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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Asiatische Probleme

genommen hatte, außerhalb der Goethischen Betrachtung, aber die naive Dicht¬
kunst des Alten Testaments, der Einfluß Alexanders des Großen und der
Diadochen, das Prophetentum Mohammeds, die reichhaltige Geschichte Persiens,
die Entwicklung der Seldschucken und Mongolen sind von ihm mit einem fabel¬
haften Fleiß und mit erstaunlichen Details geschildert. Dabei wünschte Goethe
als ein Reisender angesehn zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich
der fremden Landesart mit Neigung bequemt und deren Sitten anzunehmen
versteht.

In demselben Geiste hat Wirth seine Geschichte geschrieben, die an vielen
Stellen den naturwahren Charakter der Erzählung eines Reisenden trägt. Er
faßt den Verlauf der Geschichte Asiens im übrigen auf als einen fortdauernden
Kampf zwischen Bildung und Barbarei und zieht interessante Parallelen zu
dem Kampf der Mittelmeerkultur gegen die germanischen und slawischen Barbaren
und der spätern christlichen Völker gegen den Islam und die Tataren. Die
geographischen Einflüsse auf die Entwicklung der asiatischen Völker werden
ganz im Stile Ratzels nachgewiesen.

Asien zerfällt geographisch in zwei große Hälften. Der Süden, von hafen¬
reichen Küsten umgeben, ist der Sitz der Kulturvölker. Der Norden wird bis
zum Aufkommen der Russen von Nomadenvölkern bewohnt, die einer eignen
Kultur ermangeln. Der strategische Vorteil der Lage ist aber auf feiten des
Nordens, dessen Rücken durch Eismeer und Tundren gedeckt, dessen Flanken
durch Steppen und Urwälder geschützt sind. Mehr als einmal erobern die
Nomaden den Süden. Der Süden rächt sich dadurch, daß er mit seiner
Kultur den Sinn der Nomaden bezwingt. Das Gegenstück zu den Eroberungen
der Naturvölker bilden die Semiten: Assyrer, Phönizier, Juden und Araber.
Von Südwesten vordringend werden sie in Vorderasien mächtig, die Assyrer
durch ihre Kriegsmacht, die Phönizier durch den Handel, die Juden durch ihren
Glauben, die Araber durch alle drei Machtfaktoren. Die Heere der Araber
rücken bis zum Indus vor, und ihre Religion faßt beinahe in ganz Asien Fuß.

Für uns bedeutsamer ist das geschichtliche Verhältnis Asiens zu den andern
Kontinenten, von denen zunächst Afrika in Betracht kommt. Politische und
andre Wechselwirkungen finden mit Ägypten statt. Das Goldland Ophir
wird entdeckt. Ostasrikanische Sklaven werden in Südasien eingeführt. Araber,
Perser, Inder und Malaien wandern nach Ostafrika aus. Noch wichtiger ist
das Verhältnis Asiens zu Europa. Lange Zeit hindurch -- bis zu Alexander
dem Großen -- empfängt Europa ohne Gegengabe asiatische Kultureinwirkung,
besonders in künstlerischer und religiöser Hinsicht. Später ist der Strom frucht¬
baren Wechselaustausches, wenn auch bald schwächer bald stärker fließend,
zwischen Orient und Occident niemals unterbrochen gewesen. Die Europäer¬
herrschaft beginnt mit dem Jahre 1790. Die Anstrengungen der Portugiesen
und Spanier hatten keinen entscheidenden Erfolg gehabt. Erst das Fußfassen
Englands ändert die Lage von Grund aus. England gewinnt den Süden Asiens,


Asiatische Probleme

genommen hatte, außerhalb der Goethischen Betrachtung, aber die naive Dicht¬
kunst des Alten Testaments, der Einfluß Alexanders des Großen und der
Diadochen, das Prophetentum Mohammeds, die reichhaltige Geschichte Persiens,
die Entwicklung der Seldschucken und Mongolen sind von ihm mit einem fabel¬
haften Fleiß und mit erstaunlichen Details geschildert. Dabei wünschte Goethe
als ein Reisender angesehn zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich
der fremden Landesart mit Neigung bequemt und deren Sitten anzunehmen
versteht.

In demselben Geiste hat Wirth seine Geschichte geschrieben, die an vielen
Stellen den naturwahren Charakter der Erzählung eines Reisenden trägt. Er
faßt den Verlauf der Geschichte Asiens im übrigen auf als einen fortdauernden
Kampf zwischen Bildung und Barbarei und zieht interessante Parallelen zu
dem Kampf der Mittelmeerkultur gegen die germanischen und slawischen Barbaren
und der spätern christlichen Völker gegen den Islam und die Tataren. Die
geographischen Einflüsse auf die Entwicklung der asiatischen Völker werden
ganz im Stile Ratzels nachgewiesen.

