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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Das gab den Stimmen größeres Gewicht, die auf den Adel als auf die beste
Stütze des Thrones hinwiesen. Aus dem slawjanophilen Lager vertrat Katkow
solche konservative Anschauungen mit steigendem Erfolge. Alexander der Zweite
beschränkte infolgedessen seine eignen Reformen dort, wo er sie Hütte erweitern
sollen.*) Statt der Sjemstwoorganiscition den Boden freizugeben, in dem
sie hätte Wurzel schlagen können, durch Verbindung der Wolost mit der Kreis-
nnd Gouverncmentssjemstwo, wurden die Funktionen aller Selbstverwaltungs¬
körper beschnitten. Die Besteuerung kaufmännischer und technischer Betriebe
wurde ihr beschränkt,**) ihre materielle Leistungsfähigkeit infolgedessen herab¬
gesetzt.

Die Sjemstwo verlor an Bedeutung in dem Maße, wie Adel und Bureau¬
kratie -- immer mehr durchaus identische Begriffe -- an Stärke gewannen.
Leider muß ich es mir heute versagen, diesen unterirdischen Kampf, der von
1864 bis 1877 ausgefochten wurde, näher darzustellen. Das würde eine
ganze Reihe von Briefen in Anspruch nehmen. Auch müßten Materialien
herangezogen werden, die heute noch nicht ohne weiteres zugänglich sind, so über
die Vorgänge, die zur Ernennung Tolstojs zum Unterrichtsminister führten,
über die Beziehungen Pobjedvnostzews sowie schließlich über die Stellung ein¬
zelner einflußreicher Familien zum Zaren und zum Thronfolger. Ich kann
mich nur an die äußern Tatsachen halten, und die lassen die Zeit von 1864
bis zum Ausbruch des Krieges gegen die Türkei, ja bis zur Thronbesteigung
Alexanders des Dritten für unsern Zweck unwesentlich erscheinen. Sie wird
kurz gekennzeichnet: der Adel verlor immer mehr an wirtschaftlicher Kraft, und
der Erwerbsstand der Großgrundbesitzer teilte sich in eine Partei, die für die
weitere Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung eintrat, und in eine,
die die Rückkehr zu den Verhältnissen der Zeit vor 1861 wünschte. Diese zweite
wurde trotz ihrem innern Unwert als Kulturfaktor die stärkere, und zwar ganz
abgesehen von den erwähnten politischen Gründen auch deshalb, weil der
Staat durch die vielfachen politischen und großen wirtschaftlichen Unter¬
nehmungen darauf angewiesen war, die Zahl seiner Beamten zu vermehren.
Hierher gehörten vor allem die tief einschneidenden Neuerungen im Zartum
Polen, dessen Justiz- und Unterrichtsbehörden bis Mitte der 1870er Jahre
vollständig in russische Hände übergingen.***) Die Eroberungen in Zentralasicn
schritten mächtig voran. Eine große Anzahl von Eisenbahnen waren gebaut worden.
Sie gehörten zwar Privatgesellschaften, aber zogen dennoch wegen ihrer bessern
Bezahlung viele Elemente in ihren Dienst, die sich sonst dem Staatsdienst zu-
gewandt hätten. Ich glaube nicht, daß der eintretende Beamtenmangel direkt





Er wünschte, wie er selbst gesagt hat, die Selbstverwaltung einzurichten, um die Ge¬
sellschaft für spätere parlamentarische Tätigkeit vorzubereiten.
^) 21. November 1866.
Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Komitees für das Zartum Polen vom 20. Sep¬
tember 1876.
Russische Briefe

Das gab den Stimmen größeres Gewicht, die auf den Adel als auf die beste
Stütze des Thrones hinwiesen. Aus dem slawjanophilen Lager vertrat Katkow
solche konservative Anschauungen mit steigendem Erfolge. Alexander der Zweite
beschränkte infolgedessen seine eignen Reformen dort, wo er sie Hütte erweitern
sollen.*) Statt der Sjemstwoorganiscition den Boden freizugeben, in dem
sie hätte Wurzel schlagen können, durch Verbindung der Wolost mit der Kreis-
nnd Gouverncmentssjemstwo, wurden die Funktionen aller Selbstverwaltungs¬
körper beschnitten. Die Besteuerung kaufmännischer und technischer Betriebe
wurde ihr beschränkt,**) ihre materielle Leistungsfähigkeit infolgedessen herab¬
gesetzt.

