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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Aufgaben der innern Politik

Schritt hält.*) Das heißt mit andern Worten: unsre industrielle Entwicklung
ist überstürzt, und das ist tatsächlich der Fall. Unsre Industrie arbeitet gerade
so wie vor der letzten Wirtschaftskrisis zum guten Teile nicht für den Konsum,
sondern für die Vergrößerung und Ausdehnung der Industrie, also für die
Vermehrung der Produktion, und damit steuern wir nicht nur auf eine neue
Krisis zu, sondern es ergeben sich daraus zugleich die schwersten Übelstände für
das Leben des Volkes. Worauf es hier ankommt, ist, daß diese überstürzte
industrielle Entwicklung nicht nur mehr Kapital beansprucht, als zur Verfügung
steht, sondern auch mehr Menschen, als die doch fruchtbare deutsche Bevölkerung
zu stellen vermag, und daß daher die Arbeitskräfte allen andern Berufsständen
und hauptsächlich der Landwirtschaft entzogen werden.

Das wird auch nicht besser werden, denn der Konzentrationsprozeß, der
sich fortschreitend in der Industrie und im Bankwesen vollzogen hat und weiter
vollziehen wird, hat natürlich nicht den Zweck, die industrielle Entwicklung zu
hemmen, sondern sie weiter zu fördern, und so wird auch die künftige Ent¬
wicklung dahin gehn, daß in den Großstädten und in den Industriebezirken die
Anhäufung von Menschen fortschreitet, und daß das Land und besonders der
Osten weiter entvölkert wird. Beides ist gleich schädlich, und das Ziel unsrer
Politik muß es deshalb sein, dort, wo große Volksmengen in ungesunder Weise
angehäuft werden, dafür zu sorgen, daß die Menschen soweit wie möglich davor
bewahrt werden, körperlich und geistig zu entarten, in den Gebieten aber, denen
die Arbeitskräfte im Übermaße entzogen werden, durch innere Kolonisation ein
Gegengewicht zu schaffen. Und zwar liegt das nicht nur im Interesse der Land¬
wirtschaft und des Ostens, sondern ebensosehr in dem der Industrie. Denn
die Lande östlich von der Elbe sind nicht nur die Wiege der Monarchie; hier
kamen nicht nur die zähen, harten Männer her, die unsre Heere von Sieg zu
Sieg geführt und schließlich das langersehnte Deutsche Reich gegründet haben,
diese Provinzen sind zugleich das große Meuschenreservoir, aus dem auch der
Westen gespeist wird. Ein großer Teil derer, die im Westen die Maschinen
bedienen, stammt aus dem Osten, die Industrie könnte diese Zuwanderung aus
dem Osten gar nicht entbehren, und wenn der Westen mehr Geld aufbringt, so
gibt es doch etwas Kostbareres als Geld, nämlich Menschen, und indem diese
dem Osten entzogen werden, lebt der Westen zum Teil auf dessen Kosten. Wenn
es so weitergeht, dann müssen diese Provinzen veröden, was sich schwer rächen
würde, nicht nur für die Allgemeinheit, weil kein Staat ungestraft die Grund¬
lagen seiner Macht verläßt, sondern auch für den Westen im besondern, weil
der Menschenzufluß aus dem Osten aufhören müßte. Hier beginnt also die
Solidarität der Interessen von Industrie und Landwirtschaft. Für
den Staat liegt aber noch der besondre dringende Grund vor, die ländliche Be¬
völkerung zu stärken und zu vermehren, weil die von der Scholle losgelöste



Kölnische Zeitung vom 21. Dezember 1906, Ur. 1361.
Aufgaben der innern Politik

Schritt hält.*) Das heißt mit andern Worten: unsre industrielle Entwicklung
ist überstürzt, und das ist tatsächlich der Fall. Unsre Industrie arbeitet gerade
so wie vor der letzten Wirtschaftskrisis zum guten Teile nicht für den Konsum,
sondern für die Vergrößerung und Ausdehnung der Industrie, also für die
Vermehrung der Produktion, und damit steuern wir nicht nur auf eine neue
Krisis zu, sondern es ergeben sich daraus zugleich die schwersten Übelstände für
das Leben des Volkes. Worauf es hier ankommt, ist, daß diese überstürzte
industrielle Entwicklung nicht nur mehr Kapital beansprucht, als zur Verfügung
steht, sondern auch mehr Menschen, als die doch fruchtbare deutsche Bevölkerung
zu stellen vermag, und daß daher die Arbeitskräfte allen andern Berufsständen
und hauptsächlich der Landwirtschaft entzogen werden.

Das wird auch nicht besser werden, denn der Konzentrationsprozeß, der
sich fortschreitend in der Industrie und im Bankwesen vollzogen hat und weiter
vollziehen wird, hat natürlich nicht den Zweck, die industrielle Entwicklung zu
hemmen, sondern sie weiter zu fördern, und so wird auch die künftige Ent¬
wicklung dahin gehn, daß in den Großstädten und in den Industriebezirken die
Anhäufung von Menschen fortschreitet, und daß das Land und besonders der
Osten weiter entvölkert wird. Beides ist gleich schädlich, und das Ziel unsrer
Politik muß es deshalb sein, dort, wo große Volksmengen in ungesunder Weise
angehäuft werden, dafür zu sorgen, daß die Menschen soweit wie möglich davor
bewahrt werden, körperlich und geistig zu entarten, in den Gebieten aber, denen
die Arbeitskräfte im Übermaße entzogen werden, durch innere Kolonisation ein
Gegengewicht zu schaffen. Und zwar liegt das nicht nur im Interesse der Land¬
wirtschaft und des Ostens, sondern ebensosehr in dem der Industrie. Denn
die Lande östlich von der Elbe sind nicht nur die Wiege der Monarchie; hier
kamen nicht nur die zähen, harten Männer her, die unsre Heere von Sieg zu
Sieg geführt und schließlich das langersehnte Deutsche Reich gegründet haben,
diese Provinzen sind zugleich das große Meuschenreservoir, aus dem auch der
Westen gespeist wird. Ein großer Teil derer, die im Westen die Maschinen
bedienen, stammt aus dem Osten, die Industrie könnte diese Zuwanderung aus
dem Osten gar nicht entbehren, und wenn der Westen mehr Geld aufbringt, so
gibt es doch etwas Kostbareres als Geld, nämlich Menschen, und indem diese
dem Osten entzogen werden, lebt der Westen zum Teil auf dessen Kosten. Wenn
es so weitergeht, dann müssen diese Provinzen veröden, was sich schwer rächen
würde, nicht nur für die Allgemeinheit, weil kein Staat ungestraft die Grund¬
lagen seiner Macht verläßt, sondern auch für den Westen im besondern, weil
der Menschenzufluß aus dem Osten aufhören müßte. Hier beginnt also die
Solidarität der Interessen von Industrie und Landwirtschaft. Für
den Staat liegt aber noch der besondre dringende Grund vor, die ländliche Be¬
völkerung zu stärken und zu vermehren, weil die von der Scholle losgelöste



Kölnische Zeitung vom 21. Dezember 1906, Ur. 1361.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/672>, abgerufen am 15.05.2024.