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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

einmal von denen, die den Inhalt der in Reval gepflognen vertraulichen Gespräche
genau kennen.

Von dem Verlauf der Ereignisse in den bestimmten, gegenwärtig schwebenden
Fragen, die wir hier erwähnt haben, wird es abhängen, wie sich die politischen
Folgen der Revaler Zusammenkunft weiter gestalten. Wir haben oft genug fest¬
gestellt, daß die Richtung der englischen Politik, die ihre letzte Betätigung in Reval
gefunden hat, die natürliche Folgerung aus der politischen Lage Englands ist und
durchaus keine Spitze gegen Deutschland zu kehren braucht, daß es deshalb weder
zweckmäßig noch unser würdig ist, wenn die Sprachrohre unsrer öffentlichen Meinung
aus einem oberflächlichen Eindruck heraus alles, was von Angstmeierei, Nervosität
und Nörgelsucht bei uns vorhanden ist, zusammenrufen, und ohne auch nur einiger¬
maßen ausreichend orientiert zu sein, die Leitung unsrer auswärtigen Politik öffent¬
lich der Unfähigkeit zeihen. Wenn als Scheinbeweis für die Berechtigung solcher
Ausfassung triumphierend die Frage gestellt wird, warum denn Deutschland die
einzige Großmacht sei, mit der England neuerdings keine besondern politischen Ab¬
machungen -- das Nordseeabkommen zählt hier wohl nicht mit -- getroffen habe,
so kann man die Antwort darauf sehr kurz und prägnant fassen: "Weil Deutschland
weder Mittelmeermacht noch asiatische Macht ist." Deutschland ist gar nicht in der
Lage, mit England einen Vertrag abzuschließen, der direkt zur Sicherung der Stellung
Englands in Indien oder auf dem Wege nach Indien dienen könnte. Das ist
aber gerade das, was für die weltpolitischen Maßnahmen Englands entscheidend ist.

Andrerseits haben wir wiederholt betont, daß diese Politik Englands aller¬
dings, um zu ihrem Ziel zu kommen, in den verschiednen Ländern die Bundes¬
genossenschaft von Strömungen hat benutzen können, die von starker Feindseligkeit
gegen Deutschland erfüllt sind, und die, wenn auch zunächst nur aus Liebhaberei
und auf clare Verantwortung, den Traum weiterspinnen, man könne einen Ring
sämtlicher Mächte um Deutschland bilden und diese große Zentralmacht Europas
einschüchtern und niederhalten. Eine weitere Ermutigung und ein Scheinerfolg
dieser Richtungen könnte sehr wohl die Meinung unterstützen, daß die Demütigung
Deutschlands eine Frucht sei, die England bei der Verfolgung seiner Hauptziele
ganz bequem nebenbei einheimsen könne. Eine solche Ermutigung sehen wir nun
freilich darin, daß die öffentliche Meinung Deutschlands, so wie sie sich dem Aus¬
lande in der Mehrheit seiner Presse darstellt, bei jedem Schritt des Königs von
England die Rolle des Gekränkten, Geschädigten und Beiseitegeschobnen spielt und
in beständiger Verärgerung dem Auslande die Versicherung in die Ohren schreit,
unsre Diplomatie tauge gar nichts, und alles, was sie tue, sei eine Kette von Nieder¬
lagen der deutschen Politik. Es ist doch klar, daß ein Heer, das sich selbst be¬
ständig für geschlagen erklärt, zuletzt wirklich geschlagen wird. Dürfen wir uns
Wundern, wenn im Auslande die Meinung aufkommt, die verschiednen internationalen
Abmachungen der letzten Zeit könnten vielleicht doch die Einschüchterung Deutsch¬
lands gelingen lassen? Unsre Sicherheit und die Erfolge unsrer Politik beruhen
darauf, daß wir dem Auslande die Überzeugung beibringen, daß eine solche Ein¬
schüchterung schlechterdings unmöglich ist, weil wir an unsrer Rüstung ohne Unterlaß
Pflichttreu gearbeitet haben und uus darum mit einiger Ruhe auf unsre Kraft ver¬
lassen können. Um gegen eine solche gesammelte Kraft eine feindliche Koalition
zusammenzubringen und wirksam zu machen, dazu gehört eine ganz andre Einheit
der Interessen, als sie bei den an unsrer "Einkreisung" tätigen Mächten günstigsten¬
falls vorhanden sein kann. Das dem Auslande überall zum Bewußtsein zu bringen,
ist eine Aufgabe unsrer Diplomatie, die durch das törichte Geschrei unsrer eignen
Presse über angebliche Fehler in der auswärtigen Politik nur erschwert wird.


