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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

eingeschachtelten Seele des Riesen oder des Dämons, der unsterblich ist, so¬
lange der Held nicht den Zugang zu der fünf- und mehrfach eingeschachtelten
Seele findet.

Als der Gipfel der Märchenphantastik wird dem Märchenleser die Fahrt
des Helden in das Wunderland erscheinen, wo er nach Überwindung furchtbarer
Gefahren einen Wundergegenstand erkämpft. Erst gilt es, einen weiten, schwie¬
rigen, pfadlosen Weg zurückzulegen, von dem Ziel trennt den Helden ein breites
Wasser, über das eine sonderbare Brücke führt, oder über das ein Fährmann
den Helden widerwillig rudert. Am Eingang des Wunderlandes halten grim¬
mige Tiere Wache, oder ein auf- oder zuschlagendes Tor macht den Eintritt
schwierig. Die Schwierigkeiten häufen sich, je näher der kühne Eindringling
dem Zentrum kommt, wo sich das Wunderding oder eine wunderschöne Jung¬
frau befindet. Es gelingt ihm, alle Widerstände zu überwinden, aber noch auf
dem Rückwege entrinnt er nur mit Mühe dem Geschick, auf ewig in dem Land
eingeschlossen zu werden; das zuschlagende Tor schlägt dem Davoneilenden
einen Teil der Ferse ab. Hier ist jedoch nichts von willkürlich ausgesonnener
Phantastik. Das Märchen gibt Zug um Zug die Reise der Seele ins Jenseits
wieder, wie sie sich der Wilde ausmalt. Die Schotten geben dem Toten Schuhe
mit, weil der Weg der Seele über eine große mit Dornen und Pfriemenkraut
bewachsne Heide geht. Nach allgemeinem deutschem -- und ähnlich schon an¬
tikem -- Volksglauben findet der Tote, wenn er im Leben Brot an die Armen
gegeben hat, nach dem Tode Brot bereit, das er dem vor dem Tore des
Seelenlandes wachehaltenden Hunde in den Rachen werfen muß. Der über¬
fahrende Fährmann findet sich nicht nur in dem modernen und dem mittel¬
alterlichen Volksglauben und in der antiken Mythologie, sondern auch bei höhern
und niedern unzivilisierten Völkern. Die Azteken gaben ihren Toten Pässe mit,
mit deren Hilfe sie auf der Seelenfahrt durch alle Stationen hindurchgelangten.
Während sie den ersten Paß in den Sarg legten, riefen sie dem Gestorbnen zu:
"Mit diesem wirst du zwischen den Bergen hindurchkommen, die sich aneinander¬
stoßen." (Hier haben wir etwas, das dem auf- und zuschlagenden Tor ent¬
spricht.) Nach einer Überlieferung der Indianer des Algonkinkreises kommt der
Held auf der Fahrt in das Jenseits an den Rand des Himmels, der in ge¬
wissen Zwischenräumen auf die Erde aufschlüge. Nur mit genauer Not gelangt
er hindurch. Wenn nach dem Glauben der Tschoktahindianer die Seele in das
Jenseits will, so muß sie über einen Fluß voll stinkender Fische und toter Kröten.
Über ihn gelangt man auf einem schlüpfrigen Ballen. Die Bakwiri in Kamerun
glauben, daß bevor die Seele in die Unterwelt kommt, sie auf einem Baum¬
stamm über eine tiefe Schlucht wandern muß, worin der Mukasse (der böse
Geist) haust, der die Seelen herunterzuziehn trachtet. Hat um jemand Angst,
so packt ihn der Mukasse am Unterkiefer und rente ihn ihm aus; hat aber der
Wandrer keine Furcht, so faßt ihn schließlich der Dämon selbst bei der Hand
und leitet ihn hinüber. (Dem furchtlosen Märchenhelden öffnen sich von selbst


Zum Ursprung des Märchens

eingeschachtelten Seele des Riesen oder des Dämons, der unsterblich ist, so¬
lange der Held nicht den Zugang zu der fünf- und mehrfach eingeschachtelten
Seele findet.

