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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Johann Friedrich von Schulte? Lebenserinnerungen

Kirche gemacht, und wir Protestierenden sind die alte Kirche, sondern: die alte
Kirche hat sich über ihr eignes Wesen getäuscht; wollen wir Christen im Sinne
des Neuen Testaments sein, so müssen wir es entweder mit einer neuen
Kirchengründung versuchen, die auf das Vermögen und die Rechtsstellung der
alten Kirche keinen Anspruch erheben kann, oder als vereinzelte Gläubige,
sozusagen als religiöse Anarchisten leben. Nur als Notbehelf, nicht als "die
wahre alte katholische Kirche", ist die Altkatholikengemeinschaft zu rechtfertigen.
Daß dieselbe deutsche Wissenschaft, die in Rom für anrüchig galt, und deren
Vertreter später das Vatikanum bekämpften, vorher das kurialistische Gebäude
gestützt hatte, gesteht Schulte selbst; es war aber in Wirklichkeit kein bloßes
Stützen gewesen, sondern diese Männer, allen voran Döllinger, hatten den
beinahe geschwundnen Glauben ans Papsttum in Deutschland neu begründet,
wie in dem Bericht über Friedrichs Döllingerbiographie dargelegt worden ist.
Wenn es Schulte um die Aufdeckung des wirklichen historischen Zusammenhangs
zu tun gewesen wäre, hätte er das ebenfalls darstellen müssen, und an manchen
Stellen seiner Aufsätze würde sich ihm, wenn er unbefangner wäre, die
Verpflichtung, es zu tun, geradezu aufgedrängt haben, zum Beispiel Seite 233
des dritten Bandes, wo er die Männer des Münchner Kreises nennt und
Döllingers "Reformation" erwähnt, ein Werk, "das noch heute ihm von
protestantischer Seite vielfach nicht verziehen wird".

Der Mensch wird im Handeln nie von einem einzelnen Motiv allein be¬
stimmt, am allerwenigsten bei gemeinsamem Handeln, wo ja selbstverständlich
die Schicht oder Gruppe, der man angehört, den stärksten Zwang ausübt.
Für das Verhalten in religiöser Beziehung mischen sich, von grob materiellen
selbstsüchtigen Motiven wie Aussicht auf Geldgewinn oder Furcht vor Verlust
ganz abgesehen, den bestimmenden religiösen Interessen mancherlei soziale und
politische bei, die ihrer Natur nach Masseninteressen und darum von zwingender
Macht sind. Schulte hat einige davon behandelt. Ein sehr wichtiges und
wirksames nur sehr kurz: das der Parität. Er erwähnt "Das rote Buch",
eine katholische Agitationsschrift, die 1884 in München erschien. Er weist ihr
Übertreibungen, Entstellungen und Lügen nach, bemerkt jedoch in Beziehung
auf die Imparität, die darin gerügt wird: "Die Klage der Katholiken, bei
der Besetzung aller einflußreichen Stellen in der Staatsverwaltung auch cÄöwris
xg-ribus den Evangelischen gegenüber zurückgesetzt zu sein, die allgemeine An¬
sicht, daß von Staats wegen verhältnismäßig viel mehr für den Unterricht
der Evangelischen als für den der Katholiken hergegeben werde, war bis auf
das letzte Jahrzehnt Pas heißt die sechziger Jahre) nicht unbegründet. Es
läßt sich nicht bestreiten, daß >darum) die Regierung, bevor 1870 der große
Riß in der katholischen Kirche offner hervortrat, bei einem Konflikte auf die
Mitwirkung und Sympathie nur sehr weniger Katholiken rechnen konnte. Es
ist Tatsache, daß damals fast ausnahmslos die katholischen Schriftsteller für
die weitgehendsten "Rechte der Kirche" eintraten, weil bei ihnen die Über-


Johann Friedrich von Schulte? Lebenserinnerungen

Kirche gemacht, und wir Protestierenden sind die alte Kirche, sondern: die alte
Kirche hat sich über ihr eignes Wesen getäuscht; wollen wir Christen im Sinne
des Neuen Testaments sein, so müssen wir es entweder mit einer neuen
Kirchengründung versuchen, die auf das Vermögen und die Rechtsstellung der
alten Kirche keinen Anspruch erheben kann, oder als vereinzelte Gläubige,
sozusagen als religiöse Anarchisten leben. Nur als Notbehelf, nicht als „die
wahre alte katholische Kirche", ist die Altkatholikengemeinschaft zu rechtfertigen.
Daß dieselbe deutsche Wissenschaft, die in Rom für anrüchig galt, und deren
Vertreter später das Vatikanum bekämpften, vorher das kurialistische Gebäude
gestützt hatte, gesteht Schulte selbst; es war aber in Wirklichkeit kein bloßes
Stützen gewesen, sondern diese Männer, allen voran Döllinger, hatten den
beinahe geschwundnen Glauben ans Papsttum in Deutschland neu begründet,
wie in dem Bericht über Friedrichs Döllingerbiographie dargelegt worden ist.
Wenn es Schulte um die Aufdeckung des wirklichen historischen Zusammenhangs
zu tun gewesen wäre, hätte er das ebenfalls darstellen müssen, und an manchen
Stellen seiner Aufsätze würde sich ihm, wenn er unbefangner wäre, die
Verpflichtung, es zu tun, geradezu aufgedrängt haben, zum Beispiel Seite 233
des dritten Bandes, wo er die Männer des Münchner Kreises nennt und
Döllingers „Reformation" erwähnt, ein Werk, „das noch heute ihm von
protestantischer Seite vielfach nicht verziehen wird".