Grenzboten II 1903 75
Maßgebliches und Unmaßgebliches

einmal von denen, die den Inhalt der in Reval gepflognen vertraulichen Gespräche
genau kennen.

Von dem Verlauf der Ereignisse in den bestimmten, gegenwärtig schwebenden
Fragen, die wir hier erwähnt haben, wird es abhängen, wie sich die politischen
Folgen der Revaler Zusammenkunft weiter gestalten. Wir haben oft genug fest¬
gestellt, daß die Richtung der englischen Politik, die ihre letzte Betätigung in Reval
gefunden hat, die natürliche Folgerung aus der politischen Lage Englands ist und
durchaus keine Spitze gegen Deutschland zu kehren braucht, daß es deshalb weder
zweckmäßig noch unser würdig ist, wenn die Sprachrohre unsrer öffentlichen Meinung
aus einem oberflächlichen Eindruck heraus alles, was von Angstmeierei, Nervosität
und Nörgelsucht bei uns vorhanden ist, zusammenrufen, und ohne auch nur einiger¬
maßen ausreichend orientiert zu sein, die Leitung unsrer auswärtigen Politik öffent¬
lich der Unfähigkeit zeihen. Wenn als Scheinbeweis für die Berechtigung solcher
Ausfassung triumphierend die Frage gestellt wird, warum denn Deutschland die
einzige Großmacht sei, mit der England neuerdings keine besondern politischen Ab¬
machungen — das Nordseeabkommen zählt hier wohl nicht mit — getroffen habe,
so kann man die Antwort darauf sehr kurz und prägnant fassen: „Weil Deutschland
weder Mittelmeermacht noch asiatische Macht ist." Deutschland ist gar nicht in der
Lage, mit England einen Vertrag abzuschließen, der direkt zur Sicherung der Stellung
Englands in Indien oder auf dem Wege nach Indien dienen könnte. Das ist
aber gerade das, was für die weltpolitischen Maßnahmen Englands entscheidend ist.

Andrerseits haben wir wiederholt betont, daß diese Politik Englands aller¬
dings, um zu ihrem Ziel zu kommen, in den verschiednen Ländern die Bundes¬
genossenschaft von Strömungen hat benutzen können, die von starker Feindseligkeit
gegen Deutschland erfüllt sind, und die, wenn auch zunächst nur aus Liebhaberei
und auf clare Verantwortung, den Traum weiterspinnen, man könne einen Ring
sämtlicher Mächte um Deutschland bilden und diese große Zentralmacht Europas
einschüchtern und niederhalten. Eine weitere Ermutigung und ein Scheinerfolg
dieser Richtungen könnte sehr wohl die Meinung unterstützen, daß die Demütigung
Deutschlands eine Frucht sei, die England bei der Verfolgung seiner Hauptziele
ganz bequem nebenbei einheimsen könne. Eine solche Ermutigung sehen wir nun
freilich darin, daß die öffentliche Meinung Deutschlands, so wie sie sich dem Aus¬
lande in der Mehrheit seiner Presse darstellt, bei jedem Schritt des Königs von
England die Rolle des Gekränkten, Geschädigten und Beiseitegeschobnen spielt und
in beständiger Verärgerung dem Auslande die Versicherung in die Ohren schreit,
unsre Diplomatie tauge gar nichts, und alles, was sie tue, sei eine Kette von Nieder¬
lagen der deutschen Politik. Es ist doch klar, daß ein Heer, das sich selbst be¬
ständig für geschlagen erklärt, zuletzt wirklich geschlagen wird. Dürfen wir uns
Wundern, wenn im Auslande die Meinung aufkommt, die verschiednen internationalen
Abmachungen der letzten Zeit könnten vielleicht doch die Einschüchterung Deutsch¬
lands gelingen lassen? Unsre Sicherheit und die Erfolge unsrer Politik beruhen
darauf, daß wir dem Auslande die Überzeugung beibringen, daß eine solche Ein¬
schüchterung schlechterdings unmöglich ist, weil wir an unsrer Rüstung ohne Unterlaß
Pflichttreu gearbeitet haben und uus darum mit einiger Ruhe auf unsre Kraft ver¬
lassen können. Um gegen eine solche gesammelte Kraft eine feindliche Koalition
zusammenzubringen und wirksam zu machen, dazu gehört eine ganz andre Einheit
der Interessen, als sie bei den an unsrer „Einkreisung" tätigen Mächten günstigsten¬
falls vorhanden sein kann. Das dem Auslande überall zum Bewußtsein zu bringen,
ist eine Aufgabe unsrer Diplomatie, die durch das törichte Geschrei unsrer eignen
Presse über angebliche Fehler in der auswärtigen Politik nur erschwert wird.


