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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Zur mazedonischen Frage

stoßen zwischen Drusen und Maroniten, die ebenso erbittert kämpften wie
Bulgaren und Griechen in Mazedonien. Die Gemetzel des Juni 1860 im
Libanon und die sich daran schließende Christenschlächterei in Damaskus
scharfem Europa das Gewissen. Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen
und Rußland entsandten Kommissare nach Beirut, um nach dem Rechten zu
sehen; hinter ihnen stand eine französische Okkupationsarmee. Das wirkte.
Es ist bekannt, daß die Pforte bedeutende Opfer bringen mußte, und daß
dem Libanon eine Verfassung gegeben wurde, die das Gebirgsland den
Intrigen der unmittelbaren osmanischen Beamten entzog und ihm eine Auto¬
nomie sicherte, die mit einem Schlage jenen wüsten Kämpfen ein Ende machte
und ihm eine Entwicklung schuf, die keine andre unmittelbare Provinz des
osmanischen Reichs zu verzeichnen hat. Weniger bekannt ist, daß Gro߬
britannien nichts Geringeres anstrebte, als die Schaffung eines halb unab¬
hängigen Syriens. Am 8. November 1860 unterbreitete diesen Plan Lord
Dufferin, der britische Kommissar in Beirut, Sir H. Vulwer, dem Botschafter
in Konstantinopel. Natürlich erfolgte ein Gegenzug der Pforte. Ali Pascha
protestierte, indem er unter dem 22. Januar 1861 an den osmanischen Bot¬
schafter in London, Musurus Pascha, ein Programm für die Verwaltung
Syriens zur Mitteilung an die britische Regierung schickte, das völlig befriedigen
würde. Dieses Programm, mitgeteilt bei Edwards, S^ris 1840 5 1862,
läßt alles beim alten: von fremder Kontrolle ist keine Rede. Großbritannien
bestand nicht auf der Einbeziehung ganz Syriens. Aber auch gegen die ma߬
vollen Forderungen der fremden Mächte betreffend den Libanon erhob die Türkei
als zu demütigend Einwendungen. Indessen man blieb fest, und am 9. Juni 1861
wurde das Reglement des Libanon von dem Großwesir und den fremden Ver¬
tretern in Pera unterzeichnet.

Alle Vergleiche hinken, und man muß zugeben, daß die Lage in Maze¬
donien eine etwas andre ist als die des Libanon. Es handelt sich um ein
ungleich reicheres und größeres Gebiet. Es leben da sechs größere und eine
Anzahl kleinerer Gruppen nebeneinander, zum Teil durcheinander, die sich
befehden, und von denen einige, wie Bulgaren und Griechen, einen dauernden
organisierten Kampf miteinander führen. Den Schwierigkeiten, die sich hier
einem geeinten Vorgehn der Mächte bieten, steht aber eine Hilfe gegenüber,
die im Libanon nicht vorhanden war: die wirtschaftspvlitische Seite. Bei
deren richtiger Behandlung wird sich sowohl die ungünstige innerpolitische
Lage des Landes heben wie auch der zu erwartende Widerstand des Sultans
beseitigen lassen.

Unter den wirtschaftlichen Maßnahmen, die den ausgezeichneten natür¬
lichen Bedingungen des Bodens eine Entwicklung schaffen sollen, steht der
Anschluß der Linie Mitrovitza-Salonik an das österreichisch-böhmische Bahnnetz
in erster Linie. Diese Verbindung schafft dem Lande neue Wege der Ein-
und Ausfuhr. Dazu wird schon durch diesen Anschluß Westmazedonien in


Zur mazedonischen Frage

stoßen zwischen Drusen und Maroniten, die ebenso erbittert kämpften wie
Bulgaren und Griechen in Mazedonien. Die Gemetzel des Juni 1860 im
Libanon und die sich daran schließende Christenschlächterei in Damaskus
scharfem Europa das Gewissen. Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen
und Rußland entsandten Kommissare nach Beirut, um nach dem Rechten zu
sehen; hinter ihnen stand eine französische Okkupationsarmee. Das wirkte.
Es ist bekannt, daß die Pforte bedeutende Opfer bringen mußte, und daß
dem Libanon eine Verfassung gegeben wurde, die das Gebirgsland den
Intrigen der unmittelbaren osmanischen Beamten entzog und ihm eine Auto¬
nomie sicherte, die mit einem Schlage jenen wüsten Kämpfen ein Ende machte
und ihm eine Entwicklung schuf, die keine andre unmittelbare Provinz des
osmanischen Reichs zu verzeichnen hat. Weniger bekannt ist, daß Gro߬
britannien nichts Geringeres anstrebte, als die Schaffung eines halb unab¬
hängigen Syriens. Am 8. November 1860 unterbreitete diesen Plan Lord
Dufferin, der britische Kommissar in Beirut, Sir H. Vulwer, dem Botschafter
in Konstantinopel. Natürlich erfolgte ein Gegenzug der Pforte. Ali Pascha
protestierte, indem er unter dem 22. Januar 1861 an den osmanischen Bot¬
schafter in London, Musurus Pascha, ein Programm für die Verwaltung
Syriens zur Mitteilung an die britische Regierung schickte, das völlig befriedigen
würde. Dieses Programm, mitgeteilt bei Edwards, S^ris 1840 5 1862,
läßt alles beim alten: von fremder Kontrolle ist keine Rede. Großbritannien
bestand nicht auf der Einbeziehung ganz Syriens. Aber auch gegen die ma߬
vollen Forderungen der fremden Mächte betreffend den Libanon erhob die Türkei
als zu demütigend Einwendungen. Indessen man blieb fest, und am 9. Juni 1861
wurde das Reglement des Libanon von dem Großwesir und den fremden Ver¬
tretern in Pera unterzeichnet.

