sie vorgeht. Doch ganz traut der büreaukratische Gesetzgeber seinem adlichen
Bundesgenossen nicht. Darum hat er, wo er seines Erfolges nicht durchaus
sicher ist, durch eine große Anzahl von mechanischen Schiebungen, Erläuterungen,
Ergänzungen und Abweichungen von den Hauptrichtlinien des Gesetzes Hinter¬
türen geöffnet, mit denen das Gesetz den örtlichen Verhältnissen entsprechend
gehandhabt werden kann.

Die eben angedeutete Schmiegsamkeit gibt dem Gesetz vom 1. (16.) Juni ein
ganz eigentümliches Aussehen. Wir gewahren bei näherm Zusehen, daß wir
nicht ein in sich geschlossenes Werk vor uns haben, sondern drei miteinander
nur mechanisch verbundne, im übrigen selbständige Gesetze, von denen wieder
jedes einzelne mit einer so großen Zahl von schmarotzenden Klauseln und Aus¬
nahmen umgeben ist, daß man den Hauptgedanken leicht aus den Augen ver¬
liert. Aus diesem Grunde können wir nicht unbedingt behaupten, das Gesetz
beruhe auf ständischen oder proportionalen oder nationalen oder demokratischen
Prinzipien. Wenn wir ein wirklich durchgeführtes Prinzip überall erkennen,
dann ist es das der Zweckmäßigkeit. Aber es ist nicht die Zweckmäßigkeit, die
ein weitschauender Staatsmann handhabt, es ist eine solche, die aus der Hand
in den Mund lebt und sich lediglich als büreaukratische Geschicklichkeit darstellt.
Wir vermissen jeden großen, befreienden Gedanken, jeden Blick in die Ferne;
wir erkennen nur, daß für die nahe dritte Reichsduma gesorgt wird. Sie soll
unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu einer der zur Macht gelangten
Adelsgruppe genehmen Einrichtung werden.

Wie schon angedeutet worden ist, tun wir gut, das Gesetz in seine drei
Bestandteile zu trennen, um eine Übersicht über die zur Anwendung gelangten
Prinzipien im Rahmen eines politischen Bildes zu gewinnen.

Das erste Gesetz (Artikel 2), zugleich das Hauptgesetz, findet Anwendung
in den 49 Gouvernements des europäischen Rußlands, die nach dem allgemeinen


Russische Briefe

Kapitalisten aller Grade — Großgrundbesitzer, Fabrikant und Kulak. Dem
Adel wurde nicht getraut, und er mußte sogar gegenüber den Bauern zurück¬
stehn, weil er sich in den Sjemstwo als unzuverlässig, d. h. konstitutionell er¬
wiesen hatte. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Grund der
Unzuverlässigkeit des ganzen Standes hauptsächlich darin zu finden war, daß
sich eben nur die verhältnismäßig wenigen Konstitutionalisten in die Sjemstwo
drängten, während die damals viel zahlreichern Absolutisten keine gemeinnützige
Politik trieben; was jeder Einzelne von ihnen brauchte, erwirkte er direkt durch
seine Petersburger Verbindungen. Im neuen Wahlgesetz werden die Kapitalisten
im allgemeinen als zuverlässig bevorzugt. Dagegen gelten die Bauern nach
den Erfahrungen während der beiden ersten Wahlkämpfe als durchaus unzu¬
verlässig. Darum schenkt die Bureaukratie ihr Vertrauen wieder dem Adel.
Es handelt sich dabei nur um den absolutistischen Adel, der durch die Ansprüche
der Bauern aus seiner Apathie aufgeschreckt, sich politischen Organisationen
angeschlossen hat und nun aus der Abwehr der Konstitution zum Angriff gegen
sie vorgeht. Doch ganz traut der büreaukratische Gesetzgeber seinem adlichen
Bundesgenossen nicht. Darum hat er, wo er seines Erfolges nicht durchaus
sicher ist, durch eine große Anzahl von mechanischen Schiebungen, Erläuterungen,
Ergänzungen und Abweichungen von den Hauptrichtlinien des Gesetzes Hinter¬
türen geöffnet, mit denen das Gesetz den örtlichen Verhältnissen entsprechend
gehandhabt werden kann.

