Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Englische Eigenart

einem Zoll Cambridger Wurst oder sogar aus ein paar Unzen Kuttelfleck als
aus einem halben Zentner der vortrefflichsten Linsen.

Ich aß einmal in einem kleinen Restaurant in London zu Mittag. Da
kam ein junger Mann in sonntäglicher Kleidung herein, offenbar ein Arbeiter,
und setzte sich an den Tisch neben mir. Ich merkte sogleich, daß er sich nicht
zu Hause fühlte; das große Zimmer und der gedeckte Tisch waren ihm unbe¬
haglich. Den Kellner, der ihm die Speisekarte gab, schaute er ganz verdutzt
an. Ein unerwarteter Glückszufall mochte ihn verleitet haben, zum erstenmal
in seinem Leben ein so vornehmes Lokal zu betreten. Jetzt war er da und
wünschte sich gewiß gleich wieder auf die Straße hinaus. Doch er sah ein,
er müsse bleiben. So bestellte er denn ein Beefsteak mit Gemüse. Als ihm
das Gericht hingestellt war, wußte der arme Kerl gar nicht, was er damit an¬
fangen sollte. Die Menge von Gabeln und Messern, die verschiednen Flaschen
mit Saucen und Sensen, vor allem die vielen Menschen, die nicht zu seiner
Klasse gehörten, und das Bedientwerden von einem eleganten Herrn mit aus-
geschnittner Weste brachten ihn in die peinlichste Verlegenheit. Er wurde rot
bis hinter die Ohren; er machte auf die ungeschickteste Weise vergebliche Ver¬
suche, die Speisen auf seinen Teller zu legen. Die herrlichste Mahlzeit stand
vor ihm, aber sie blieb ihm, einem wahren Tantalus, unergreifbar entrückt.
Da faßte er rasch einen Entschluß. Er nahm sein Taschentuch, breitete es auf
dem Tisch aus und verpackte darin das Fleisch. Den Kellner, der ihm ein
paar freundliche Worte zuflüsterte, brummte er ärgerlich an und fragte kurz,
was er schuldig sei. Nachdem er das Geld hingeworfen, stürzte er, das Opfer
einer mißglückter Vornehmtuerei, zur Tür hinaus, um anderswo sein Mahl in
Gemütsruhe zu verzehren.

Diese Szene wirft ein grelles und wenig erfreuliches Licht auf die Kluft,
die unsre sozialen Schichten trennt. Kann so etwas irgendwo anders als in
England passieren? Ich möchte es bezweifeln. Der arme Tropf war an¬
ständig gekleidet; Hütte er sich ein wenig zusammengenommen, er hätte, ohne
im mindesten beachtet zu werden, ruhig essen können. Die Volksschicht, zu der
er gehört, zeichnet sich vor allen übrigen Volksschichten der Welt durch ange-
borne Plumpheit aus, durch die Unfähigkeit, sich außergewöhnlichen Umständen
anzupassen. Der Engländer der niedern Stände sollte sich durch bestimmte
hervorragende Charaktereigenschaften hervortun, damit er seine vielen übrigen
Mängel verdenke.

In einem Wirtshaus im Norden hörte ich einem Gespräche zu, das drei
Männer über die vernünftigste Ernährungsweise führten. Alle stimmten darin
überein, daß man zu viel Fleisch esse. Einer meinte sogar, er würde am
liebsten nur von Gemüsen und Früchten leben. "Jawohl, sagte er, ihr könnt
es mir glauben oder nicht, mein Frühstück besteht manchmal nur aus Äpfeln."
Die andern schwiegen dazu; sie wußten offenbar nicht, wie das möglich sein
könnte. Jener aber schrie: "Wahr ists; ich esse zum Frühstück mindestens zwei
bis drei Pfund Äpfel!"


Englische Eigenart

einem Zoll Cambridger Wurst oder sogar aus ein paar Unzen Kuttelfleck als
aus einem halben Zentner der vortrefflichsten Linsen.

