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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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In Taschkend und auf dem neuen Schienenwege nach Grenburg

zugehörigen, aber meist ziemlich weit entfernten Orten. Viele lungerten auf
den Bahnhöfen herum und boten sich der Beobachtung und der Kamera unsers
Photographen. In ihren mittelgroßen, breitschultrigen gedrungnen Gestalten,
der breiten Stirn, den hervortretenden Backenknochen, den schief stehenden Augen
und dem mangelhaften Bartwuchs sprach sich der mongolische Typus deutlich
aus. Der Gewohnheit, endlos lange im Sattel zu sitzen, hat sich Körperform
und Haltung, das Oval des Beines angepaßt. In der für beide Geschlechter
fast gleichen Kleidung ist der Kirgise kein Gigerl. Unmittelbar auf dem Körper
trägt er ein langes weites Zitzhemd mit weitem Kragen, darüber im Winter
zwei bis drei mit Watte gefütterte langschößige Röcke, bisweilen noch einen
Pelz; diese ganze Oberkleidung kann in die weiten, aus gegerbtem, verschieden¬
farbigem, bisweilen mit Seide berasten Hammelfett bestehenden Hosen gestopft
werden. Je mehr Röcke er trägt, desto feiner ist der Besitzer derartiger Kleider¬
pracht, die bei festlichen Gelegenheiten durch eine Stufenleiter von Zitz-, Tuch-
uud Seidenröcken, darüber den auszeichnenden Prunkröcken aus Sammet mit
Goldbrokat ersetzt wird. Am silberbeschlagnen Gürtel hängt der wichtigste
Gebrauchsgcgenstand des Kirgisen, das Messer, mit dein er Fleisch schneidet
und ißt, gefallnen Tieren die Haut abzieht und im Bedarfsfall am lieben
Nächsten seine Stärke mißt. Als Fußbekleidung dienen weite Stiefeln, darunter
wollne Fußlappen und Socken aus dünnem Filz. Als Kopfbedeckung wird für
gewöhnlich ein weicher spitzer Filzhut mit Krempe über einer den rasierten
Schädel schützenden Kappe getragen. Wo der Winter noch herrschte, war der
Filzhut durch eine Lammfell- oder Fuchspelzmütze mit etwas abgeflachter
Spitze und heruntergeklappten Seitenkrempen ersetzt.

Überaus anspruchslos, ohne Murren hungernd, wenn es sein muß, im
Sommer durch die sengenden Sonnenstrahlen fast gebraten und im Winter in
der durchlöcherten Jurte (Filzhütte) vor Frost klappernd, ist er inmitten seines
Viehs am zufriedensten und jedenfalls für die weniger ansprechenden Gegenden
in Zentralasien, Transkaspien und Steppenland, die die Bodenbearbeitung nicht
lohnen, wie die Halbinsel Mnnghshlak, die Steppen seitab von den Strömen,
die Flüchen nördlich des Aralsees das geeignetste Menschenmaterial. Wie bei
allen Nomadenvölkern herrschen patriarchalische Sitten; Gastfreundschaft wird
gern geübt. Stämme und Geschlechter sondern sich in die administrativen Ein¬
heiten, deren Älteste jetzt von der russischen Regierung bestätigt werden müssen.
Als Recht gilt das ungeschriebne Gewohnheitsrecht, der Adad, der der Frau
ebenfalls eine wenig bevorrechtete Stellung anweist. Ackerbau wird uur getrieben,
soweit er sich mit dem Wechsel des Wohnsitzes vom Winter- zum Sommer¬
lager und umgekehrt vereinigen läßt.