Asien zerfällt geographisch in zwei große Hälften. Der Süden, von hafen¬
reichen Küsten umgeben, ist der Sitz der Kulturvölker. Der Norden wird bis
zum Aufkommen der Russen von Nomadenvölkern bewohnt, die einer eignen
Kultur ermangeln. Der strategische Vorteil der Lage ist aber auf feiten des
Nordens, dessen Rücken durch Eismeer und Tundren gedeckt, dessen Flanken
durch Steppen und Urwälder geschützt sind. Mehr als einmal erobern die
Nomaden den Süden. Der Süden rächt sich dadurch, daß er mit seiner
Kultur den Sinn der Nomaden bezwingt. Das Gegenstück zu den Eroberungen
der Naturvölker bilden die Semiten: Assyrer, Phönizier, Juden und Araber.
Von Südwesten vordringend werden sie in Vorderasien mächtig, die Assyrer
durch ihre Kriegsmacht, die Phönizier durch den Handel, die Juden durch ihren
Glauben, die Araber durch alle drei Machtfaktoren. Die Heere der Araber
rücken bis zum Indus vor, und ihre Religion faßt beinahe in ganz Asien Fuß.

Für uns bedeutsamer ist das geschichtliche Verhältnis Asiens zu den andern
Kontinenten, von denen zunächst Afrika in Betracht kommt. Politische und
andre Wechselwirkungen finden mit Ägypten statt. Das Goldland Ophir
wird entdeckt. Ostasrikanische Sklaven werden in Südasien eingeführt. Araber,
Perser, Inder und Malaien wandern nach Ostafrika aus. Noch wichtiger ist
das Verhältnis Asiens zu Europa. Lange Zeit hindurch — bis zu Alexander
dem Großen — empfängt Europa ohne Gegengabe asiatische Kultureinwirkung,
besonders in künstlerischer und religiöser Hinsicht. Später ist der Strom frucht¬
baren Wechselaustausches, wenn auch bald schwächer bald stärker fließend,
zwischen Orient und Occident niemals unterbrochen gewesen. Die Europäer¬
herrschaft beginnt mit dem Jahre 1790. Die Anstrengungen der Portugiesen
und Spanier hatten keinen entscheidenden Erfolg gehabt. Erst das Fußfassen
Englands ändert die Lage von Grund aus. England gewinnt den Süden Asiens,


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[0022] Asiatische Probleme genommen hatte, außerhalb der Goethischen Betrachtung, aber die naive Dicht¬ kunst des Alten Testaments, der Einfluß Alexanders des Großen und der Diadochen, das Prophetentum Mohammeds, die reichhaltige Geschichte Persiens, die Entwicklung der Seldschucken und Mongolen sind von ihm mit einem fabel¬ haften Fleiß und mit erstaunlichen Details geschildert. Dabei wünschte Goethe als ein Reisender angesehn zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt und deren Sitten anzunehmen versteht. In demselben Geiste hat Wirth seine Geschichte geschrieben, die an vielen Stellen den naturwahren Charakter der Erzählung eines Reisenden trägt. Er faßt den Verlauf der Geschichte Asiens im übrigen auf als einen fortdauernden Kampf zwischen Bildung und Barbarei und zieht interessante Parallelen zu dem Kampf der Mittelmeerkultur gegen die germanischen und slawischen Barbaren und der spätern christlichen Völker gegen den Islam und die Tataren. Die geographischen Einflüsse auf die Entwicklung der asiatischen Völker werden ganz im Stile Ratzels nachgewiesen. Asien zerfällt geographisch in zwei große Hälften. Der Süden, von hafen¬ reichen Küsten umgeben, ist der Sitz der Kulturvölker. Der Norden wird bis zum Aufkommen der Russen von Nomadenvölkern bewohnt, die einer eignen Kultur ermangeln. Der strategische Vorteil der Lage ist aber auf feiten des Nordens, dessen Rücken durch Eismeer und Tundren gedeckt, dessen Flanken durch Steppen und Urwälder geschützt sind. Mehr als einmal erobern die Nomaden den Süden. Der Süden rächt sich dadurch, daß er mit seiner Kultur den Sinn der Nomaden bezwingt. Das Gegenstück zu den Eroberungen der Naturvölker bilden die Semiten: Assyrer, Phönizier, Juden und Araber. Von Südwesten vordringend werden sie in Vorderasien mächtig, die Assyrer durch ihre Kriegsmacht, die Phönizier durch den Handel, die Juden durch ihren Glauben, die Araber durch alle drei Machtfaktoren. Die Heere der Araber rücken bis zum Indus vor, und ihre Religion faßt beinahe in ganz Asien Fuß. Für uns bedeutsamer ist das geschichtliche Verhältnis Asiens zu den andern Kontinenten, von denen zunächst Afrika in Betracht kommt. Politische und andre Wechselwirkungen finden mit Ägypten statt. Das Goldland Ophir wird entdeckt. Ostasrikanische Sklaven werden in Südasien eingeführt. Araber, Perser, Inder und Malaien wandern nach Ostafrika aus. Noch wichtiger ist das Verhältnis Asiens zu Europa. Lange Zeit hindurch — bis zu Alexander dem Großen — empfängt Europa ohne Gegengabe asiatische Kultureinwirkung, besonders in künstlerischer und religiöser Hinsicht. Später ist der Strom frucht¬ baren Wechselaustausches, wenn auch bald schwächer bald stärker fließend, zwischen Orient und Occident niemals unterbrochen gewesen. Die Europäer¬ herrschaft beginnt mit dem Jahre 1790. Die Anstrengungen der Portugiesen und Spanier hatten keinen entscheidenden Erfolg gehabt. Erst das Fußfassen Englands ändert die Lage von Grund aus. England gewinnt den Süden Asiens,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/22>, abgerufen am 16.05.2024.