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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Unsre Wohnzimmer

keine Damenschreibtische und keine Bücherschränke brauchte? Das äußere Leben
und das innere Empfinden der Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ist so
ganz anders als das derer im sechzehnten oder achtzehnten, daß es doch das
natürlichste von der Welt wäre (oder sein sollte), sich auch mit andern, dem
heutigen Leben entnommnen und angepaßten Formen zu umgeben.

Andrerseits sind Tische, Stühle, Schränke Dinge, die man seit vielen
Jahrhunderten im Gebrauch hat, und für manche derartige Geräte haben wir
noch keine bessern Formen gefunden als unsre Vorfahren. Es wäre auch
Künstelei, wollte man das alles abschaffen, nur um eine moderne Sprache zu
sprechen! Unsre Sprache birgt ja auch, so anders sie immer geworden ist,
unzählige Worte, die vor dreihundert und fünfhundert Jahren beinahe ebenso
gebraucht wurden. Woher kommt es, daß man sich in den durch und durch,
bis auf die Nippessachen, stilreinen Zimmern unbehaglich und beengt fühlt?
Mögen sie nun im Rokoko- oder im modernsten Stil sein, wir werden nicht
warm darin. Warum umfangen uns dagegen Stuben, in denen ruhig ältere
und neuere Sachen nebeneinander stehn -- vorausgesetzt, daß sie nur an sich
geschmackvoll und in der Farbe nicht unharmonisch sind --, viel traulicher?
Das kommt wohl daher, daß es sich nicht um die äußere Einheitlichkeit der
Formen (was wir gewöhnlich Stil nennen) handelt, sondern um die innere:
daß ein Wohnraum der Ausdruck des darin Wohnenden ist.

Unsre Wohnung ist ein Stück von uns selbst, man nennt sie gewöhnlich
das weitere Kleid des Menschen. Aber wie weit sind wir noch davon ent¬
fernt, daß dem so ist! Und wie schlimm, wenn das überladne Durcheinander
so mancher Wohnung wirklich der charakteristische Ausdruck des Sinnes seiner
Bewohner wäre! Geschmack muß geschult, und sich charakteristisch und zugleich
schön einzurichten, muß gelernt werden, wobei man gewöhnlich etwas Lehr¬
geld zahlen muß. Gerade die stilvollen Einrichtungen sind die charakterlosesten
und darum unwohnlichsten aller Einrichtungen. Man bestellt sich eine solche
auch nicht nach persönlichem Bedürfnis und Geschmack für jedes Stück, sondern
richtet umgekehrt seine Bedürfnisse nach den nun einmal "dazu gehörigen"
Möbeln, die natürlich für hundert oder tausend "compl. herrschaftliche Aus¬
stattungen" dieselben sind. Dieses Übel besteht einigermaßen auch bei den modernen,
im großen und ganzen praktischen und schönen Wohnungseinrichtungen; wer es
haben kann, sich von einem Künstler ganz und gar und bis auf Salzfüßchen
und Wassergläser einrichten zu lassen, der bekommt heute sicher eine geschmack¬
volle und vollständig einheitliche Umgebung -- bloß ist sie nicht gerade der Aus¬
druck seines Denkens und Fühlens.

Wir wollen deshalb die absolute Stileinheit, auch die gute moderne, lieber
den Gasthäusern und öffentlichen Gesellschaftssülen überlassen, die natürlich
gewissermaßen neutral-geschmackvoll sein müssen. Solche Räume und Festsäle,
von Künstlern nach den Gesetzen von Raum, Farbe, Linie entworfen und
geschmückt, sind unentbehrlich für das öffentliche und gesellige Leben und


Unsre Wohnzimmer

keine Damenschreibtische und keine Bücherschränke brauchte? Das äußere Leben
und das innere Empfinden der Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ist so
ganz anders als das derer im sechzehnten oder achtzehnten, daß es doch das
natürlichste von der Welt wäre (oder sein sollte), sich auch mit andern, dem
heutigen Leben entnommnen und angepaßten Formen zu umgeben.

Andrerseits sind Tische, Stühle, Schränke Dinge, die man seit vielen
Jahrhunderten im Gebrauch hat, und für manche derartige Geräte haben wir
noch keine bessern Formen gefunden als unsre Vorfahren. Es wäre auch
Künstelei, wollte man das alles abschaffen, nur um eine moderne Sprache zu
sprechen! Unsre Sprache birgt ja auch, so anders sie immer geworden ist,
unzählige Worte, die vor dreihundert und fünfhundert Jahren beinahe ebenso
gebraucht wurden. Woher kommt es, daß man sich in den durch und durch,
bis auf die Nippessachen, stilreinen Zimmern unbehaglich und beengt fühlt?
Mögen sie nun im Rokoko- oder im modernsten Stil sein, wir werden nicht
warm darin. Warum umfangen uns dagegen Stuben, in denen ruhig ältere
und neuere Sachen nebeneinander stehn — vorausgesetzt, daß sie nur an sich
geschmackvoll und in der Farbe nicht unharmonisch sind —, viel traulicher?
Das kommt wohl daher, daß es sich nicht um die äußere Einheitlichkeit der
Formen (was wir gewöhnlich Stil nennen) handelt, sondern um die innere:
daß ein Wohnraum der Ausdruck des darin Wohnenden ist.

