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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

Winterliche Land und die Schrecken des Rückzugs auf der Leinwand geschildert.
Damals hatten die Wölfe goldne Tage; wir sahen einige der heutigen Hunger¬
leider, vom Zuge überrascht, scheu flüchten; ihre Aussichten auf einen fetten
Bissen waren jedenfalls denkbar dürftig. Der Jagdlust der Stadtherren zu¬
liebe sollen kluge Bauern darauf gekommen sein, einiges Raubzeug, Wölfe und
Bären, künstlich zu züchten und gegen hohes Schußgeld abschießen zu lassen.

Warschau wurde frühmorgens erreicht. Frühlingswetter verschönte den
kurzen Aufenthalt in der eleganten Hauptstadt Polens und lud zu ausgiebigen
Bummel zu Fuß und zu Wagen ein. Die Krakauer Vorstadt mit ihrem leb¬
haften Verkehr der vornehmen Welt, der Besuch des Lasjenki-Parkes mit seinen
Schlößchen und Alleen beschäftigte uns genügend bis zum Abend. Gräßlich
viel Juden verkünden die Firmenschilder in dem Stadtteil des Weichselbahnhoss
und das Gemauschel auf den gedrängt bevölkerten Straßen, die man in schon
vorgerückter Abendstunde nach dorthin durchschreiten muß. Ihre große Zahl
erschwert die Lösung der Nationalitätenfrage, ihre Begehrlichkeit schafft Zwie¬
spalt. Schon hatten zahlreiche Attentate die erregte Stimmung gesteigert und
starkes Truppenaufgebot zu den Wachen, regen Patrouillengang durch die
Straßen nötig erscheine" lassen.

Im Osten, in Asien hatten wir die russische Kolonisation von schönem
Erfolg begleitet gesehen. Hier nach Westen hin hat sie völlig Fiasko gemacht.
Mit der gedankenlosen Befürwortung polnischer Autonomie hat das Russentum
selber seinen Bankerott im Lande erklärt. Ein sehr lehrreicher Gegensatz, der
zu denken gibt.

Bei Mlawa fuhren wir am Morgen über die russisch-deutsche Grenze.
Nunmehr etwas reisemüde, verstaubt und im Gefühl einer schlecht verbrachten
Nacht in den europäisch unbequemen Wagen der Warschau-Mlawaer Eisenbahn
fanden wir wenig Gefallen an der fiskalischen Engherzigkeit der deutschen
Eisenbahnbeamten gegenüber unserm Eigentum. Die letzten Stunden wurden
die längsten, die letzten Minuten zählten gleich Stunden, aber auch sie gingen
vorüber.

Fünfzig Tage waren wir unterwegs gewesen, hatten neunzehn Nächte auf
der Eisenbahn, sieben auf Dampfern und nur vierundzwanzig in ordnungsmäßigen
Betten zugebracht und dabei an 13000 Kilometer zurückgelegt. In Rumänien haben
wir einen Staat mit erstarkenden Nationalbewußtsein durcheilt, am Bosporus
und Schwarzen Meer tiefen, fast hoffnungslosen Verfall beobachtet. In Kaukasien
betraten wir den Schauplatz des zu erneuter blutiger Abrechnung gediehenen
althergebrachten Streitens mehrerer Nationalitäten um wirtschaftliche, durch
religiösen Haß verschärfte Gegensätze, in Zentralasien konnten wir das Russen¬
tum, das °dort ohnmächtig zusieht, nach kriegerischen Erfolgen als Vertreter
moderner Zivilisation an der Arbeit sehen, bei sich zu Hause haben wir es in
dem die Revolution vorbereitenden Zersetzungsprozeß erblickt. Wir haben auf
den Trümmerfeldern uralter Kultur geweilt und an der Stätte des Wirkens


Grenzboten III 1907 65
Über Moskau heimwärts

Winterliche Land und die Schrecken des Rückzugs auf der Leinwand geschildert.
Damals hatten die Wölfe goldne Tage; wir sahen einige der heutigen Hunger¬
leider, vom Zuge überrascht, scheu flüchten; ihre Aussichten auf einen fetten
Bissen waren jedenfalls denkbar dürftig. Der Jagdlust der Stadtherren zu¬
liebe sollen kluge Bauern darauf gekommen sein, einiges Raubzeug, Wölfe und
Bären, künstlich zu züchten und gegen hohes Schußgeld abschießen zu lassen.

Warschau wurde frühmorgens erreicht. Frühlingswetter verschönte den
kurzen Aufenthalt in der eleganten Hauptstadt Polens und lud zu ausgiebigen
Bummel zu Fuß und zu Wagen ein. Die Krakauer Vorstadt mit ihrem leb¬
haften Verkehr der vornehmen Welt, der Besuch des Lasjenki-Parkes mit seinen
Schlößchen und Alleen beschäftigte uns genügend bis zum Abend. Gräßlich
viel Juden verkünden die Firmenschilder in dem Stadtteil des Weichselbahnhoss
und das Gemauschel auf den gedrängt bevölkerten Straßen, die man in schon
vorgerückter Abendstunde nach dorthin durchschreiten muß. Ihre große Zahl
erschwert die Lösung der Nationalitätenfrage, ihre Begehrlichkeit schafft Zwie¬
spalt. Schon hatten zahlreiche Attentate die erregte Stimmung gesteigert und
starkes Truppenaufgebot zu den Wachen, regen Patrouillengang durch die
Straßen nötig erscheine» lassen.

Im Osten, in Asien hatten wir die russische Kolonisation von schönem
Erfolg begleitet gesehen. Hier nach Westen hin hat sie völlig Fiasko gemacht.
Mit der gedankenlosen Befürwortung polnischer Autonomie hat das Russentum
selber seinen Bankerott im Lande erklärt. Ein sehr lehrreicher Gegensatz, der
zu denken gibt.