Ich aß einmal in einem kleinen Restaurant in London zu Mittag. Da
kam ein junger Mann in sonntäglicher Kleidung herein, offenbar ein Arbeiter,
und setzte sich an den Tisch neben mir. Ich merkte sogleich, daß er sich nicht
zu Hause fühlte; das große Zimmer und der gedeckte Tisch waren ihm unbe¬
haglich. Den Kellner, der ihm die Speisekarte gab, schaute er ganz verdutzt
an. Ein unerwarteter Glückszufall mochte ihn verleitet haben, zum erstenmal
in seinem Leben ein so vornehmes Lokal zu betreten. Jetzt war er da und
wünschte sich gewiß gleich wieder auf die Straße hinaus. Doch er sah ein,
er müsse bleiben. So bestellte er denn ein Beefsteak mit Gemüse. Als ihm
das Gericht hingestellt war, wußte der arme Kerl gar nicht, was er damit an¬
fangen sollte. Die Menge von Gabeln und Messern, die verschiednen Flaschen
mit Saucen und Sensen, vor allem die vielen Menschen, die nicht zu seiner
Klasse gehörten, und das Bedientwerden von einem eleganten Herrn mit aus-
geschnittner Weste brachten ihn in die peinlichste Verlegenheit. Er wurde rot
bis hinter die Ohren; er machte auf die ungeschickteste Weise vergebliche Ver¬
suche, die Speisen auf seinen Teller zu legen. Die herrlichste Mahlzeit stand
vor ihm, aber sie blieb ihm, einem wahren Tantalus, unergreifbar entrückt.
Da faßte er rasch einen Entschluß. Er nahm sein Taschentuch, breitete es auf
dem Tisch aus und verpackte darin das Fleisch. Den Kellner, der ihm ein
paar freundliche Worte zuflüsterte, brummte er ärgerlich an und fragte kurz,
was er schuldig sei. Nachdem er das Geld hingeworfen, stürzte er, das Opfer
einer mißglückter Vornehmtuerei, zur Tür hinaus, um anderswo sein Mahl in
Gemütsruhe zu verzehren.

Diese Szene wirft ein grelles und wenig erfreuliches Licht auf die Kluft,
die unsre sozialen Schichten trennt. Kann so etwas irgendwo anders als in
England passieren? Ich möchte es bezweifeln. Der arme Tropf war an¬
ständig gekleidet; Hütte er sich ein wenig zusammengenommen, er hätte, ohne
im mindesten beachtet zu werden, ruhig essen können. Die Volksschicht, zu der
er gehört, zeichnet sich vor allen übrigen Volksschichten der Welt durch ange-
borne Plumpheit aus, durch die Unfähigkeit, sich außergewöhnlichen Umständen
anzupassen. Der Engländer der niedern Stände sollte sich durch bestimmte
hervorragende Charaktereigenschaften hervortun, damit er seine vielen übrigen
Mängel verdenke.

In einem Wirtshaus im Norden hörte ich einem Gespräche zu, das drei
Männer über die vernünftigste Ernährungsweise führten. Alle stimmten darin
überein, daß man zu viel Fleisch esse. Einer meinte sogar, er würde am
liebsten nur von Gemüsen und Früchten leben. „Jawohl, sagte er, ihr könnt
es mir glauben oder nicht, mein Frühstück besteht manchmal nur aus Äpfeln."
Die andern schwiegen dazu; sie wußten offenbar nicht, wie das möglich sein
könnte. Jener aber schrie: „Wahr ists; ich esse zum Frühstück mindestens zwei
bis drei Pfund Äpfel!"


