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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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kannt, was sich vorbereitete, und was in unsrer Zeit so ziemlich fertig ge¬
worden ist. Daß er, wie Mucklc weiter tadelt, die industrielle Arbeiterschaft
als eine bei der Neubildung mitwirkende Kraft unterschätzt hat, ist richtig; sie
war eben damals in Frankreich weder übermäßig zahlreich noch organisiert,
darum wenig bemerkbar; doch würde er auch heute diese Kraft nicht in dem Maße
überschätzen, wie es Marx getan hat und seine Jünger noch tun; von Klassen¬
kampf weiß er noch nichts. Das Arbeiterelend hat er mit seinem warmen
und feinfühlenden Herzen empfunden und hat auf Abhilfe gesonnen: er fordert,
daß das Recht auf Arbeit anerkannt und für die Invaliden von Staats wegen
gesorgt werde. Auch erkennt er, daß das Eigentumsrecht veränderlich und
zurzeit der Reform bedürftig sei. Das Eigentum des Privatmanns erscheint
ihm in dem Grade berechtigt, als es dem Gesamtwohle dient. Den Grundsatz:
Achtung vorm Eigentum und vor dem Eigentümer, möchte er durch den andern
ersetzt sehen: Achtung vor der Produktion und dem Produzenten! Indem
seine Jünger diese Andeutungen sozialistischer Gedanken aufgegriffen und fort¬
gebildet haben, ist er selbst in der Geschichte des Sozialismus unter dessen
Begründer geraten. Aber bei ihm selbst sind jene Andeutungen ganz neben¬
sächlich; was er wirklich begründet hat, das ist die Positivistische Soziologie.
Comte hat, wie der Leser aus unsrer Skizze schon erkannt haben wird, alle
seine Grundideen von seinem Meister empfangen; sein Verdienst beschränkt sich
darauf, daß er sie weiter ausgeführt, vollständiger begründet und zu einem
System geordnet hat.

Organisationskraft verleiht einer Kulturperiode ein alle in ihr lebenden
Menschen beherrschender Grundgedanke; nur in der Form religiöser Vor¬
stellungen aber ist ein solcher Gedanke den Massen zugänglich, und nur die
religiöse Wärme kann ihm Gestaltungskraft einflößen. So wächst aus der
ersten Gedankenreihe, die eine Theorie der Wissenschaft zu begründen versucht,
die letzte, die religiöse hervor. Außerordentlich hoch schützt Saint-Simon die
Kulturleistung des Christentums im allgemeinen und die Kulturarbeit der
mittelalterlichen Kirche im besondern. Aber vom fünfzehnten Jahrhundert an
habe diese ihre Pflichten freventlich vernachlässigt; sie sei geradezu unchristlich
geworden, und obwohl sich Luther um die Änderung des Gesamtzustandes
der Christenheit unsterbliche Verdienste erworben habe, sei doch auch seine
Kirche, gleich der römischen, in unchristliche Ketzerei versunken. Heftige An¬
klagen schleudert er dem Papste ins Gesicht und verkündigt sein neues
Christentum, das nur das alte ist: das Evangelium der Nächstenliebe und
der brüderlichen Gesinnung, nachdem er früher das geoffenbarte Christentum
durch eine utilitarische natürliche Moral hatte ersetzen wollen. Er endigt also
ähnlich wie sein berühmterer Schüler Comte, ohne jedoch gleich diesem in eine
mystische Schwärmerei zu verfallen, die auf Nietzsche den Eindruck gemacht
hat: der große Philosoph sei nur ein schlauer Jesuit, der die Menschheit auf
dem Wege über die Wissenschaft nach Rom zurückführen wolle. Sehr schön


Grenzboten IV 1908 18
Samt-Simon

kannt, was sich vorbereitete, und was in unsrer Zeit so ziemlich fertig ge¬
worden ist. Daß er, wie Mucklc weiter tadelt, die industrielle Arbeiterschaft
als eine bei der Neubildung mitwirkende Kraft unterschätzt hat, ist richtig; sie
war eben damals in Frankreich weder übermäßig zahlreich noch organisiert,
darum wenig bemerkbar; doch würde er auch heute diese Kraft nicht in dem Maße
überschätzen, wie es Marx getan hat und seine Jünger noch tun; von Klassen¬
kampf weiß er noch nichts. Das Arbeiterelend hat er mit seinem warmen
und feinfühlenden Herzen empfunden und hat auf Abhilfe gesonnen: er fordert,
daß das Recht auf Arbeit anerkannt und für die Invaliden von Staats wegen
gesorgt werde. Auch erkennt er, daß das Eigentumsrecht veränderlich und
zurzeit der Reform bedürftig sei. Das Eigentum des Privatmanns erscheint
ihm in dem Grade berechtigt, als es dem Gesamtwohle dient. Den Grundsatz:
Achtung vorm Eigentum und vor dem Eigentümer, möchte er durch den andern
ersetzt sehen: Achtung vor der Produktion und dem Produzenten! Indem
seine Jünger diese Andeutungen sozialistischer Gedanken aufgegriffen und fort¬
gebildet haben, ist er selbst in der Geschichte des Sozialismus unter dessen
Begründer geraten. Aber bei ihm selbst sind jene Andeutungen ganz neben¬
sächlich; was er wirklich begründet hat, das ist die Positivistische Soziologie.
Comte hat, wie der Leser aus unsrer Skizze schon erkannt haben wird, alle
seine Grundideen von seinem Meister empfangen; sein Verdienst beschränkt sich
darauf, daß er sie weiter ausgeführt, vollständiger begründet und zu einem
System geordnet hat.

