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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Zur mazedonischen Frage

Eine zweite, nicht minder wichtige Seite ist, daß durch den Ausbau des
Bahnnetzes in dem ausgeführten Sinne die Zentralregierung von Stambul
die Möglichkeit erhält, zunächst die nördliche der beiden albanischen Provinzen,
Schkodra, zu pazisizieren. Auch dort gard es bestündig, und gerade der
unbotmäßigste Teil wird von der Bahn durchschnitten werden. Ist einmal
dort Ordnung geschaffen, dann wird sich auch die südliche Provinz, Janina,
leicht völlig beruhigen lassen.

Diese Aussichten werden den Großherrn geneigt machen, dem Drängen
der Mächte nachzugeben und einem seiner Untertanen die Verwaltung des
Landes in der freiesten Weise anzuvertrauen. Ein Mann mit Generalvollmacht,
dem der Rat erfahrner fremder Kommissare zur Seite steht, wird leicht die
Geschäfte führen können nach einem Reglement, das ähnlich wie das Statut
Or^api^us an I^idau die Hauptzüge festlegt. Es wird alles darauf ankommen,
ähnlich wie im Libanon die tatsächlichen Verhältnisse richtig einzuschätzen, und
den verschiednen Gruppen die Institutionen zu gewähren, die ihrer Vorstellungs¬
welt angepaßt sind: der oberste Verwaltungsbeamte eines Bezirks muß der
Religion der Majorität angehören, ebenso die Richter. Im Libanon hat sich
dieses System vortrefflich bewährt. Wo ein Bezirk in mehrere Gruppen ge¬
spalten ist, ist möglichst eine Verschiebung herbeizuführen. Man wird es
bei gehöriger materieller Entschädigung immer erreichen, daß Elemente, die in
stammfremder Umwelt wohnen, zu den Stammesgenossen übersiedeln. Die Kosten,
die durch solche Schiebungen verursacht werden, werden sich reichlich einbringen.
Noch ist die Bevölkerung jener Gegenden bedürfnislos, und das Geld hat eine
bedeutende Kaufkraft; da werden die Aufwendungen zu solchen Zwecken nicht
zu hoch sein.

Von dem Lärmen gegen Herrn von Aehrenthals Bahn durch Novibazar
ist es stille geworden. So wird auch das Geschrei verhallen, das über den
durchgreifenden Vorschlag Sir Edward Greys erhoben wurde. Wenn Friedrich
List vor nun etwa achtzig Jahren predigte: "Deutschland hat eine Kulturmission
in Südosteuropa", so ist die Gelegenheit dazu verpaßt, und es ist müßig, zu speku¬
lieren, durch wessen Schuld. Das Österreich des Herrn von Aehrenthal wird,
daran dürfen wir nicht zweifeln, Träger deutschen Wesens seien. Das Reich kann
und darf einen direkten Einfluß in den Gebieten, um die es sich hier handelt, nicht
üben. Es hat aber die Pflicht, an der gemeinsamen Aktion der Mächte im Sinne
der Kulturentwicklung teilzunehmen und nicht etwa den Widerstand zu unterstützen,
der voraussichtlich in Stambul wird versucht werden. Die deutsche Nation hat
die Pflicht, in den Wettbewerb, der nun da unten beginnen wird um Gewinnung
moralischer und materieller Werte, energisch und zielbewußt einzutreten.


Martin Hartmann


Zur mazedonischen Frage

Eine zweite, nicht minder wichtige Seite ist, daß durch den Ausbau des
Bahnnetzes in dem ausgeführten Sinne die Zentralregierung von Stambul
die Möglichkeit erhält, zunächst die nördliche der beiden albanischen Provinzen,
Schkodra, zu pazisizieren. Auch dort gard es bestündig, und gerade der
unbotmäßigste Teil wird von der Bahn durchschnitten werden. Ist einmal
dort Ordnung geschaffen, dann wird sich auch die südliche Provinz, Janina,
leicht völlig beruhigen lassen.

Diese Aussichten werden den Großherrn geneigt machen, dem Drängen
der Mächte nachzugeben und einem seiner Untertanen die Verwaltung des
Landes in der freiesten Weise anzuvertrauen. Ein Mann mit Generalvollmacht,
dem der Rat erfahrner fremder Kommissare zur Seite steht, wird leicht die
Geschäfte führen können nach einem Reglement, das ähnlich wie das Statut
Or^api^us an I^idau die Hauptzüge festlegt. Es wird alles darauf ankommen,
ähnlich wie im Libanon die tatsächlichen Verhältnisse richtig einzuschätzen, und
den verschiednen Gruppen die Institutionen zu gewähren, die ihrer Vorstellungs¬
welt angepaßt sind: der oberste Verwaltungsbeamte eines Bezirks muß der
Religion der Majorität angehören, ebenso die Richter. Im Libanon hat sich
dieses System vortrefflich bewährt. Wo ein Bezirk in mehrere Gruppen ge¬
spalten ist, ist möglichst eine Verschiebung herbeizuführen. Man wird es
bei gehöriger materieller Entschädigung immer erreichen, daß Elemente, die in
stammfremder Umwelt wohnen, zu den Stammesgenossen übersiedeln. Die Kosten,
die durch solche Schiebungen verursacht werden, werden sich reichlich einbringen.
Noch ist die Bevölkerung jener Gegenden bedürfnislos, und das Geld hat eine
bedeutende Kaufkraft; da werden die Aufwendungen zu solchen Zwecken nicht
zu hoch sein.