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313872"/>
          <fw type="header" place="top"> Englische Eigenart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_659" prev="#ID_658"> einem Zoll Cambridger Wurst oder sogar aus ein paar Unzen Kuttelfleck als<lb/>
aus einem halben Zentner der vortrefflichsten Linsen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_660"> Ich aß einmal in einem kleinen Restaurant in London zu Mittag. Da<lb/>
kam ein junger Mann in sonntäglicher Kleidung herein, offenbar ein Arbeiter,<lb/>
und setzte sich an den Tisch neben mir. Ich merkte sogleich, daß er sich nicht<lb/>
zu Hause fühlte; das große Zimmer und der gedeckte Tisch waren ihm unbe¬<lb/>
haglich. Den Kellner, der ihm die Speisekarte gab, schaute er ganz verdutzt<lb/>
an. Ein unerwarteter Glückszufall mochte ihn verleitet haben, zum erstenmal<lb/>
in seinem Leben ein so vornehmes Lokal zu betreten. Jetzt war er da und<lb/>
wünschte sich gewiß gleich wieder auf die Straße hinaus. Doch er sah ein,<lb/>
er müsse bleiben. So bestellte er denn ein Beefsteak mit Gemüse. Als ihm<lb/>
das Gericht hingestellt war, wußte der arme Kerl gar nicht, was er damit an¬<lb/>
fangen sollte. Die Menge von Gabeln und Messern, die verschiednen Flaschen<lb/>
mit Saucen und Sensen, vor allem die vielen Menschen, die nicht zu seiner<lb/>
Klasse gehörten, und das Bedientwerden von einem eleganten Herrn mit aus-<lb/>
geschnittner Weste brachten ihn in die peinlichste Verlegenheit. Er wurde rot<lb/>
bis hinter die Ohren; er machte auf die ungeschickteste Weise vergebliche Ver¬<lb/>
suche, die Speisen auf seinen Teller zu legen. Die herrlichste Mahlzeit stand<lb/>
vor ihm, aber sie blieb ihm, einem wahren Tantalus, unergreifbar entrückt.<lb/>
Da faßte er rasch einen Entschluß. Er nahm sein Taschentuch, breitete es auf<lb/>
dem Tisch aus und verpackte darin das Fleisch. Den Kellner, der ihm ein<lb/>
paar freundliche Worte zuflüsterte, brummte er ärgerlich an und fragte kurz,<lb/>
was er schuldig sei. Nachdem er das Geld hingeworfen, stürzte er, das Opfer<lb/>
einer mißglückter Vornehmtuerei, zur Tür hinaus, um anderswo sein Mahl in<lb/>
Gemütsruhe zu verzehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_661"> Diese Szene wirft ein grelles und wenig erfreuliches Licht auf die Kluft,<lb/>
die unsre sozialen Schichten trennt. Kann so etwas irgendwo anders als in<lb/>
England passieren? Ich möchte es bezweifeln. Der arme Tropf war an¬<lb/>
ständig gekleidet; Hütte er sich ein wenig zusammengenommen, er hätte, ohne<lb/>
im mindesten beachtet zu werden, ruhig essen können. Die Volksschicht, zu der<lb/>
er gehört, zeichnet sich vor allen übrigen Volksschichten der Welt durch ange-<lb/>
borne Plumpheit aus, durch die Unfähigkeit, sich außergewöhnlichen Umständen<lb/>
anzupassen. Der Engländer der niedern Stände sollte sich durch bestimmte<lb/>
hervorragende Charaktereigenschaften hervortun, damit er seine vielen übrigen<lb/>
Mängel verdenke.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_662"> In einem Wirtshaus im Norden hörte ich einem Gespräche zu, das drei<lb/>
Männer über die vernünftigste Ernährungsweise führten. Alle stimmten darin<lb/>
überein, daß man zu viel Fleisch esse. Einer meinte sogar, er würde am<lb/>
liebsten nur von Gemüsen und Früchten leben. &#x201E;Jawohl, sagte er, ihr könnt<lb/>
es mir glauben oder nicht, mein Frühstück besteht manchmal nur aus Äpfeln."<lb/>
