Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur mazedonischen Frage

nehmen. Es ist namentlich ein gewaltiger Aufschwung Saloniks zu erwarten,
das bei Ausbau dieses Netzes mit Italien, mit Österreich (durch die Linie
Üsküb-Mitrovitza-Serajevo), mit Ungarn (durch die alte serbische Linie) und
mit Bulgarien und Rumänien in Schnellverbindung gebracht ist.

Man wird die Wirkung der ungeheuern Arbeitsmenge, die durch die Be¬
völkerung zu bewältigen ist, wenn es zur Ausführung der hier kurz skizzierten
Unternehmungen kommt, nicht überschätzen dürfen. Die berühmten Hammel¬
diebe, die in jenen Gegenden Hausen, wobei sich die Unfähigkeit, mein und
dein zu unterscheiden, durchaus nicht ans die niedern Klassen beschränkt, sind
nicht ganz leicht zu erziehen. Vielleicht kann man für ihre Arbeitsfähigkeit
anführen, daß der Krieg aller gegen alle, der jetzt dort herrscht, nicht unbe¬
trächtliche Anforderungen an physische Kraftleistung, Energie und Ausdauer
stellt. Ein nicht geringer Prozentsatz wird sehr bald einsehen, daß die Aus¬
nutzung der Arbeitsgelegenheit bekömmlicher und einträglicher ist als das
Brigantenhandwcrk und das Komitadschigewerbe. Hier wird die staatspolitische
Leitung einzugreifen haben.

Um diese in die Wege zu leiten, bedarf es hauptsächlich der wohlwollenden
Haltung des Landesherrn, des Sultans. Glücklicherweise ist hier durch die
Mürzsteger Puuktationen vom 1. Oktober 1903 und die wohlwollende Haltung,
die die andern Mächte den Abmachungen Österreichs und Rußlands gegenüber
eingenommen haben, vorgearbeitet worden. Die osmanische Regierung kaun
sich nicht darüber täuschen, daß es den Mächten mit dem Willen, dem un¬
erträglichen Zustande in Mazedonien ein Ende zu machen, Ernst ist, und daß
keine Intrige von Stambul aus auf die Dauer diesen Willen wird brechen
können. Es ist auch nicht abzusehen, warum Abdul Hamid nicht tun sollte,
was Abdul Medschid im Jahre 1860 tun konnte: eine seiner Provinzen dnrch
einen seiner christlichen Untertanen regieren zu lassen und diesem General¬
vollmacht zu seiner Vertretung zu geben. Die kleine Beschränkung, daß dieser
Beamte in Übereinstimmung mit den fremden Mächten auf Zeit zu ernennen
ist und vor Ablauf der Zeit nicht absetzbar ist, ist ein unwesentlicher Neben¬
umstand, den der erleuchtete Herrscher des osmanischen Reichs gern gewähren
wird, wenn mau ihm die Vorteile dieses Verhaltens klarmacht.

Diese Vorteile sind bedeutend. In erster Linie steht die Geldfrage.
Die drei Wilajets Salonik, Monastir und Kossowo, die Mazedonien aus¬
machen, mögen schon jetzt ganz gute Erträge abwerfen, aber die Aufwendungen
für Verwaltung und militärische Expeditionen dürften den größern Teil
verschlingen. Daneben die Opfer an Leben und Gesundheit der tapfern
türkischen Soldaten, die immerwährend im Felde stehn müssen, um die aller¬
orten ausbrechenden Aufstandsbrände zu löschen! Nur wenige Jahre der Ruhe
und eines geordneten gewerblichen Lebens, und das herrliche Land, in dem
hochragende Berge, liebliches Hügelland und weitgedehnte, fruchtbare Ebenen
schön wechseln, wird dem kaiserlichen Schatze die reichsten Erträge zuführen.


