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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

in Häusermodellen, Geräten und Handarbeiterzeugnissen gefunden hat, für uns
den Nutzen, daß wir alle die Typen der Leute nochmals vor uns sahen, die
zwischen Batna und Moskau an uns vorübergezogen waren.

Man darf Moskau nicht verlassen, ohne der schönsten Kirche, dem Erlöser¬
dom einen Besuch abgestattet zu haben. Als Denkmal des "Vaterländischen"
Krieges von 1812 in jahrzehntelanger Arbeit fertiggestellt, ist er ein Kunst¬
werk des russisch-griechischen Kirchenbaustils im Äußern wie im Innern. Keine
Fläche innen, die nicht durch kunstvolle Mosaik oder Malerei verziert ist; hehr
und geschmackvoll der Ikonostas, der in andern russischen Kirchen durch seine
aufdringliche Goldbronze inmitten nüchterner Wände oft unangenehm in die
Augen fällt. Vortrefflich ist die Akustik in dem ganzen in der Form des
Kreuzes gegründeten Bauwerk. Herrlich kamen bei dem Sonntagsgottesdienst
die Chorgesünge der Diskantstimmen, die Tonfülle der sanft einsetzenden, zu
gewaltigem Klänge anschwellenden "sammetartigen" Bässe der Geistlichen zum
Ausdruck. Man begreift, daß in der entfalteten Pracht und Schönheit des
griechisch-katholischen Ritus etwas die Sinne gefangen nehmendes liegt, und
daß dem andächtigen Rechtgläubigen Herz und Gemüt davon erhoben werden.
Sehr viel weniger ansprechend ist der ostentative Bilderdienst der rechtgläubigen
Kirche. Wenn ich auch den frommen Brauch noch gelten lassen will, daß
man beim Durchschreiten des Erlösertors der Kremlmauer ehrfürchtig den Kopf
entblößt, so steht die blinde Verehrung des Muttergottesbildes in der Kapelle
an der iberischen Pforte, der Glaube an dessen wundertätige Wirkung im
schärfsten Widerspruch zu der rationalistischen Weltanschauung, die in Nußland
schon lange ihren Einzug gehalten hat. Die Mutter Gottes wird von wohl¬
habenden Leuten in schweren Krankheitsfällen in ihr Haus eingeladen und
reist sogar gegen hohes Entgelt nach auswärts; ihr Erscheinen hat stets einen
kleinen Auflauf Heilsdurstiger zur Folge. So aber kommt die russische Kirche
zu Besitz und Reichtum. Viele Milliarden gehören der Toten Hand und bilden
die Deckung, wenn einmal die russischen Staatsfinanzen in ganz schwere Be¬
drängnis geraten.

Moskau sollten wir nicht verlassen, ohne es im Schnee gesehen zu haben.
Beinahe hätte der unzeitgemäße Witterungsumschlag mit seinen Schwierigkeiten
für Wagen und Pferde uns den Schnellzug acht Uhr Abends versäumen lassen,
in dem der sehr entgegenkommende Stationsvorsteher ein Abteil für uns belegt
hatte. Ein Produkt aus Sparsamkeit und den Absichten, Warschau nur einige
Tagesstunden zu widmen, aber in Moskau möglichst lange zu bleiben, hatte
uns diesen Zug zu wählen veranlaßt. So passierten wir zwar das Schlacht¬
feld von Borodino bei Nacht, konnten aber Gelegenheit nehmen, Napoleons
Rückzug über Smolensk, Orscha zur Berjosina bei Tage zu verfolgen. Der
noch festliegende Schnee half der Phantasie, sich in die Lage der Großen Armee
hinein zu versetzen, als sie über die beschneiten Felder, die vereisten Straßen
westwärts zog. Trefflich hat Wereschtschagin in seinem Napoleonzyklus das


Über Moskau heimwärts

in Häusermodellen, Geräten und Handarbeiterzeugnissen gefunden hat, für uns
den Nutzen, daß wir alle die Typen der Leute nochmals vor uns sahen, die
zwischen Batna und Moskau an uns vorübergezogen waren.

Man darf Moskau nicht verlassen, ohne der schönsten Kirche, dem Erlöser¬
dom einen Besuch abgestattet zu haben. Als Denkmal des „Vaterländischen"
Krieges von 1812 in jahrzehntelanger Arbeit fertiggestellt, ist er ein Kunst¬
werk des russisch-griechischen Kirchenbaustils im Äußern wie im Innern. Keine
Fläche innen, die nicht durch kunstvolle Mosaik oder Malerei verziert ist; hehr
und geschmackvoll der Ikonostas, der in andern russischen Kirchen durch seine
aufdringliche Goldbronze inmitten nüchterner Wände oft unangenehm in die
Augen fällt. Vortrefflich ist die Akustik in dem ganzen in der Form des
Kreuzes gegründeten Bauwerk. Herrlich kamen bei dem Sonntagsgottesdienst
die Chorgesünge der Diskantstimmen, die Tonfülle der sanft einsetzenden, zu
gewaltigem Klänge anschwellenden „sammetartigen" Bässe der Geistlichen zum
Ausdruck. Man begreift, daß in der entfalteten Pracht und Schönheit des
griechisch-katholischen Ritus etwas die Sinne gefangen nehmendes liegt, und
daß dem andächtigen Rechtgläubigen Herz und Gemüt davon erhoben werden.
Sehr viel weniger ansprechend ist der ostentative Bilderdienst der rechtgläubigen
Kirche. Wenn ich auch den frommen Brauch noch gelten lassen will, daß
man beim Durchschreiten des Erlösertors der Kremlmauer ehrfürchtig den Kopf
entblößt, so steht die blinde Verehrung des Muttergottesbildes in der Kapelle
an der iberischen Pforte, der Glaube an dessen wundertätige Wirkung im
schärfsten Widerspruch zu der rationalistischen Weltanschauung, die in Nußland
schon lange ihren Einzug gehalten hat. Die Mutter Gottes wird von wohl¬
habenden Leuten in schweren Krankheitsfällen in ihr Haus eingeladen und
reist sogar gegen hohes Entgelt nach auswärts; ihr Erscheinen hat stets einen
kleinen Auflauf Heilsdurstiger zur Folge. So aber kommt die russische Kirche
zu Besitz und Reichtum. Viele Milliarden gehören der Toten Hand und bilden
die Deckung, wenn einmal die russischen Staatsfinanzen in ganz schwere Be¬
drängnis geraten.

