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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Literarischo Rundschau

Behauptung, als daß Richard Dehmel Dekadent wäre. Nein im Gegenteil,
während unsre lieben Dekadents aus der "dumpfen Sucht" nie Herauskommen,
hat er sich längst zu "lichter Glut" emporgeläutert. Und wie er äußerlich an
seinen Werken bessert, so geht seine innere Entwicklung (das lehrt fast jedes
neue Gedicht) immer wieder zur Hohe. Bartels hat jüngst Dehmel als wert¬
vollern und kräftigern Ersatz für Heine empfohlen. So sehr ich wünschte, daß
Dehmel annähernd soviel gelesen würde wie heute Heine, so sehr erscheint mir
doch die darin liegende Parallele falsch. Mir scheint, daß sich Bartels da durch
bestimmte ältere Dehmelsche Gedichte und Gcdichtkreise und durch Dehmels
persönliche Stellung zu Heine hat verführen lassen. Denn Dehmel wächst
nicht nur in seiner lyrischen Kunst weit über Heine hinaus, dem ja Bartels
selbst mit Recht einen Platz neben unsern Größten (also Goethe, Mörike,
Storm, ich rechne auch Liliencron hinzu) nicht einräumen will; Dehmel bedeutet
auch seiner ganzen Weltanschauung, seinem ganzen Ernst, seiner ganzen Per¬
sönlichkeit nach viel mehr als Heinrich Heine. Er hat einmal sehr geistvoll
Goethe den ewig Trächtigen, Schiller den ewig Trachtenden genannt. Danach
würde man ohne Zwang ihn gegenüber seinem Freund Liliencron auf die
Schillersche Seite als ewig Trachtenden stellen können. Aber in der seltsamen
Mischung der Elemente, die dieser Dichter darstellt, findet sich dann wieder
ein Zug trotziger Härte des Wollens und der Form, wie sie etwa Hebbels
Persönlichkeit und Hebbels großartigsten lyrischen Schöpfungen eigen sind.
Kurz und gut, das Problem Dehmel ist nicht so einfach, aber es ist in jedem
Falle ein Problem. Dehmel ist eine Größe, um die niemand herum kann,
und mit voller Absicht empfehle ich deshalb an dieser Stelle die neue, auch
äußerlich sehr schöne Gesamtansgabe. Ich vermute, daß unter den Grenzboten¬
lesern viele sind, die Dehmel noch völlig fern stehen. Ich weiß auch, daß
mancher, der vielleicht auf diese Zeilen hin seine Bücher vornimmt, sie wieder
weglegt, ohne von den Versen nahe berührt zu sein. Das ist einmal nicht
anders; gibt es doch heute noch sehr viele, denen zum Beispiel Hebbel oder
andre Größen aus der Vergangenheit völlig unzugänglich sind. Aber ich weiß
auch, daß sehr viele und gerade reife Münuer und Frauen, wenn sie sich
nur mit Ernst und Liebe Dehmels Dichtungen nahen, daraus Erquickung und
Genuß und die Bekanntschaft mit einem seltsam bedeutungsvollen Geiste schöpfen
werden. Daun aber wird Dehmel auch auf sie weiter wirken. Wie er gleich
allen überragenden Geistern mit einem Schlagwort nicht zu fassen ist, so soll
man auch, ungeblendet durch die Schlagworte derer, die ihn nicht kennen, und
derer, die in ihrer krampfhaften Modernität ihn für sich reklamieren, an ihn
Heinrich Spiero herantreten. Belohnt wird jeder.