Die Sjemstwo verlor an Bedeutung in dem Maße, wie Adel und Bureau¬
kratie — immer mehr durchaus identische Begriffe — an Stärke gewannen.
Leider muß ich es mir heute versagen, diesen unterirdischen Kampf, der von
1864 bis 1877 ausgefochten wurde, näher darzustellen. Das würde eine
ganze Reihe von Briefen in Anspruch nehmen. Auch müßten Materialien
herangezogen werden, die heute noch nicht ohne weiteres zugänglich sind, so über
die Vorgänge, die zur Ernennung Tolstojs zum Unterrichtsminister führten,
über die Beziehungen Pobjedvnostzews sowie schließlich über die Stellung ein¬
zelner einflußreicher Familien zum Zaren und zum Thronfolger. Ich kann
mich nur an die äußern Tatsachen halten, und die lassen die Zeit von 1864
bis zum Ausbruch des Krieges gegen die Türkei, ja bis zur Thronbesteigung
Alexanders des Dritten für unsern Zweck unwesentlich erscheinen. Sie wird
kurz gekennzeichnet: der Adel verlor immer mehr an wirtschaftlicher Kraft, und
der Erwerbsstand der Großgrundbesitzer teilte sich in eine Partei, die für die
weitere Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung eintrat, und in eine,
die die Rückkehr zu den Verhältnissen der Zeit vor 1861 wünschte. Diese zweite
wurde trotz ihrem innern Unwert als Kulturfaktor die stärkere, und zwar ganz
abgesehen von den erwähnten politischen Gründen auch deshalb, weil der
Staat durch die vielfachen politischen und großen wirtschaftlichen Unter¬
nehmungen darauf angewiesen war, die Zahl seiner Beamten zu vermehren.
Hierher gehörten vor allem die tief einschneidenden Neuerungen im Zartum
Polen, dessen Justiz- und Unterrichtsbehörden bis Mitte der 1870er Jahre
vollständig in russische Hände übergingen.***) Die Eroberungen in Zentralasicn
schritten mächtig voran. Eine große Anzahl von Eisenbahnen waren gebaut worden.
Sie gehörten zwar Privatgesellschaften, aber zogen dennoch wegen ihrer bessern
Bezahlung viele Elemente in ihren Dienst, die sich sonst dem Staatsdienst zu-
gewandt hätten. Ich glaube nicht, daß der eintretende Beamtenmangel direkt





Er wünschte, wie er selbst gesagt hat, die Selbstverwaltung einzurichten, um die Ge¬
sellschaft für spätere parlamentarische Tätigkeit vorzubereiten.
^) 21. November 1866.
Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Komitees für das Zartum Polen vom 20. Sep¬
tember 1876.
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[0660] Russische Briefe Das gab den Stimmen größeres Gewicht, die auf den Adel als auf die beste Stütze des Thrones hinwiesen. Aus dem slawjanophilen Lager vertrat Katkow solche konservative Anschauungen mit steigendem Erfolge. Alexander der Zweite beschränkte infolgedessen seine eignen Reformen dort, wo er sie Hütte erweitern sollen.*) Statt der Sjemstwoorganiscition den Boden freizugeben, in dem sie hätte Wurzel schlagen können, durch Verbindung der Wolost mit der Kreis- nnd Gouverncmentssjemstwo, wurden die Funktionen aller Selbstverwaltungs¬ körper beschnitten. Die Besteuerung kaufmännischer und technischer Betriebe wurde ihr beschränkt,**) ihre materielle Leistungsfähigkeit infolgedessen herab¬ gesetzt. Die Sjemstwo verlor an Bedeutung in dem Maße, wie Adel und Bureau¬ kratie — immer mehr durchaus identische Begriffe — an Stärke gewannen. Leider muß ich es mir heute versagen, diesen unterirdischen Kampf, der von 1864 bis 1877 ausgefochten wurde, näher darzustellen. Das würde eine ganze Reihe von Briefen in Anspruch nehmen. Auch müßten Materialien herangezogen werden, die heute noch nicht ohne weiteres zugänglich sind, so über die Vorgänge, die zur Ernennung Tolstojs zum Unterrichtsminister führten, über die Beziehungen Pobjedvnostzews sowie schließlich über die Stellung ein¬ zelner einflußreicher Familien zum Zaren und zum Thronfolger. Ich kann mich nur an die äußern Tatsachen halten, und die lassen die Zeit von 1864 bis zum Ausbruch des Krieges gegen die Türkei, ja bis zur Thronbesteigung Alexanders des Dritten für unsern Zweck unwesentlich erscheinen. Sie wird kurz gekennzeichnet: der Adel verlor immer mehr an wirtschaftlicher Kraft, und der Erwerbsstand der Großgrundbesitzer teilte sich in eine Partei, die für die weitere Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung eintrat, und in eine, die die Rückkehr zu den Verhältnissen der Zeit vor 1861 wünschte. Diese zweite wurde trotz ihrem innern Unwert als Kulturfaktor die stärkere, und zwar ganz abgesehen von den erwähnten politischen Gründen auch deshalb, weil der Staat durch die vielfachen politischen und großen wirtschaftlichen Unter¬ nehmungen darauf angewiesen war, die Zahl seiner Beamten zu vermehren. Hierher gehörten vor allem die tief einschneidenden Neuerungen im Zartum Polen, dessen Justiz- und Unterrichtsbehörden bis Mitte der 1870er Jahre vollständig in russische Hände übergingen.***) Die Eroberungen in Zentralasicn schritten mächtig voran. Eine große Anzahl von Eisenbahnen waren gebaut worden. Sie gehörten zwar Privatgesellschaften, aber zogen dennoch wegen ihrer bessern Bezahlung viele Elemente in ihren Dienst, die sich sonst dem Staatsdienst zu- gewandt hätten. Ich glaube nicht, daß der eintretende Beamtenmangel direkt Er wünschte, wie er selbst gesagt hat, die Selbstverwaltung einzurichten, um die Ge¬ sellschaft für spätere parlamentarische Tätigkeit vorzubereiten. ^) 21. November 1866. Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Komitees für das Zartum Polen vom 20. Sep¬ tember 1876.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/660>, abgerufen am 14.05.2024.