Zur mazedonischen Frage

nehmen. Es ist namentlich ein gewaltiger Aufschwung Saloniks zu erwarten,
das bei Ausbau dieses Netzes mit Italien, mit Österreich (durch die Linie
Üsküb-Mitrovitza-Serajevo), mit Ungarn (durch die alte serbische Linie) und
mit Bulgarien und Rumänien in Schnellverbindung gebracht ist.

Man wird die Wirkung der ungeheuern Arbeitsmenge, die durch die Be¬
völkerung zu bewältigen ist, wenn es zur Ausführung der hier kurz skizzierten
Unternehmungen kommt, nicht überschätzen dürfen. Die berühmten Hammel¬
diebe, die in jenen Gegenden Hausen, wobei sich die Unfähigkeit, mein und
dein zu unterscheiden, durchaus nicht ans die niedern Klassen beschränkt, sind
nicht ganz leicht zu erziehen. Vielleicht kann man für ihre Arbeitsfähigkeit
anführen, daß der Krieg aller gegen alle, der jetzt dort herrscht, nicht unbe¬
trächtliche Anforderungen an physische Kraftleistung, Energie und Ausdauer
stellt. Ein nicht geringer Prozentsatz wird sehr bald einsehen, daß die Aus¬
nutzung der Arbeitsgelegenheit bekömmlicher und einträglicher ist als das
Brigantenhandwcrk und das Komitadschigewerbe. Hier wird die staatspolitische
Leitung einzugreifen haben.

Um diese in die Wege zu leiten, bedarf es hauptsächlich der wohlwollenden
Haltung des Landesherrn, des Sultans. Glücklicherweise ist hier durch die
Mürzsteger Puuktationen vom 1. Oktober 1903 und die wohlwollende Haltung,
die die andern Mächte den Abmachungen Österreichs und Rußlands gegenüber
eingenommen haben, vorgearbeitet worden. Die osmanische Regierung kaun
sich nicht darüber täuschen, daß es den Mächten mit dem Willen, dem un¬
erträglichen Zustande in Mazedonien ein Ende zu machen, Ernst ist, und daß
keine Intrige von Stambul aus auf die Dauer diesen Willen wird brechen
können. Es ist auch nicht abzusehen, warum Abdul Hamid nicht tun sollte,
was Abdul Medschid im Jahre 1860 tun konnte: eine seiner Provinzen dnrch
einen seiner christlichen Untertanen regieren zu lassen und diesem General¬
vollmacht zu seiner Vertretung zu geben. Die kleine Beschränkung, daß dieser
Beamte in Übereinstimmung mit den fremden Mächten auf Zeit zu ernennen
ist und vor Ablauf der Zeit nicht absetzbar ist, ist ein unwesentlicher Neben¬
umstand, den der erleuchtete Herrscher des osmanischen Reichs gern gewähren
wird, wenn mau ihm die Vorteile dieses Verhaltens klarmacht.