Alle Vergleiche hinken, und man muß zugeben, daß die Lage in Maze¬
donien eine etwas andre ist als die des Libanon. Es handelt sich um ein
ungleich reicheres und größeres Gebiet. Es leben da sechs größere und eine
Anzahl kleinerer Gruppen nebeneinander, zum Teil durcheinander, die sich
befehden, und von denen einige, wie Bulgaren und Griechen, einen dauernden
organisierten Kampf miteinander führen. Den Schwierigkeiten, die sich hier
einem geeinten Vorgehn der Mächte bieten, steht aber eine Hilfe gegenüber,
die im Libanon nicht vorhanden war: die wirtschaftspvlitische Seite. Bei
deren richtiger Behandlung wird sich sowohl die ungünstige innerpolitische
Lage des Landes heben wie auch der zu erwartende Widerstand des Sultans
beseitigen lassen.

Unter den wirtschaftlichen Maßnahmen, die den ausgezeichneten natür¬
lichen Bedingungen des Bodens eine Entwicklung schaffen sollen, steht der
Anschluß der Linie Mitrovitza-Salonik an das österreichisch-böhmische Bahnnetz
in erster Linie. Diese Verbindung schafft dem Lande neue Wege der Ein-
und Ausfuhr. Dazu wird schon durch diesen Anschluß Westmazedonien in


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[0406] Zur mazedonischen Frage stoßen zwischen Drusen und Maroniten, die ebenso erbittert kämpften wie Bulgaren und Griechen in Mazedonien. Die Gemetzel des Juni 1860 im Libanon und die sich daran schließende Christenschlächterei in Damaskus scharfem Europa das Gewissen. Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen und Rußland entsandten Kommissare nach Beirut, um nach dem Rechten zu sehen; hinter ihnen stand eine französische Okkupationsarmee. Das wirkte. Es ist bekannt, daß die Pforte bedeutende Opfer bringen mußte, und daß dem Libanon eine Verfassung gegeben wurde, die das Gebirgsland den Intrigen der unmittelbaren osmanischen Beamten entzog und ihm eine Auto¬ nomie sicherte, die mit einem Schlage jenen wüsten Kämpfen ein Ende machte und ihm eine Entwicklung schuf, die keine andre unmittelbare Provinz des osmanischen Reichs zu verzeichnen hat. Weniger bekannt ist, daß Gro߬ britannien nichts Geringeres anstrebte, als die Schaffung eines halb unab¬ hängigen Syriens. Am 8. November 1860 unterbreitete diesen Plan Lord Dufferin, der britische Kommissar in Beirut, Sir H. Vulwer, dem Botschafter in Konstantinopel. Natürlich erfolgte ein Gegenzug der Pforte. Ali Pascha protestierte, indem er unter dem 22. Januar 1861 an den osmanischen Bot¬ schafter in London, Musurus Pascha, ein Programm für die Verwaltung Syriens zur Mitteilung an die britische Regierung schickte, das völlig befriedigen würde. Dieses Programm, mitgeteilt bei Edwards, S^ris 1840 5 1862, läßt alles beim alten: von fremder Kontrolle ist keine Rede. Großbritannien bestand nicht auf der Einbeziehung ganz Syriens. Aber auch gegen die ma߬ vollen Forderungen der fremden Mächte betreffend den Libanon erhob die Türkei als zu demütigend Einwendungen. Indessen man blieb fest, und am 9. Juni 1861 wurde das Reglement des Libanon von dem Großwesir und den fremden Ver¬ tretern in Pera unterzeichnet. Alle Vergleiche hinken, und man muß zugeben, daß die Lage in Maze¬ donien eine etwas andre ist als die des Libanon. Es handelt sich um ein ungleich reicheres und größeres Gebiet. Es leben da sechs größere und eine Anzahl kleinerer Gruppen nebeneinander, zum Teil durcheinander, die sich befehden, und von denen einige, wie Bulgaren und Griechen, einen dauernden organisierten Kampf miteinander führen. Den Schwierigkeiten, die sich hier einem geeinten Vorgehn der Mächte bieten, steht aber eine Hilfe gegenüber, die im Libanon nicht vorhanden war: die wirtschaftspvlitische Seite. Bei deren richtiger Behandlung wird sich sowohl die ungünstige innerpolitische Lage des Landes heben wie auch der zu erwartende Widerstand des Sultans beseitigen lassen. Unter den wirtschaftlichen Maßnahmen, die den ausgezeichneten natür¬ lichen Bedingungen des Bodens eine Entwicklung schaffen sollen, steht der Anschluß der Linie Mitrovitza-Salonik an das österreichisch-böhmische Bahnnetz in erster Linie. Diese Verbindung schafft dem Lande neue Wege der Ein- und Ausfuhr. Dazu wird schon durch diesen Anschluß Westmazedonien in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/406>, abgerufen am 22.05.2024.