Die andern schwiegen dazu; sie wußten offenbar nicht, wie das möglich sein<lb/>
könnte. Jener aber schrie: &#x201E;Wahr ists; ich esse zum Frühstück mindestens zwei<lb/>
bis drei Pfund Äpfel!"</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Englische Eigenart einem Zoll Cambridger Wurst oder sogar aus ein paar Unzen Kuttelfleck als aus einem halben Zentner der vortrefflichsten Linsen. Ich aß einmal in einem kleinen Restaurant in London zu Mittag. Da kam ein junger Mann in sonntäglicher Kleidung herein, offenbar ein Arbeiter, und setzte sich an den Tisch neben mir. Ich merkte sogleich, daß er sich nicht zu Hause fühlte; das große Zimmer und der gedeckte Tisch waren ihm unbe¬ haglich. Den Kellner, der ihm die Speisekarte gab, schaute er ganz verdutzt an. Ein unerwarteter Glückszufall mochte ihn verleitet haben, zum erstenmal in seinem Leben ein so vornehmes Lokal zu betreten. Jetzt war er da und wünschte sich gewiß gleich wieder auf die Straße hinaus. Doch er sah ein, er müsse bleiben. So bestellte er denn ein Beefsteak mit Gemüse. Als ihm das Gericht hingestellt war, wußte der arme Kerl gar nicht, was er damit an¬ fangen sollte. Die Menge von Gabeln und Messern, die verschiednen Flaschen mit Saucen und Sensen, vor allem die vielen Menschen, die nicht zu seiner Klasse gehörten, und das Bedientwerden von einem eleganten Herrn mit aus- geschnittner Weste brachten ihn in die peinlichste Verlegenheit. Er wurde rot bis hinter die Ohren; er machte auf die ungeschickteste Weise vergebliche Ver¬ suche, die Speisen auf seinen Teller zu legen. Die herrlichste Mahlzeit stand vor ihm, aber sie blieb ihm, einem wahren Tantalus, unergreifbar entrückt. Da faßte er rasch einen Entschluß. Er nahm sein Taschentuch, breitete es auf dem Tisch aus und verpackte darin das Fleisch. Den Kellner, der ihm ein paar freundliche Worte zuflüsterte, brummte er ärgerlich an und fragte kurz, was er schuldig sei. Nachdem er das Geld hingeworfen, stürzte er, das Opfer einer mißglückter Vornehmtuerei, zur Tür hinaus, um anderswo sein Mahl in Gemütsruhe zu verzehren. Diese Szene wirft ein grelles und wenig erfreuliches Licht auf die Kluft, die unsre sozialen Schichten trennt. Kann so etwas irgendwo anders als in England passieren? Ich möchte es bezweifeln. Der arme Tropf war an¬ ständig gekleidet; Hütte er sich ein wenig zusammengenommen, er hätte, ohne im mindesten beachtet zu werden, ruhig essen können. Die Volksschicht, zu der er gehört, zeichnet sich vor allen übrigen Volksschichten der Welt durch ange- borne Plumpheit aus, durch die Unfähigkeit, sich außergewöhnlichen Umständen anzupassen. Der Engländer der niedern Stände sollte sich durch bestimmte hervorragende Charaktereigenschaften hervortun, damit er seine vielen übrigen Mängel verdenke. In einem Wirtshaus im Norden hörte ich einem Gespräche zu, das drei Männer über die vernünftigste Ernährungsweise führten. Alle stimmten darin überein, daß man zu viel Fleisch esse. Einer meinte sogar, er würde am liebsten nur von Gemüsen und Früchten leben. „Jawohl, sagte er, ihr könnt es mir glauben oder nicht, mein Frühstück besteht manchmal nur aus Äpfeln." Die andern schwiegen dazu; sie wußten offenbar nicht, wie das möglich sein könnte. Jener aber schrie: „Wahr ists; ich esse zum Frühstück mindestens zwei bis drei Pfund Äpfel!"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/169>, abgerufen am 25.05.2024.