Diese Vorteile sind bedeutend. In erster Linie steht die Geldfrage.
Die drei Wilajets Salonik, Monastir und Kossowo, die Mazedonien aus¬
machen, mögen schon jetzt ganz gute Erträge abwerfen, aber die Aufwendungen
für Verwaltung und militärische Expeditionen dürften den größern Teil
verschlingen. Daneben die Opfer an Leben und Gesundheit der tapfern
türkischen Soldaten, die immerwährend im Felde stehn müssen, um die aller¬
orten ausbrechenden Aufstandsbrände zu löschen! Nur wenige Jahre der Ruhe
und eines geordneten gewerblichen Lebens, und das herrliche Land, in dem
hochragende Berge, liebliches Hügelland und weitgedehnte, fruchtbare Ebenen
schön wechseln, wird dem kaiserlichen Schatze die reichsten Erträge zuführen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0408" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312095"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur mazedonischen Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1622" prev="#ID_1621"> nehmen. Es ist namentlich ein gewaltiger Aufschwung Saloniks zu erwarten,<lb/>
das bei Ausbau dieses Netzes mit Italien, mit Österreich (durch die Linie<lb/>
Üsküb-Mitrovitza-Serajevo), mit Ungarn (durch die alte serbische Linie) und<lb/>
mit Bulgarien und Rumänien in Schnellverbindung gebracht ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1623"> Man wird die Wirkung der ungeheuern Arbeitsmenge, die durch die Be¬<lb/>
völkerung zu bewältigen ist, wenn es zur Ausführung der hier kurz skizzierten<lb/>
Unternehmungen kommt, nicht überschätzen dürfen. Die berühmten Hammel¬<lb/>
diebe, die in jenen Gegenden Hausen, wobei sich die Unfähigkeit, mein und<lb/>
dein zu unterscheiden, durchaus nicht ans die niedern Klassen beschränkt, sind<lb/>
nicht ganz leicht zu erziehen. Vielleicht kann man für ihre Arbeitsfähigkeit<lb/>
anführen, daß der Krieg aller gegen alle, der jetzt dort herrscht, nicht unbe¬<lb/>
trächtliche Anforderungen an physische Kraftleistung, Energie und Ausdauer<lb/>
stellt. Ein nicht geringer Prozentsatz wird sehr bald einsehen, daß die Aus¬<lb/>
nutzung der Arbeitsgelegenheit bekömmlicher und einträglicher ist als das<lb/>
Brigantenhandwcrk und das Komitadschigewerbe. Hier wird die staatspolitische<lb/>
Leitung einzugreifen haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1624"> Um diese in die Wege zu leiten, bedarf es hauptsächlich der wohlwollenden<lb/>
Haltung des Landesherrn, des Sultans. Glücklicherweise ist hier durch die<lb/>
Mürzsteger Puuktationen vom 1. Oktober 1903 und die wohlwollende Haltung,<lb/>
die die andern Mächte den Abmachungen Österreichs und Rußlands gegenüber<lb/>
eingenommen haben, vorgearbeitet worden. Die osmanische Regierung kaun<lb/>
sich nicht darüber täuschen, daß es den Mächten mit dem Willen, dem un¬<lb/>
erträglichen Zustande in Mazedonien ein Ende zu machen, Ernst ist, und daß<lb/>
keine Intrige von Stambul aus auf die Dauer diesen Willen wird brechen<lb/>
können. Es ist auch nicht abzusehen, warum Abdul Hamid nicht tun sollte,<lb/>
was Abdul Medschid im Jahre 1860 tun konnte: eine seiner Provinzen dnrch<lb/>
einen seiner christlichen Untertanen regieren zu lassen und diesem General¬<lb/>
vollmacht zu seiner Vertretung zu geben. Die kleine Beschränkung, daß dieser<lb/>
Beamte in Übereinstimmung mit den fremden Mächten auf Zeit zu ernennen<lb/>
ist und vor Ablauf der Zeit nicht absetzbar ist, ist ein unwesentlicher Neben¬<lb/>
umstand, den der erleuchtete Herrscher des osmanischen Reichs gern gewähren<lb/>
wird, wenn mau ihm die Vorteile dieses Verhaltens klarmacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1625" next="#ID_1626"> Diese Vorteile sind bedeutend. In erster Linie steht die Geldfrage.<lb/>
Die drei Wilajets Salonik, Monastir und Kossowo, die Mazedonien aus¬<lb/>
machen, mögen schon jetzt ganz gute Erträge abwerfen, aber die Aufwendungen<lb/>