Grenzboten II 1903 75
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[0593] Maßgebliches und Unmaßgebliches einmal von denen, die den Inhalt der in Reval gepflognen vertraulichen Gespräche genau kennen. Von dem Verlauf der Ereignisse in den bestimmten, gegenwärtig schwebenden Fragen, die wir hier erwähnt haben, wird es abhängen, wie sich die politischen Folgen der Revaler Zusammenkunft weiter gestalten. Wir haben oft genug fest¬ gestellt, daß die Richtung der englischen Politik, die ihre letzte Betätigung in Reval gefunden hat, die natürliche Folgerung aus der politischen Lage Englands ist und durchaus keine Spitze gegen Deutschland zu kehren braucht, daß es deshalb weder zweckmäßig noch unser würdig ist, wenn die Sprachrohre unsrer öffentlichen Meinung aus einem oberflächlichen Eindruck heraus alles, was von Angstmeierei, Nervosität und Nörgelsucht bei uns vorhanden ist, zusammenrufen, und ohne auch nur einiger¬ maßen ausreichend orientiert zu sein, die Leitung unsrer auswärtigen Politik öffent¬ lich der Unfähigkeit zeihen. Wenn als Scheinbeweis für die Berechtigung solcher Ausfassung triumphierend die Frage gestellt wird, warum denn Deutschland die einzige Großmacht sei, mit der England neuerdings keine besondern politischen Ab¬ machungen — das Nordseeabkommen zählt hier wohl nicht mit — getroffen habe, so kann man die Antwort darauf sehr kurz und prägnant fassen: „Weil Deutschland weder Mittelmeermacht noch asiatische Macht ist." Deutschland ist gar nicht in der Lage, mit England einen Vertrag abzuschließen, der direkt zur Sicherung der Stellung Englands in Indien oder auf dem Wege nach Indien dienen könnte. Das ist aber gerade das, was für die weltpolitischen Maßnahmen Englands entscheidend ist. Andrerseits haben wir wiederholt betont, daß diese Politik Englands aller¬ dings, um zu ihrem Ziel zu kommen, in den verschiednen Ländern die Bundes¬ genossenschaft von Strömungen hat benutzen können, die von starker Feindseligkeit gegen Deutschland erfüllt sind, und die, wenn auch zunächst nur aus Liebhaberei und auf clare Verantwortung, den Traum weiterspinnen, man könne einen Ring sämtlicher Mächte um Deutschland bilden und diese große Zentralmacht Europas einschüchtern und niederhalten. Eine weitere Ermutigung und ein Scheinerfolg dieser Richtungen könnte sehr wohl die Meinung unterstützen, daß die Demütigung Deutschlands eine Frucht sei, die England bei der Verfolgung seiner Hauptziele ganz bequem nebenbei einheimsen könne. Eine solche Ermutigung sehen wir nun freilich darin, daß die öffentliche Meinung Deutschlands, so wie sie sich dem Aus¬ lande in der Mehrheit seiner Presse darstellt, bei jedem Schritt des Königs von England die Rolle des Gekränkten, Geschädigten und Beiseitegeschobnen spielt und in beständiger Verärgerung dem Auslande die Versicherung in die Ohren schreit, unsre Diplomatie tauge gar nichts, und alles, was sie tue, sei eine Kette von Nieder¬ lagen der deutschen Politik. Es ist doch klar, daß ein Heer, das sich selbst be¬ ständig für geschlagen erklärt, zuletzt wirklich geschlagen wird. Dürfen wir uns Wundern, wenn im Auslande die Meinung aufkommt, die verschiednen internationalen Abmachungen der letzten Zeit könnten vielleicht doch die Einschüchterung Deutsch¬ lands gelingen lassen? Unsre Sicherheit und die Erfolge unsrer Politik beruhen darauf, daß wir dem Auslande die Überzeugung beibringen, daß eine solche Ein¬ schüchterung schlechterdings unmöglich ist, weil wir an unsrer Rüstung ohne Unterlaß Pflichttreu gearbeitet haben und uus darum mit einiger Ruhe auf unsre Kraft ver¬ lassen können. Um gegen eine solche gesammelte Kraft eine feindliche Koalition zusammenzubringen und wirksam zu machen, dazu gehört eine ganz andre Einheit der Interessen, als sie bei den an unsrer „Einkreisung" tätigen Mächten günstigsten¬ falls vorhanden sein kann. Das dem Auslande überall zum Bewußtsein zu bringen, ist eine Aufgabe unsrer Diplomatie, die durch das törichte Geschrei unsrer eignen Presse über angebliche Fehler in der auswärtigen Politik nur erschwert wird. Grenzboten II 1903 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/593>, abgerufen am 31.10.2024.