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Literarischo Rundschau

Behauptung, als daß Richard Dehmel Dekadent wäre. Nein im Gegenteil,
während unsre lieben Dekadents aus der „dumpfen Sucht" nie Herauskommen,
hat er sich längst zu „lichter Glut" emporgeläutert. Und wie er äußerlich an
seinen Werken bessert, so geht seine innere Entwicklung (das lehrt fast jedes
neue Gedicht) immer wieder zur Hohe. Bartels hat jüngst Dehmel als wert¬
vollern und kräftigern Ersatz für Heine empfohlen. So sehr ich wünschte, daß
Dehmel annähernd soviel gelesen würde wie heute Heine, so sehr erscheint mir
doch die darin liegende Parallele falsch. Mir scheint, daß sich Bartels da durch
bestimmte ältere Dehmelsche Gedichte und Gcdichtkreise und durch Dehmels
persönliche Stellung zu Heine hat verführen lassen. Denn Dehmel wächst
nicht nur in seiner lyrischen Kunst weit über Heine hinaus, dem ja Bartels
selbst mit Recht einen Platz neben unsern Größten (also Goethe, Mörike,
Storm, ich rechne auch Liliencron hinzu) nicht einräumen will; Dehmel bedeutet
auch seiner ganzen Weltanschauung, seinem ganzen Ernst, seiner ganzen Per¬
sönlichkeit nach viel mehr als Heinrich Heine. Er hat einmal sehr geistvoll
Goethe den ewig Trächtigen, Schiller den ewig Trachtenden genannt. Danach
würde man ohne Zwang ihn gegenüber seinem Freund Liliencron auf die
Schillersche Seite als ewig Trachtenden stellen können. Aber in der seltsamen
Mischung der Elemente, die dieser Dichter darstellt, findet sich dann wieder
ein Zug trotziger Härte des Wollens und der Form, wie sie etwa Hebbels
Persönlichkeit und Hebbels großartigsten lyrischen Schöpfungen eigen sind.
Kurz und gut, das Problem Dehmel ist nicht so einfach, aber es ist in jedem
Falle ein Problem. Dehmel ist eine Größe, um die niemand herum kann,
und mit voller Absicht empfehle ich deshalb an dieser Stelle die neue, auch
äußerlich sehr schöne Gesamtansgabe. Ich vermute, daß unter den Grenzboten¬
lesern viele sind, die Dehmel noch völlig fern stehen. Ich weiß auch, daß
mancher, der vielleicht auf diese Zeilen hin seine Bücher vornimmt, sie wieder
weglegt, ohne von den Versen nahe berührt zu sein. Das ist einmal nicht
anders; gibt es doch heute noch sehr viele, denen zum Beispiel Hebbel oder
andre Größen aus der Vergangenheit völlig unzugänglich sind. Aber ich weiß
auch, daß sehr viele und gerade reife Münuer und Frauen, wenn sie sich
nur mit Ernst und Liebe Dehmels Dichtungen nahen, daraus Erquickung und
Genuß und die Bekanntschaft mit einem seltsam bedeutungsvollen Geiste schöpfen
werden. Daun aber wird Dehmel auch auf sie weiter wirken. Wie er gleich
allen überragenden Geistern mit einem Schlagwort nicht zu fassen ist, so soll
man auch, ungeblendet durch die Schlagworte derer, die ihn nicht kennen, und
derer, die in ihrer krampfhaften Modernität ihn für sich reklamieren, an ihn
Heinrich Spiero herantreten. Belohnt wird jeder.




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[0530] Literarischo Rundschau Behauptung, als daß Richard Dehmel Dekadent wäre. Nein im Gegenteil, während unsre lieben Dekadents aus der „dumpfen Sucht" nie Herauskommen, hat er sich längst zu „lichter Glut" emporgeläutert. Und wie er äußerlich an seinen Werken bessert, so geht seine innere Entwicklung (das lehrt fast jedes neue Gedicht) immer wieder zur Hohe. Bartels hat jüngst Dehmel als wert¬ vollern und kräftigern Ersatz für Heine empfohlen. So sehr ich wünschte, daß Dehmel annähernd soviel gelesen würde wie heute Heine, so sehr erscheint mir doch die darin liegende Parallele falsch. Mir scheint, daß sich Bartels da durch bestimmte ältere Dehmelsche Gedichte und Gcdichtkreise und durch Dehmels persönliche Stellung zu Heine hat verführen lassen. Denn Dehmel wächst nicht nur in seiner lyrischen Kunst weit über Heine hinaus, dem ja Bartels selbst mit Recht einen Platz neben unsern Größten (also Goethe, Mörike, Storm, ich rechne auch Liliencron hinzu) nicht einräumen will; Dehmel bedeutet auch seiner ganzen Weltanschauung, seinem ganzen Ernst, seiner ganzen Per¬ sönlichkeit nach viel mehr als Heinrich Heine. Er hat einmal sehr geistvoll Goethe den ewig Trächtigen, Schiller den ewig Trachtenden genannt. Danach würde man ohne Zwang ihn gegenüber seinem Freund Liliencron auf die Schillersche Seite als ewig Trachtenden stellen können. Aber in der seltsamen Mischung der Elemente, die dieser Dichter darstellt, findet sich dann wieder ein Zug trotziger Härte des Wollens und der Form, wie sie etwa Hebbels Persönlichkeit und Hebbels großartigsten lyrischen Schöpfungen eigen sind. Kurz und gut, das Problem Dehmel ist nicht so einfach, aber es ist in jedem Falle ein Problem. Dehmel ist eine Größe, um die niemand herum kann, und mit voller Absicht empfehle ich deshalb an dieser Stelle die neue, auch äußerlich sehr schöne Gesamtansgabe. Ich vermute, daß unter den Grenzboten¬ lesern viele sind, die Dehmel noch völlig fern stehen. Ich weiß auch, daß mancher, der vielleicht auf diese Zeilen hin seine Bücher vornimmt, sie wieder weglegt, ohne von den Versen nahe berührt zu sein. Das ist einmal nicht anders; gibt es doch heute noch sehr viele, denen zum Beispiel Hebbel oder andre Größen aus der Vergangenheit völlig unzugänglich sind. Aber ich weiß auch, daß sehr viele und gerade reife Münuer und Frauen, wenn sie sich nur mit Ernst und Liebe Dehmels Dichtungen nahen, daraus Erquickung und Genuß und die Bekanntschaft mit einem seltsam bedeutungsvollen Geiste schöpfen werden. Daun aber wird Dehmel auch auf sie weiter wirken. Wie er gleich allen überragenden Geistern mit einem Schlagwort nicht zu fassen ist, so soll man auch, ungeblendet durch die Schlagworte derer, die ihn nicht kennen, und derer, die in ihrer krampfhaften Modernität ihn für sich reklamieren, an ihn Heinrich Spiero herantreten. Belohnt wird jeder. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/530>, abgerufen am 14.05.2024.