für Verwaltung und militärische Expeditionen dürften den größern Teil<lb/>
verschlingen. Daneben die Opfer an Leben und Gesundheit der tapfern<lb/>
türkischen Soldaten, die immerwährend im Felde stehn müssen, um die aller¬<lb/>
orten ausbrechenden Aufstandsbrände zu löschen! Nur wenige Jahre der Ruhe<lb/>
und eines geordneten gewerblichen Lebens, und das herrliche Land, in dem<lb/>
hochragende Berge, liebliches Hügelland und weitgedehnte, fruchtbare Ebenen<lb/>
schön wechseln, wird dem kaiserlichen Schatze die reichsten Erträge zuführen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0408] Zur mazedonischen Frage nehmen. Es ist namentlich ein gewaltiger Aufschwung Saloniks zu erwarten, das bei Ausbau dieses Netzes mit Italien, mit Österreich (durch die Linie Üsküb-Mitrovitza-Serajevo), mit Ungarn (durch die alte serbische Linie) und mit Bulgarien und Rumänien in Schnellverbindung gebracht ist. Man wird die Wirkung der ungeheuern Arbeitsmenge, die durch die Be¬ völkerung zu bewältigen ist, wenn es zur Ausführung der hier kurz skizzierten Unternehmungen kommt, nicht überschätzen dürfen. Die berühmten Hammel¬ diebe, die in jenen Gegenden Hausen, wobei sich die Unfähigkeit, mein und dein zu unterscheiden, durchaus nicht ans die niedern Klassen beschränkt, sind nicht ganz leicht zu erziehen. Vielleicht kann man für ihre Arbeitsfähigkeit anführen, daß der Krieg aller gegen alle, der jetzt dort herrscht, nicht unbe¬ trächtliche Anforderungen an physische Kraftleistung, Energie und Ausdauer stellt. Ein nicht geringer Prozentsatz wird sehr bald einsehen, daß die Aus¬ nutzung der Arbeitsgelegenheit bekömmlicher und einträglicher ist als das Brigantenhandwcrk und das Komitadschigewerbe. Hier wird die staatspolitische Leitung einzugreifen haben. Um diese in die Wege zu leiten, bedarf es hauptsächlich der wohlwollenden Haltung des Landesherrn, des Sultans. Glücklicherweise ist hier durch die Mürzsteger Puuktationen vom 1. Oktober 1903 und die wohlwollende Haltung, die die andern Mächte den Abmachungen Österreichs und Rußlands gegenüber eingenommen haben, vorgearbeitet worden. Die osmanische Regierung kaun sich nicht darüber täuschen, daß es den Mächten mit dem Willen, dem un¬ erträglichen Zustande in Mazedonien ein Ende zu machen, Ernst ist, und daß keine Intrige von Stambul aus auf die Dauer diesen Willen wird brechen können. Es ist auch nicht abzusehen, warum Abdul Hamid nicht tun sollte, was Abdul Medschid im Jahre 1860 tun konnte: eine seiner Provinzen dnrch einen seiner christlichen Untertanen regieren zu lassen und diesem General¬ vollmacht zu seiner Vertretung zu geben. Die kleine Beschränkung, daß dieser Beamte in Übereinstimmung mit den fremden Mächten auf Zeit zu ernennen ist und vor Ablauf der Zeit nicht absetzbar ist, ist ein unwesentlicher Neben¬ umstand, den der erleuchtete Herrscher des osmanischen Reichs gern gewähren wird, wenn mau ihm die Vorteile dieses Verhaltens klarmacht. Diese Vorteile sind bedeutend. In erster Linie steht die Geldfrage. Die drei Wilajets Salonik, Monastir und Kossowo, die Mazedonien aus¬ machen, mögen schon jetzt ganz gute Erträge abwerfen, aber die Aufwendungen für Verwaltung und militärische Expeditionen dürften den größern Teil verschlingen. Daneben die Opfer an Leben und Gesundheit der tapfern türkischen Soldaten, die immerwährend im Felde stehn müssen, um die aller¬ orten ausbrechenden Aufstandsbrände zu löschen! Nur wenige Jahre der Ruhe und eines geordneten gewerblichen Lebens, und das herrliche Land, in dem hochragende Berge, liebliches Hügelland und weitgedehnte, fruchtbare Ebenen schön wechseln, wird dem kaiserlichen Schatze die reichsten Erträge zuführen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/408
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/408>, abgerufen am 15.06.2024.