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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

große Bedeutung beilege, fand im Laufe der Jahre stetige Kräftigung aus
zwei voneinander unabhängigen Quellen: aus dem Rückgang des adlichen Be¬
sitzes und aus dem berechtigten Wunsche der Sjemstwo, auch die bäuerliche
Selbstverwaltung in den Rahmen ihrer exekutiven Kompetenzen zu ziehen.




Wie bekannt, wurde die bäuerliche Selbstverwaltung nach dem Jahre 1861
derart eingerichtet, daß weder die Großgrundbesitzer, noch die neuen Provinzial-
selbstverwaltungskörper, nämlich die Sjemstwo, die Möglichkeit hatten, irgend¬
einen Einfluß auf bäuerliche Angelegenheiten zu gewinnen. Diese waren viel¬
mehr von der Zentralgewalt abhängig. Anscheinend sollte diese Unabhängigkeit
der bäuerlichen Gemeinden von allen übrigen Organisationen der Gesellschaft,
in denen die Gutsbesitzer nach Lage der Dinge eine verhältnismüßig große
Rolle spielen mußten, gerade im Gegensatz zu den vor 1861 herrschenden Ver¬
hältnissen der Illusion der Freiheit besonders starken Ausdruck geben. Der
russische Bauer sollte sich entsprechend dem Wunsche der Slawjanophilen im
Rahmen der kommunistischen Mirgemeinde in slawischer und rechtgläubiger
Sonderart entwickeln und darin nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.
In dem Lande, wo sich der Adel als unfähig erwiesen hatte, Kulturträger zu
sein, setzte ein Teil der Gesellschaft alle seine Hoffnungen auf den Bauern¬
stand, in dem angeblich alle die nationalen Kräfte aufgespeichert sein sollten,
die später einmal das russische Volk groß machen würden, und die stark genug
sein könnten, alle westeuropäischen Einflüsse aus dem Volksstaat auszustoßen.
So sagten wenigstens die Slawjanophilen, und nach ihren Weisungen handelte
die Negierung. Die vermeintliche Freiheit wurde für die Bauern zu strengster
Abschließung gegen alles das, was wir in Europa schlechthin Kultur nennen.
Sie wurde besorgt durch die Bureaukratie, mit den Organen des Ministers
des Innern (Gouverneure, Krcishcmptleute, Kreisausschuß für bäuerliche An¬
gelegenheiten) und mit denen des Heiligen Synods (Geistlichkeit). Bald stellte
es sich aber heraus, daß in der neuen Organisation irgend etwas nicht in
Ordnung sein könne. Der Adel, das heißt hier einige dem Hofe nahe stehende
übliche Großgrundbesitzer, wies nach, die Schuld an allen Unzutrüglichkeiten
in der Provinz trage die Preisgabe des Adels als Stand. Ihr Ideal war
die Adelsoligarchie, nach der alten Formel: Zar und Adel regieren den Bauern
gemeinsam, alle übrigen Stände haben sich lediglich um privatwirtschaftliche
Fragen zu kümmern! Die Kirche wurde Helferin dieser Kreise. Denn wenn
der Mangel eines Einflusses seitens des Adels bemerkbar wurde, so geschah
das, allerdings im negativen Sinne, in Fragen des Sektenwesens. Während
der Herrschaft Nikolaus des Ersten kamen infolge der Duldsamkeit der Guts¬
besitzer nicht soviel Klagen über Sektierer vor den spröd wie später, als
Pope und Jsprawnik allein mächtig im Dorfe wurden. Mit der religiösen
Bewegung Hand in Hand ging die sozialistische Propaganda der Narodniki.


Russische Briefe

große Bedeutung beilege, fand im Laufe der Jahre stetige Kräftigung aus
zwei voneinander unabhängigen Quellen: aus dem Rückgang des adlichen Be¬
sitzes und aus dem berechtigten Wunsche der Sjemstwo, auch die bäuerliche
Selbstverwaltung in den Rahmen ihrer exekutiven Kompetenzen zu ziehen.