Von dem Lärmen gegen Herrn von Aehrenthals Bahn durch Novibazar
ist es stille geworden. So wird auch das Geschrei verhallen, das über den
durchgreifenden Vorschlag Sir Edward Greys erhoben wurde. Wenn Friedrich
List vor nun etwa achtzig Jahren predigte: „Deutschland hat eine Kulturmission
in Südosteuropa", so ist die Gelegenheit dazu verpaßt, und es ist müßig, zu speku¬
lieren, durch wessen Schuld. Das Österreich des Herrn von Aehrenthal wird,
daran dürfen wir nicht zweifeln, Träger deutschen Wesens seien. Das Reich kann
und darf einen direkten Einfluß in den Gebieten, um die es sich hier handelt, nicht
üben. Es hat aber die Pflicht, an der gemeinsamen Aktion der Mächte im Sinne
der Kulturentwicklung teilzunehmen und nicht etwa den Widerstand zu unterstützen,
der voraussichtlich in Stambul wird versucht werden. Die deutsche Nation hat
die Pflicht, in den Wettbewerb, der nun da unten beginnen wird um Gewinnung
moralischer und materieller Werte, energisch und zielbewußt einzutreten.


Martin Hartmann


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[0409] Zur mazedonischen Frage Eine zweite, nicht minder wichtige Seite ist, daß durch den Ausbau des Bahnnetzes in dem ausgeführten Sinne die Zentralregierung von Stambul die Möglichkeit erhält, zunächst die nördliche der beiden albanischen Provinzen, Schkodra, zu pazisizieren. Auch dort gard es bestündig, und gerade der unbotmäßigste Teil wird von der Bahn durchschnitten werden. Ist einmal dort Ordnung geschaffen, dann wird sich auch die südliche Provinz, Janina, leicht völlig beruhigen lassen. Diese Aussichten werden den Großherrn geneigt machen, dem Drängen der Mächte nachzugeben und einem seiner Untertanen die Verwaltung des Landes in der freiesten Weise anzuvertrauen. Ein Mann mit Generalvollmacht, dem der Rat erfahrner fremder Kommissare zur Seite steht, wird leicht die Geschäfte führen können nach einem Reglement, das ähnlich wie das Statut Or^api^us an I^idau die Hauptzüge festlegt. Es wird alles darauf ankommen, ähnlich wie im Libanon die tatsächlichen Verhältnisse richtig einzuschätzen, und den verschiednen Gruppen die Institutionen zu gewähren, die ihrer Vorstellungs¬ welt angepaßt sind: der oberste Verwaltungsbeamte eines Bezirks muß der Religion der Majorität angehören, ebenso die Richter. Im Libanon hat sich dieses System vortrefflich bewährt. Wo ein Bezirk in mehrere Gruppen ge¬ spalten ist, ist möglichst eine Verschiebung herbeizuführen. Man wird es bei gehöriger materieller Entschädigung immer erreichen, daß Elemente, die in stammfremder Umwelt wohnen, zu den Stammesgenossen übersiedeln. Die Kosten, die durch solche Schiebungen verursacht werden, werden sich reichlich einbringen. Noch ist die Bevölkerung jener Gegenden bedürfnislos, und das Geld hat eine bedeutende Kaufkraft; da werden die Aufwendungen zu solchen Zwecken nicht zu hoch sein. Von dem Lärmen gegen Herrn von Aehrenthals Bahn durch Novibazar ist es stille geworden. So wird auch das Geschrei verhallen, das über den durchgreifenden Vorschlag Sir Edward Greys erhoben wurde. Wenn Friedrich List vor nun etwa achtzig Jahren predigte: „Deutschland hat eine Kulturmission in Südosteuropa", so ist die Gelegenheit dazu verpaßt, und es ist müßig, zu speku¬ lieren, durch wessen Schuld. Das Österreich des Herrn von Aehrenthal wird, daran dürfen wir nicht zweifeln, Träger deutschen Wesens seien. Das Reich kann und darf einen direkten Einfluß in den Gebieten, um die es sich hier handelt, nicht üben. Es hat aber die Pflicht, an der gemeinsamen Aktion der Mächte im Sinne der Kulturentwicklung teilzunehmen und nicht etwa den Widerstand zu unterstützen, der voraussichtlich in Stambul wird versucht werden. Die deutsche Nation hat die Pflicht, in den Wettbewerb, der nun da unten beginnen wird um Gewinnung moralischer und materieller Werte, energisch und zielbewußt einzutreten. Martin Hartmann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/409>, abgerufen am 22.05.2024.