Die eben angedeutete Schmiegsamkeit gibt dem Gesetz vom 1. (16.) Juni ein
ganz eigentümliches Aussehen. Wir gewahren bei näherm Zusehen, daß wir
nicht ein in sich geschlossenes Werk vor uns haben, sondern drei miteinander
nur mechanisch verbundne, im übrigen selbständige Gesetze, von denen wieder
jedes einzelne mit einer so großen Zahl von schmarotzenden Klauseln und Aus¬
nahmen umgeben ist, daß man den Hauptgedanken leicht aus den Augen ver¬
liert. Aus diesem Grunde können wir nicht unbedingt behaupten, das Gesetz
beruhe auf ständischen oder proportionalen oder nationalen oder demokratischen
Prinzipien. Wenn wir ein wirklich durchgeführtes Prinzip überall erkennen,
dann ist es das der Zweckmäßigkeit. Aber es ist nicht die Zweckmäßigkeit, die
ein weitschauender Staatsmann handhabt, es ist eine solche, die aus der Hand
in den Mund lebt und sich lediglich als büreaukratische Geschicklichkeit darstellt.
Wir vermissen jeden großen, befreienden Gedanken, jeden Blick in die Ferne;
wir erkennen nur, daß für die nahe dritte Reichsduma gesorgt wird. Sie soll
unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu einer der zur Macht gelangten
Adelsgruppe genehmen Einrichtung werden.

Wie schon angedeutet worden ist, tun wir gut, das Gesetz in seine drei
Bestandteile zu trennen, um eine Übersicht über die zur Anwendung gelangten
Prinzipien im Rahmen eines politischen Bildes zu gewinnen.

Das erste Gesetz (Artikel 2), zugleich das Hauptgesetz, findet Anwendung
in den 49 Gouvernements des europäischen Rußlands, die nach dem allgemeinen


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[0283] Russische Briefe Kapitalisten aller Grade — Großgrundbesitzer, Fabrikant und Kulak. Dem Adel wurde nicht getraut, und er mußte sogar gegenüber den Bauern zurück¬ stehn, weil er sich in den Sjemstwo als unzuverlässig, d. h. konstitutionell er¬ wiesen hatte. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Grund der Unzuverlässigkeit des ganzen Standes hauptsächlich darin zu finden war, daß sich eben nur die verhältnismäßig wenigen Konstitutionalisten in die Sjemstwo drängten, während die damals viel zahlreichern Absolutisten keine gemeinnützige Politik trieben; was jeder Einzelne von ihnen brauchte, erwirkte er direkt durch seine Petersburger Verbindungen. Im neuen Wahlgesetz werden die Kapitalisten im allgemeinen als zuverlässig bevorzugt. Dagegen gelten die Bauern nach den Erfahrungen während der beiden ersten Wahlkämpfe als durchaus unzu¬ verlässig. Darum schenkt die Bureaukratie ihr Vertrauen wieder dem Adel. Es handelt sich dabei nur um den absolutistischen Adel, der durch die Ansprüche der Bauern aus seiner Apathie aufgeschreckt, sich politischen Organisationen angeschlossen hat und nun aus der Abwehr der Konstitution zum Angriff gegen sie vorgeht. Doch ganz traut der büreaukratische Gesetzgeber seinem adlichen Bundesgenossen nicht. Darum hat er, wo er seines Erfolges nicht durchaus sicher ist, durch eine große Anzahl von mechanischen Schiebungen, Erläuterungen, Ergänzungen und Abweichungen von den Hauptrichtlinien des Gesetzes Hinter¬ türen geöffnet, mit denen das Gesetz den örtlichen Verhältnissen entsprechend gehandhabt werden kann. Die eben angedeutete Schmiegsamkeit gibt dem Gesetz vom 1. (16.) Juni ein ganz eigentümliches Aussehen. Wir gewahren bei näherm Zusehen, daß wir nicht ein in sich geschlossenes Werk vor uns haben, sondern drei miteinander nur mechanisch verbundne, im übrigen selbständige Gesetze, von denen wieder jedes einzelne mit einer so großen Zahl von schmarotzenden Klauseln und Aus¬ nahmen umgeben ist, daß man den Hauptgedanken leicht aus den Augen ver¬ liert. Aus diesem Grunde können wir nicht unbedingt behaupten, das Gesetz beruhe auf ständischen oder proportionalen oder nationalen oder demokratischen Prinzipien. Wenn wir ein wirklich durchgeführtes Prinzip überall erkennen, dann ist es das der Zweckmäßigkeit. Aber es ist nicht die Zweckmäßigkeit, die ein weitschauender Staatsmann handhabt, es ist eine solche, die aus der Hand in den Mund lebt und sich lediglich als büreaukratische Geschicklichkeit darstellt. Wir vermissen jeden großen, befreienden Gedanken, jeden Blick in die Ferne; wir erkennen nur, daß für die nahe dritte Reichsduma gesorgt wird. Sie soll unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu einer der zur Macht gelangten Adelsgruppe genehmen Einrichtung werden. Wie schon angedeutet worden ist, tun wir gut, das Gesetz in seine drei Bestandteile zu trennen, um eine Übersicht über die zur Anwendung gelangten Prinzipien im Rahmen eines politischen Bildes zu gewinnen. Das erste Gesetz (Artikel 2), zugleich das Hauptgesetz, findet Anwendung in den 49 Gouvernements des europäischen Rußlands, die nach dem allgemeinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/283>, abgerufen am 28.05.2024.