Organisationskraft verleiht einer Kulturperiode ein alle in ihr lebenden
Menschen beherrschender Grundgedanke; nur in der Form religiöser Vor¬
stellungen aber ist ein solcher Gedanke den Massen zugänglich, und nur die
religiöse Wärme kann ihm Gestaltungskraft einflößen. So wächst aus der
ersten Gedankenreihe, die eine Theorie der Wissenschaft zu begründen versucht,
die letzte, die religiöse hervor. Außerordentlich hoch schützt Saint-Simon die
Kulturleistung des Christentums im allgemeinen und die Kulturarbeit der
mittelalterlichen Kirche im besondern. Aber vom fünfzehnten Jahrhundert an
habe diese ihre Pflichten freventlich vernachlässigt; sie sei geradezu unchristlich
geworden, und obwohl sich Luther um die Änderung des Gesamtzustandes
der Christenheit unsterbliche Verdienste erworben habe, sei doch auch seine
Kirche, gleich der römischen, in unchristliche Ketzerei versunken. Heftige An¬
klagen schleudert er dem Papste ins Gesicht und verkündigt sein neues
Christentum, das nur das alte ist: das Evangelium der Nächstenliebe und
der brüderlichen Gesinnung, nachdem er früher das geoffenbarte Christentum
durch eine utilitarische natürliche Moral hatte ersetzen wollen. Er endigt also
ähnlich wie sein berühmterer Schüler Comte, ohne jedoch gleich diesem in eine
mystische Schwärmerei zu verfallen, die auf Nietzsche den Eindruck gemacht
hat: der große Philosoph sei nur ein schlauer Jesuit, der die Menschheit auf
dem Wege über die Wissenschaft nach Rom zurückführen wolle. Sehr schön


Grenzboten IV 1908 18
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[0137] Samt-Simon kannt, was sich vorbereitete, und was in unsrer Zeit so ziemlich fertig ge¬ worden ist. Daß er, wie Mucklc weiter tadelt, die industrielle Arbeiterschaft als eine bei der Neubildung mitwirkende Kraft unterschätzt hat, ist richtig; sie war eben damals in Frankreich weder übermäßig zahlreich noch organisiert, darum wenig bemerkbar; doch würde er auch heute diese Kraft nicht in dem Maße überschätzen, wie es Marx getan hat und seine Jünger noch tun; von Klassen¬ kampf weiß er noch nichts. Das Arbeiterelend hat er mit seinem warmen und feinfühlenden Herzen empfunden und hat auf Abhilfe gesonnen: er fordert, daß das Recht auf Arbeit anerkannt und für die Invaliden von Staats wegen gesorgt werde. Auch erkennt er, daß das Eigentumsrecht veränderlich und zurzeit der Reform bedürftig sei. Das Eigentum des Privatmanns erscheint ihm in dem Grade berechtigt, als es dem Gesamtwohle dient. Den Grundsatz: Achtung vorm Eigentum und vor dem Eigentümer, möchte er durch den andern ersetzt sehen: Achtung vor der Produktion und dem Produzenten! Indem seine Jünger diese Andeutungen sozialistischer Gedanken aufgegriffen und fort¬ gebildet haben, ist er selbst in der Geschichte des Sozialismus unter dessen Begründer geraten. Aber bei ihm selbst sind jene Andeutungen ganz neben¬ sächlich; was er wirklich begründet hat, das ist die Positivistische Soziologie. Comte hat, wie der Leser aus unsrer Skizze schon erkannt haben wird, alle seine Grundideen von seinem Meister empfangen; sein Verdienst beschränkt sich darauf, daß er sie weiter ausgeführt, vollständiger begründet und zu einem System geordnet hat. Organisationskraft verleiht einer Kulturperiode ein alle in ihr lebenden Menschen beherrschender Grundgedanke; nur in der Form religiöser Vor¬ stellungen aber ist ein solcher Gedanke den Massen zugänglich, und nur die religiöse Wärme kann ihm Gestaltungskraft einflößen. So wächst aus der ersten Gedankenreihe, die eine Theorie der Wissenschaft zu begründen versucht, die letzte, die religiöse hervor. Außerordentlich hoch schützt Saint-Simon die Kulturleistung des Christentums im allgemeinen und die Kulturarbeit der mittelalterlichen Kirche im besondern. Aber vom fünfzehnten Jahrhundert an habe diese ihre Pflichten freventlich vernachlässigt; sie sei geradezu unchristlich geworden, und obwohl sich Luther um die Änderung des Gesamtzustandes der Christenheit unsterbliche Verdienste erworben habe, sei doch auch seine Kirche, gleich der römischen, in unchristliche Ketzerei versunken. Heftige An¬ klagen schleudert er dem Papste ins Gesicht und verkündigt sein neues Christentum, das nur das alte ist: das Evangelium der Nächstenliebe und der brüderlichen Gesinnung, nachdem er früher das geoffenbarte Christentum durch eine utilitarische natürliche Moral hatte ersetzen wollen. Er endigt also ähnlich wie sein berühmterer Schüler Comte, ohne jedoch gleich diesem in eine mystische Schwärmerei zu verfallen, die auf Nietzsche den Eindruck gemacht hat: der große Philosoph sei nur ein schlauer Jesuit, der die Menschheit auf dem Wege über die Wissenschaft nach Rom zurückführen wolle. Sehr schön Grenzboten IV 1908 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/137>, abgerufen am 15.06.2024.