Als der Gipfel der Märchenphantastik wird dem Märchenleser die Fahrt
des Helden in das Wunderland erscheinen, wo er nach Überwindung furchtbarer
Gefahren einen Wundergegenstand erkämpft. Erst gilt es, einen weiten, schwie¬
rigen, pfadlosen Weg zurückzulegen, von dem Ziel trennt den Helden ein breites
Wasser, über das eine sonderbare Brücke führt, oder über das ein Fährmann
den Helden widerwillig rudert. Am Eingang des Wunderlandes halten grim¬
mige Tiere Wache, oder ein auf- oder zuschlagendes Tor macht den Eintritt
schwierig. Die Schwierigkeiten häufen sich, je näher der kühne Eindringling
dem Zentrum kommt, wo sich das Wunderding oder eine wunderschöne Jung¬
frau befindet. Es gelingt ihm, alle Widerstände zu überwinden, aber noch auf
dem Rückwege entrinnt er nur mit Mühe dem Geschick, auf ewig in dem Land
eingeschlossen zu werden; das zuschlagende Tor schlägt dem Davoneilenden
einen Teil der Ferse ab. Hier ist jedoch nichts von willkürlich ausgesonnener
Phantastik. Das Märchen gibt Zug um Zug die Reise der Seele ins Jenseits
wieder, wie sie sich der Wilde ausmalt. Die Schotten geben dem Toten Schuhe
mit, weil der Weg der Seele über eine große mit Dornen und Pfriemenkraut
bewachsne Heide geht. Nach allgemeinem deutschem — und ähnlich schon an¬
tikem — Volksglauben findet der Tote, wenn er im Leben Brot an die Armen
gegeben hat, nach dem Tode Brot bereit, das er dem vor dem Tore des
Seelenlandes wachehaltenden Hunde in den Rachen werfen muß. Der über¬
fahrende Fährmann findet sich nicht nur in dem modernen und dem mittel¬
alterlichen Volksglauben und in der antiken Mythologie, sondern auch bei höhern
und niedern unzivilisierten Völkern. Die Azteken gaben ihren Toten Pässe mit,
mit deren Hilfe sie auf der Seelenfahrt durch alle Stationen hindurchgelangten.
Während sie den ersten Paß in den Sarg legten, riefen sie dem Gestorbnen zu:
„Mit diesem wirst du zwischen den Bergen hindurchkommen, die sich aneinander¬
stoßen." (Hier haben wir etwas, das dem auf- und zuschlagenden Tor ent¬
spricht.) Nach einer Überlieferung der Indianer des Algonkinkreises kommt der
Held auf der Fahrt in das Jenseits an den Rand des Himmels, der in ge¬
wissen Zwischenräumen auf die Erde aufschlüge. Nur mit genauer Not gelangt
er hindurch. Wenn nach dem Glauben der Tschoktahindianer die Seele in das
Jenseits will, so muß sie über einen Fluß voll stinkender Fische und toter Kröten.
Über ihn gelangt man auf einem schlüpfrigen Ballen. Die Bakwiri in Kamerun
glauben, daß bevor die Seele in die Unterwelt kommt, sie auf einem Baum¬
stamm über eine tiefe Schlucht wandern muß, worin der Mukasse (der böse
Geist) haust, der die Seelen herunterzuziehn trachtet. Hat um jemand Angst,
so packt ihn der Mukasse am Unterkiefer und rente ihn ihm aus; hat aber der
Wandrer keine Furcht, so faßt ihn schließlich der Dämon selbst bei der Hand
und leitet ihn hinüber. (Dem furchtlosen Märchenhelden öffnen sich von selbst


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[0086] Zum Ursprung des Märchens eingeschachtelten Seele des Riesen oder des Dämons, der unsterblich ist, so¬ lange der Held nicht den Zugang zu der fünf- und mehrfach eingeschachtelten Seele findet. Als der Gipfel der Märchenphantastik wird dem Märchenleser die Fahrt des Helden in das Wunderland erscheinen, wo er nach Überwindung furchtbarer Gefahren einen Wundergegenstand erkämpft. Erst gilt es, einen weiten, schwie¬ rigen, pfadlosen Weg zurückzulegen, von dem Ziel trennt den Helden ein breites Wasser, über das eine sonderbare Brücke führt, oder über das ein Fährmann den Helden widerwillig rudert. Am Eingang des Wunderlandes halten grim¬ mige Tiere Wache, oder ein auf- oder zuschlagendes Tor macht den Eintritt schwierig. Die Schwierigkeiten häufen sich, je näher der kühne Eindringling dem Zentrum kommt, wo sich das Wunderding oder eine wunderschöne Jung¬ frau befindet. Es gelingt ihm, alle Widerstände zu überwinden, aber noch auf dem Rückwege entrinnt er nur mit Mühe dem Geschick, auf ewig in dem Land eingeschlossen zu werden; das zuschlagende Tor schlägt dem Davoneilenden einen Teil der Ferse ab. Hier ist jedoch nichts von willkürlich ausgesonnener Phantastik. Das Märchen gibt Zug um Zug die Reise der Seele ins Jenseits wieder, wie sie sich der Wilde ausmalt. Die Schotten geben dem Toten Schuhe mit, weil der Weg der Seele über eine große mit Dornen und Pfriemenkraut bewachsne Heide geht. Nach allgemeinem deutschem — und ähnlich schon an¬ tikem — Volksglauben findet der Tote, wenn er im Leben Brot an die Armen gegeben hat, nach dem Tode Brot bereit, das er dem vor dem Tore des Seelenlandes wachehaltenden Hunde in den Rachen werfen muß. Der über¬ fahrende Fährmann findet sich nicht nur in dem modernen und dem mittel¬ alterlichen Volksglauben und in der antiken Mythologie, sondern auch bei höhern und niedern unzivilisierten Völkern. Die Azteken gaben ihren Toten Pässe mit, mit deren Hilfe sie auf der Seelenfahrt durch alle Stationen hindurchgelangten. Während sie den ersten Paß in den Sarg legten, riefen sie dem Gestorbnen zu: „Mit diesem wirst du zwischen den Bergen hindurchkommen, die sich aneinander¬ stoßen." (Hier haben wir etwas, das dem auf- und zuschlagenden Tor ent¬ spricht.) Nach einer Überlieferung der Indianer des Algonkinkreises kommt der Held auf der Fahrt in das Jenseits an den Rand des Himmels, der in ge¬ wissen Zwischenräumen auf die Erde aufschlüge. Nur mit genauer Not gelangt er hindurch. Wenn nach dem Glauben der Tschoktahindianer die Seele in das Jenseits will, so muß sie über einen Fluß voll stinkender Fische und toter Kröten. Über ihn gelangt man auf einem schlüpfrigen Ballen. Die Bakwiri in Kamerun glauben, daß bevor die Seele in die Unterwelt kommt, sie auf einem Baum¬ stamm über eine tiefe Schlucht wandern muß, worin der Mukasse (der böse Geist) haust, der die Seelen herunterzuziehn trachtet. Hat um jemand Angst, so packt ihn der Mukasse am Unterkiefer und rente ihn ihm aus; hat aber der Wandrer keine Furcht, so faßt ihn schließlich der Dämon selbst bei der Hand und leitet ihn hinüber. (Dem furchtlosen Märchenhelden öffnen sich von selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/86>, abgerufen am 28.05.2024.