Bei Mlawa fuhren wir am Morgen über die russisch-deutsche Grenze.
Nunmehr etwas reisemüde, verstaubt und im Gefühl einer schlecht verbrachten
Nacht in den europäisch unbequemen Wagen der Warschau-Mlawaer Eisenbahn
fanden wir wenig Gefallen an der fiskalischen Engherzigkeit der deutschen
Eisenbahnbeamten gegenüber unserm Eigentum. Die letzten Stunden wurden
die längsten, die letzten Minuten zählten gleich Stunden, aber auch sie gingen
vorüber.

Fünfzig Tage waren wir unterwegs gewesen, hatten neunzehn Nächte auf
der Eisenbahn, sieben auf Dampfern und nur vierundzwanzig in ordnungsmäßigen
Betten zugebracht und dabei an 13000 Kilometer zurückgelegt. In Rumänien haben
wir einen Staat mit erstarkenden Nationalbewußtsein durcheilt, am Bosporus
und Schwarzen Meer tiefen, fast hoffnungslosen Verfall beobachtet. In Kaukasien
betraten wir den Schauplatz des zu erneuter blutiger Abrechnung gediehenen
althergebrachten Streitens mehrerer Nationalitäten um wirtschaftliche, durch
religiösen Haß verschärfte Gegensätze, in Zentralasien konnten wir das Russen¬
tum, das °dort ohnmächtig zusieht, nach kriegerischen Erfolgen als Vertreter
moderner Zivilisation an der Arbeit sehen, bei sich zu Hause haben wir es in
dem die Revolution vorbereitenden Zersetzungsprozeß erblickt. Wir haben auf
den Trümmerfeldern uralter Kultur geweilt und an der Stätte des Wirkens


Grenzboten III 1907 65
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[0425] Über Moskau heimwärts Winterliche Land und die Schrecken des Rückzugs auf der Leinwand geschildert. Damals hatten die Wölfe goldne Tage; wir sahen einige der heutigen Hunger¬ leider, vom Zuge überrascht, scheu flüchten; ihre Aussichten auf einen fetten Bissen waren jedenfalls denkbar dürftig. Der Jagdlust der Stadtherren zu¬ liebe sollen kluge Bauern darauf gekommen sein, einiges Raubzeug, Wölfe und Bären, künstlich zu züchten und gegen hohes Schußgeld abschießen zu lassen. Warschau wurde frühmorgens erreicht. Frühlingswetter verschönte den kurzen Aufenthalt in der eleganten Hauptstadt Polens und lud zu ausgiebigen Bummel zu Fuß und zu Wagen ein. Die Krakauer Vorstadt mit ihrem leb¬ haften Verkehr der vornehmen Welt, der Besuch des Lasjenki-Parkes mit seinen Schlößchen und Alleen beschäftigte uns genügend bis zum Abend. Gräßlich viel Juden verkünden die Firmenschilder in dem Stadtteil des Weichselbahnhoss und das Gemauschel auf den gedrängt bevölkerten Straßen, die man in schon vorgerückter Abendstunde nach dorthin durchschreiten muß. Ihre große Zahl erschwert die Lösung der Nationalitätenfrage, ihre Begehrlichkeit schafft Zwie¬ spalt. Schon hatten zahlreiche Attentate die erregte Stimmung gesteigert und starkes Truppenaufgebot zu den Wachen, regen Patrouillengang durch die Straßen nötig erscheine» lassen. Im Osten, in Asien hatten wir die russische Kolonisation von schönem Erfolg begleitet gesehen. Hier nach Westen hin hat sie völlig Fiasko gemacht. Mit der gedankenlosen Befürwortung polnischer Autonomie hat das Russentum selber seinen Bankerott im Lande erklärt. Ein sehr lehrreicher Gegensatz, der zu denken gibt. Bei Mlawa fuhren wir am Morgen über die russisch-deutsche Grenze. Nunmehr etwas reisemüde, verstaubt und im Gefühl einer schlecht verbrachten Nacht in den europäisch unbequemen Wagen der Warschau-Mlawaer Eisenbahn fanden wir wenig Gefallen an der fiskalischen Engherzigkeit der deutschen Eisenbahnbeamten gegenüber unserm Eigentum. Die letzten Stunden wurden die längsten, die letzten Minuten zählten gleich Stunden, aber auch sie gingen vorüber. Fünfzig Tage waren wir unterwegs gewesen, hatten neunzehn Nächte auf der Eisenbahn, sieben auf Dampfern und nur vierundzwanzig in ordnungsmäßigen Betten zugebracht und dabei an 13000 Kilometer zurückgelegt. In Rumänien haben wir einen Staat mit erstarkenden Nationalbewußtsein durcheilt, am Bosporus und Schwarzen Meer tiefen, fast hoffnungslosen Verfall beobachtet. In Kaukasien betraten wir den Schauplatz des zu erneuter blutiger Abrechnung gediehenen althergebrachten Streitens mehrerer Nationalitäten um wirtschaftliche, durch religiösen Haß verschärfte Gegensätze, in Zentralasien konnten wir das Russen¬ tum, das °dort ohnmächtig zusieht, nach kriegerischen Erfolgen als Vertreter moderner Zivilisation an der Arbeit sehen, bei sich zu Hause haben wir es in dem die Revolution vorbereitenden Zersetzungsprozeß erblickt. Wir haben auf den Trümmerfeldern uralter Kultur geweilt und an der Stätte des Wirkens Grenzboten III 1907 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/425>, abgerufen am 14.05.2024.