Moskau sollten wir nicht verlassen, ohne es im Schnee gesehen zu haben.
Beinahe hätte der unzeitgemäße Witterungsumschlag mit seinen Schwierigkeiten
für Wagen und Pferde uns den Schnellzug acht Uhr Abends versäumen lassen,
in dem der sehr entgegenkommende Stationsvorsteher ein Abteil für uns belegt
hatte. Ein Produkt aus Sparsamkeit und den Absichten, Warschau nur einige
Tagesstunden zu widmen, aber in Moskau möglichst lange zu bleiben, hatte
uns diesen Zug zu wählen veranlaßt. So passierten wir zwar das Schlacht¬
feld von Borodino bei Nacht, konnten aber Gelegenheit nehmen, Napoleons
Rückzug über Smolensk, Orscha zur Berjosina bei Tage zu verfolgen. Der
noch festliegende Schnee half der Phantasie, sich in die Lage der Großen Armee
hinein zu versetzen, als sie über die beschneiten Felder, die vereisten Straßen
westwärts zog. Trefflich hat Wereschtschagin in seinem Napoleonzyklus das


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[0424] Über Moskau heimwärts in Häusermodellen, Geräten und Handarbeiterzeugnissen gefunden hat, für uns den Nutzen, daß wir alle die Typen der Leute nochmals vor uns sahen, die zwischen Batna und Moskau an uns vorübergezogen waren. Man darf Moskau nicht verlassen, ohne der schönsten Kirche, dem Erlöser¬ dom einen Besuch abgestattet zu haben. Als Denkmal des „Vaterländischen" Krieges von 1812 in jahrzehntelanger Arbeit fertiggestellt, ist er ein Kunst¬ werk des russisch-griechischen Kirchenbaustils im Äußern wie im Innern. Keine Fläche innen, die nicht durch kunstvolle Mosaik oder Malerei verziert ist; hehr und geschmackvoll der Ikonostas, der in andern russischen Kirchen durch seine aufdringliche Goldbronze inmitten nüchterner Wände oft unangenehm in die Augen fällt. Vortrefflich ist die Akustik in dem ganzen in der Form des Kreuzes gegründeten Bauwerk. Herrlich kamen bei dem Sonntagsgottesdienst die Chorgesünge der Diskantstimmen, die Tonfülle der sanft einsetzenden, zu gewaltigem Klänge anschwellenden „sammetartigen" Bässe der Geistlichen zum Ausdruck. Man begreift, daß in der entfalteten Pracht und Schönheit des griechisch-katholischen Ritus etwas die Sinne gefangen nehmendes liegt, und daß dem andächtigen Rechtgläubigen Herz und Gemüt davon erhoben werden. Sehr viel weniger ansprechend ist der ostentative Bilderdienst der rechtgläubigen Kirche. Wenn ich auch den frommen Brauch noch gelten lassen will, daß man beim Durchschreiten des Erlösertors der Kremlmauer ehrfürchtig den Kopf entblößt, so steht die blinde Verehrung des Muttergottesbildes in der Kapelle an der iberischen Pforte, der Glaube an dessen wundertätige Wirkung im schärfsten Widerspruch zu der rationalistischen Weltanschauung, die in Nußland schon lange ihren Einzug gehalten hat. Die Mutter Gottes wird von wohl¬ habenden Leuten in schweren Krankheitsfällen in ihr Haus eingeladen und reist sogar gegen hohes Entgelt nach auswärts; ihr Erscheinen hat stets einen kleinen Auflauf Heilsdurstiger zur Folge. So aber kommt die russische Kirche zu Besitz und Reichtum. Viele Milliarden gehören der Toten Hand und bilden die Deckung, wenn einmal die russischen Staatsfinanzen in ganz schwere Be¬ drängnis geraten. Moskau sollten wir nicht verlassen, ohne es im Schnee gesehen zu haben. Beinahe hätte der unzeitgemäße Witterungsumschlag mit seinen Schwierigkeiten für Wagen und Pferde uns den Schnellzug acht Uhr Abends versäumen lassen, in dem der sehr entgegenkommende Stationsvorsteher ein Abteil für uns belegt hatte. Ein Produkt aus Sparsamkeit und den Absichten, Warschau nur einige Tagesstunden zu widmen, aber in Moskau möglichst lange zu bleiben, hatte uns diesen Zug zu wählen veranlaßt. So passierten wir zwar das Schlacht¬ feld von Borodino bei Nacht, konnten aber Gelegenheit nehmen, Napoleons Rückzug über Smolensk, Orscha zur Berjosina bei Tage zu verfolgen. Der noch festliegende Schnee half der Phantasie, sich in die Lage der Großen Armee hinein zu versetzen, als sie über die beschneiten Felder, die vereisten Straßen westwärts zog. Trefflich hat Wereschtschagin in seinem Napoleonzyklus das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/424>, abgerufen am 29.05.2024.