Wie bekannt, wurde die bäuerliche Selbstverwaltung nach dem Jahre 1861
derart eingerichtet, daß weder die Großgrundbesitzer, noch die neuen Provinzial-
selbstverwaltungskörper, nämlich die Sjemstwo, die Möglichkeit hatten, irgend¬
einen Einfluß auf bäuerliche Angelegenheiten zu gewinnen. Diese waren viel¬
mehr von der Zentralgewalt abhängig. Anscheinend sollte diese Unabhängigkeit
der bäuerlichen Gemeinden von allen übrigen Organisationen der Gesellschaft,
in denen die Gutsbesitzer nach Lage der Dinge eine verhältnismüßig große
Rolle spielen mußten, gerade im Gegensatz zu den vor 1861 herrschenden Ver¬
hältnissen der Illusion der Freiheit besonders starken Ausdruck geben. Der
russische Bauer sollte sich entsprechend dem Wunsche der Slawjanophilen im
Rahmen der kommunistischen Mirgemeinde in slawischer und rechtgläubiger
Sonderart entwickeln und darin nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.
In dem Lande, wo sich der Adel als unfähig erwiesen hatte, Kulturträger zu
sein, setzte ein Teil der Gesellschaft alle seine Hoffnungen auf den Bauern¬
stand, in dem angeblich alle die nationalen Kräfte aufgespeichert sein sollten,
die später einmal das russische Volk groß machen würden, und die stark genug
sein könnten, alle westeuropäischen Einflüsse aus dem Volksstaat auszustoßen.
So sagten wenigstens die Slawjanophilen, und nach ihren Weisungen handelte
die Negierung. Die vermeintliche Freiheit wurde für die Bauern zu strengster
Abschließung gegen alles das, was wir in Europa schlechthin Kultur nennen.
Sie wurde besorgt durch die Bureaukratie, mit den Organen des Ministers
des Innern (Gouverneure, Krcishcmptleute, Kreisausschuß für bäuerliche An¬
gelegenheiten) und mit denen des Heiligen Synods (Geistlichkeit). Bald stellte
es sich aber heraus, daß in der neuen Organisation irgend etwas nicht in
Ordnung sein könne. Der Adel, das heißt hier einige dem Hofe nahe stehende
übliche Großgrundbesitzer, wies nach, die Schuld an allen Unzutrüglichkeiten
in der Provinz trage die Preisgabe des Adels als Stand. Ihr Ideal war
die Adelsoligarchie, nach der alten Formel: Zar und Adel regieren den Bauern
gemeinsam, alle übrigen Stände haben sich lediglich um privatwirtschaftliche
Fragen zu kümmern! Die Kirche wurde Helferin dieser Kreise. Denn wenn
der Mangel eines Einflusses seitens des Adels bemerkbar wurde, so geschah
das, allerdings im negativen Sinne, in Fragen des Sektenwesens. Während
der Herrschaft Nikolaus des Ersten kamen infolge der Duldsamkeit der Guts¬
besitzer nicht soviel Klagen über Sektierer vor den spröd wie später, als
Pope und Jsprawnik allein mächtig im Dorfe wurden. Mit der religiösen
Bewegung Hand in Hand ging die sozialistische Propaganda der Narodniki.


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[0659] Russische Briefe große Bedeutung beilege, fand im Laufe der Jahre stetige Kräftigung aus zwei voneinander unabhängigen Quellen: aus dem Rückgang des adlichen Be¬ sitzes und aus dem berechtigten Wunsche der Sjemstwo, auch die bäuerliche Selbstverwaltung in den Rahmen ihrer exekutiven Kompetenzen zu ziehen. Wie bekannt, wurde die bäuerliche Selbstverwaltung nach dem Jahre 1861 derart eingerichtet, daß weder die Großgrundbesitzer, noch die neuen Provinzial- selbstverwaltungskörper, nämlich die Sjemstwo, die Möglichkeit hatten, irgend¬ einen Einfluß auf bäuerliche Angelegenheiten zu gewinnen. Diese waren viel¬ mehr von der Zentralgewalt abhängig. Anscheinend sollte diese Unabhängigkeit der bäuerlichen Gemeinden von allen übrigen Organisationen der Gesellschaft, in denen die Gutsbesitzer nach Lage der Dinge eine verhältnismüßig große Rolle spielen mußten, gerade im Gegensatz zu den vor 1861 herrschenden Ver¬ hältnissen der Illusion der Freiheit besonders starken Ausdruck geben. Der russische Bauer sollte sich entsprechend dem Wunsche der Slawjanophilen im Rahmen der kommunistischen Mirgemeinde in slawischer und rechtgläubiger Sonderart entwickeln und darin nicht durch äußere Einflüsse gestört werden. In dem Lande, wo sich der Adel als unfähig erwiesen hatte, Kulturträger zu sein, setzte ein Teil der Gesellschaft alle seine Hoffnungen auf den Bauern¬ stand, in dem angeblich alle die nationalen Kräfte aufgespeichert sein sollten, die später einmal das russische Volk groß machen würden, und die stark genug sein könnten, alle westeuropäischen Einflüsse aus dem Volksstaat auszustoßen. So sagten wenigstens die Slawjanophilen, und nach ihren Weisungen handelte die Negierung. Die vermeintliche Freiheit wurde für die Bauern zu strengster Abschließung gegen alles das, was wir in Europa schlechthin Kultur nennen. Sie wurde besorgt durch die Bureaukratie, mit den Organen des Ministers des Innern (Gouverneure, Krcishcmptleute, Kreisausschuß für bäuerliche An¬ gelegenheiten) und mit denen des Heiligen Synods (Geistlichkeit). Bald stellte es sich aber heraus, daß in der neuen Organisation irgend etwas nicht in Ordnung sein könne. Der Adel, das heißt hier einige dem Hofe nahe stehende übliche Großgrundbesitzer, wies nach, die Schuld an allen Unzutrüglichkeiten in der Provinz trage die Preisgabe des Adels als Stand. Ihr Ideal war die Adelsoligarchie, nach der alten Formel: Zar und Adel regieren den Bauern gemeinsam, alle übrigen Stände haben sich lediglich um privatwirtschaftliche Fragen zu kümmern! Die Kirche wurde Helferin dieser Kreise. Denn wenn der Mangel eines Einflusses seitens des Adels bemerkbar wurde, so geschah das, allerdings im negativen Sinne, in Fragen des Sektenwesens. Während der Herrschaft Nikolaus des Ersten kamen infolge der Duldsamkeit der Guts¬ besitzer nicht soviel Klagen über Sektierer vor den spröd wie später, als Pope und Jsprawnik allein mächtig im Dorfe wurden. Mit der religiösen Bewegung Hand in Hand ging die sozialistische Propaganda der Narodniki.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/659>, abgerufen am 30.05.2024.