Ob die Eisenbahn die in ihrem Bereich nomadisierenden Kirgisen zu mehr
oder weniger seßhafter Lebensweise bekehren wird oder nicht, so viel ist sicher,
daß so oder durch Zuzug von Sarten oder Russen die produktiven Kräfte des
Landes gehoben werden können. Für die ausreichend bewässerten Landstrecken


In Taschkend und auf dem neuen Schienenwege nach Grenburg

zugehörigen, aber meist ziemlich weit entfernten Orten. Viele lungerten auf
den Bahnhöfen herum und boten sich der Beobachtung und der Kamera unsers
Photographen. In ihren mittelgroßen, breitschultrigen gedrungnen Gestalten,
der breiten Stirn, den hervortretenden Backenknochen, den schief stehenden Augen
und dem mangelhaften Bartwuchs sprach sich der mongolische Typus deutlich
aus. Der Gewohnheit, endlos lange im Sattel zu sitzen, hat sich Körperform
und Haltung, das Oval des Beines angepaßt. In der für beide Geschlechter
fast gleichen Kleidung ist der Kirgise kein Gigerl. Unmittelbar auf dem Körper
trägt er ein langes weites Zitzhemd mit weitem Kragen, darüber im Winter
zwei bis drei mit Watte gefütterte langschößige Röcke, bisweilen noch einen
Pelz; diese ganze Oberkleidung kann in die weiten, aus gegerbtem, verschieden¬
farbigem, bisweilen mit Seide berasten Hammelfett bestehenden Hosen gestopft
werden. Je mehr Röcke er trägt, desto feiner ist der Besitzer derartiger Kleider¬
pracht, die bei festlichen Gelegenheiten durch eine Stufenleiter von Zitz-, Tuch-
uud Seidenröcken, darüber den auszeichnenden Prunkröcken aus Sammet mit
Goldbrokat ersetzt wird. Am silberbeschlagnen Gürtel hängt der wichtigste
Gebrauchsgcgenstand des Kirgisen, das Messer, mit dein er Fleisch schneidet
und ißt, gefallnen Tieren die Haut abzieht und im Bedarfsfall am lieben
Nächsten seine Stärke mißt. Als Fußbekleidung dienen weite Stiefeln, darunter
wollne Fußlappen und Socken aus dünnem Filz. Als Kopfbedeckung wird für
gewöhnlich ein weicher spitzer Filzhut mit Krempe über einer den rasierten
Schädel schützenden Kappe getragen. Wo der Winter noch herrschte, war der
Filzhut durch eine Lammfell- oder Fuchspelzmütze mit etwas abgeflachter
Spitze und heruntergeklappten Seitenkrempen ersetzt.

Überaus anspruchslos, ohne Murren hungernd, wenn es sein muß, im
Sommer durch die sengenden Sonnenstrahlen fast gebraten und im Winter in
der durchlöcherten Jurte (Filzhütte) vor Frost klappernd, ist er inmitten seines
Viehs am zufriedensten und jedenfalls für die weniger ansprechenden Gegenden
in Zentralasien, Transkaspien und Steppenland, die die Bodenbearbeitung nicht
lohnen, wie die Halbinsel Mnnghshlak, die Steppen seitab von den Strömen,
die Flüchen nördlich des Aralsees das geeignetste Menschenmaterial. Wie bei
allen Nomadenvölkern herrschen patriarchalische Sitten; Gastfreundschaft wird
gern geübt. Stämme und Geschlechter sondern sich in die administrativen Ein¬
heiten, deren Älteste jetzt von der russischen Regierung bestätigt werden müssen.
Als Recht gilt das ungeschriebne Gewohnheitsrecht, der Adad, der der Frau
ebenfalls eine wenig bevorrechtete Stellung anweist. Ackerbau wird uur getrieben,
soweit er sich mit dem Wechsel des Wohnsitzes vom Winter- zum Sommer¬
lager und umgekehrt vereinigen läßt.

Ob die Eisenbahn die in ihrem Bereich nomadisierenden Kirgisen zu mehr
oder weniger seßhafter Lebensweise bekehren wird oder nicht, so viel ist sicher,
daß so oder durch Zuzug von Sarten oder Russen die produktiven Kräfte des
Landes gehoben werden können. Für die ausreichend bewässerten Landstrecken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/317>, abgerufen am 29.05.2024.