Unsre Wohnung ist ein Stück von uns selbst, man nennt sie gewöhnlich
das weitere Kleid des Menschen. Aber wie weit sind wir noch davon ent¬
fernt, daß dem so ist! Und wie schlimm, wenn das überladne Durcheinander
so mancher Wohnung wirklich der charakteristische Ausdruck des Sinnes seiner
Bewohner wäre! Geschmack muß geschult, und sich charakteristisch und zugleich
schön einzurichten, muß gelernt werden, wobei man gewöhnlich etwas Lehr¬
geld zahlen muß. Gerade die stilvollen Einrichtungen sind die charakterlosesten
und darum unwohnlichsten aller Einrichtungen. Man bestellt sich eine solche
auch nicht nach persönlichem Bedürfnis und Geschmack für jedes Stück, sondern
richtet umgekehrt seine Bedürfnisse nach den nun einmal „dazu gehörigen"
Möbeln, die natürlich für hundert oder tausend „compl. herrschaftliche Aus¬
stattungen" dieselben sind. Dieses Übel besteht einigermaßen auch bei den modernen,
im großen und ganzen praktischen und schönen Wohnungseinrichtungen; wer es
haben kann, sich von einem Künstler ganz und gar und bis auf Salzfüßchen
und Wassergläser einrichten zu lassen, der bekommt heute sicher eine geschmack¬
volle und vollständig einheitliche Umgebung — bloß ist sie nicht gerade der Aus¬
druck seines Denkens und Fühlens.

Wir wollen deshalb die absolute Stileinheit, auch die gute moderne, lieber
den Gasthäusern und öffentlichen Gesellschaftssülen überlassen, die natürlich
gewissermaßen neutral-geschmackvoll sein müssen. Solche Räume und Festsäle,
von Künstlern nach den Gesetzen von Raum, Farbe, Linie entworfen und
geschmückt, sind unentbehrlich für das öffentliche und gesellige Leben und


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[0360] Unsre Wohnzimmer keine Damenschreibtische und keine Bücherschränke brauchte? Das äußere Leben und das innere Empfinden der Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ist so ganz anders als das derer im sechzehnten oder achtzehnten, daß es doch das natürlichste von der Welt wäre (oder sein sollte), sich auch mit andern, dem heutigen Leben entnommnen und angepaßten Formen zu umgeben. Andrerseits sind Tische, Stühle, Schränke Dinge, die man seit vielen Jahrhunderten im Gebrauch hat, und für manche derartige Geräte haben wir noch keine bessern Formen gefunden als unsre Vorfahren. Es wäre auch Künstelei, wollte man das alles abschaffen, nur um eine moderne Sprache zu sprechen! Unsre Sprache birgt ja auch, so anders sie immer geworden ist, unzählige Worte, die vor dreihundert und fünfhundert Jahren beinahe ebenso gebraucht wurden. Woher kommt es, daß man sich in den durch und durch, bis auf die Nippessachen, stilreinen Zimmern unbehaglich und beengt fühlt? Mögen sie nun im Rokoko- oder im modernsten Stil sein, wir werden nicht warm darin. Warum umfangen uns dagegen Stuben, in denen ruhig ältere und neuere Sachen nebeneinander stehn — vorausgesetzt, daß sie nur an sich geschmackvoll und in der Farbe nicht unharmonisch sind —, viel traulicher? Das kommt wohl daher, daß es sich nicht um die äußere Einheitlichkeit der Formen (was wir gewöhnlich Stil nennen) handelt, sondern um die innere: daß ein Wohnraum der Ausdruck des darin Wohnenden ist. Unsre Wohnung ist ein Stück von uns selbst, man nennt sie gewöhnlich das weitere Kleid des Menschen. Aber wie weit sind wir noch davon ent¬ fernt, daß dem so ist! Und wie schlimm, wenn das überladne Durcheinander so mancher Wohnung wirklich der charakteristische Ausdruck des Sinnes seiner Bewohner wäre! Geschmack muß geschult, und sich charakteristisch und zugleich schön einzurichten, muß gelernt werden, wobei man gewöhnlich etwas Lehr¬ geld zahlen muß. Gerade die stilvollen Einrichtungen sind die charakterlosesten und darum unwohnlichsten aller Einrichtungen. Man bestellt sich eine solche auch nicht nach persönlichem Bedürfnis und Geschmack für jedes Stück, sondern richtet umgekehrt seine Bedürfnisse nach den nun einmal „dazu gehörigen" Möbeln, die natürlich für hundert oder tausend „compl. herrschaftliche Aus¬ stattungen" dieselben sind. Dieses Übel besteht einigermaßen auch bei den modernen, im großen und ganzen praktischen und schönen Wohnungseinrichtungen; wer es haben kann, sich von einem Künstler ganz und gar und bis auf Salzfüßchen und Wassergläser einrichten zu lassen, der bekommt heute sicher eine geschmack¬ volle und vollständig einheitliche Umgebung — bloß ist sie nicht gerade der Aus¬ druck seines Denkens und Fühlens. Wir wollen deshalb die absolute Stileinheit, auch die gute moderne, lieber den Gasthäusern und öffentlichen Gesellschaftssülen überlassen, die natürlich gewissermaßen neutral-geschmackvoll sein müssen. Solche Räume und Festsäle, von Künstlern nach den Gesetzen von Raum, Farbe, Linie entworfen und geschmückt, sind unentbehrlich für das öffentliche und gesellige Leben und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/360>, abgerufen am 15.05.2024.