Der Mensch wird im Handeln nie von einem einzelnen Motiv allein be¬
stimmt, am allerwenigsten bei gemeinsamem Handeln, wo ja selbstverständlich
die Schicht oder Gruppe, der man angehört, den stärksten Zwang ausübt.
Für das Verhalten in religiöser Beziehung mischen sich, von grob materiellen
selbstsüchtigen Motiven wie Aussicht auf Geldgewinn oder Furcht vor Verlust
ganz abgesehen, den bestimmenden religiösen Interessen mancherlei soziale und
politische bei, die ihrer Natur nach Masseninteressen und darum von zwingender
Macht sind. Schulte hat einige davon behandelt. Ein sehr wichtiges und
wirksames nur sehr kurz: das der Parität. Er erwähnt „Das rote Buch",
eine katholische Agitationsschrift, die 1884 in München erschien. Er weist ihr
Übertreibungen, Entstellungen und Lügen nach, bemerkt jedoch in Beziehung
auf die Imparität, die darin gerügt wird: „Die Klage der Katholiken, bei
der Besetzung aller einflußreichen Stellen in der Staatsverwaltung auch cÄöwris
xg-ribus den Evangelischen gegenüber zurückgesetzt zu sein, die allgemeine An¬
sicht, daß von Staats wegen verhältnismäßig viel mehr für den Unterricht
der Evangelischen als für den der Katholiken hergegeben werde, war bis auf
das letzte Jahrzehnt Pas heißt die sechziger Jahre) nicht unbegründet. Es
läßt sich nicht bestreiten, daß >darum) die Regierung, bevor 1870 der große
Riß in der katholischen Kirche offner hervortrat, bei einem Konflikte auf die
Mitwirkung und Sympathie nur sehr weniger Katholiken rechnen konnte. Es
ist Tatsache, daß damals fast ausnahmslos die katholischen Schriftsteller für
die weitgehendsten »Rechte der Kirche« eintraten, weil bei ihnen die Über-


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[0320] Johann Friedrich von Schulte? Lebenserinnerungen Kirche gemacht, und wir Protestierenden sind die alte Kirche, sondern: die alte Kirche hat sich über ihr eignes Wesen getäuscht; wollen wir Christen im Sinne des Neuen Testaments sein, so müssen wir es entweder mit einer neuen Kirchengründung versuchen, die auf das Vermögen und die Rechtsstellung der alten Kirche keinen Anspruch erheben kann, oder als vereinzelte Gläubige, sozusagen als religiöse Anarchisten leben. Nur als Notbehelf, nicht als „die wahre alte katholische Kirche", ist die Altkatholikengemeinschaft zu rechtfertigen. Daß dieselbe deutsche Wissenschaft, die in Rom für anrüchig galt, und deren Vertreter später das Vatikanum bekämpften, vorher das kurialistische Gebäude gestützt hatte, gesteht Schulte selbst; es war aber in Wirklichkeit kein bloßes Stützen gewesen, sondern diese Männer, allen voran Döllinger, hatten den beinahe geschwundnen Glauben ans Papsttum in Deutschland neu begründet, wie in dem Bericht über Friedrichs Döllingerbiographie dargelegt worden ist. Wenn es Schulte um die Aufdeckung des wirklichen historischen Zusammenhangs zu tun gewesen wäre, hätte er das ebenfalls darstellen müssen, und an manchen Stellen seiner Aufsätze würde sich ihm, wenn er unbefangner wäre, die Verpflichtung, es zu tun, geradezu aufgedrängt haben, zum Beispiel Seite 233 des dritten Bandes, wo er die Männer des Münchner Kreises nennt und Döllingers „Reformation" erwähnt, ein Werk, „das noch heute ihm von protestantischer Seite vielfach nicht verziehen wird". Der Mensch wird im Handeln nie von einem einzelnen Motiv allein be¬ stimmt, am allerwenigsten bei gemeinsamem Handeln, wo ja selbstverständlich die Schicht oder Gruppe, der man angehört, den stärksten Zwang ausübt. Für das Verhalten in religiöser Beziehung mischen sich, von grob materiellen selbstsüchtigen Motiven wie Aussicht auf Geldgewinn oder Furcht vor Verlust ganz abgesehen, den bestimmenden religiösen Interessen mancherlei soziale und politische bei, die ihrer Natur nach Masseninteressen und darum von zwingender Macht sind. Schulte hat einige davon behandelt. Ein sehr wichtiges und wirksames nur sehr kurz: das der Parität. Er erwähnt „Das rote Buch", eine katholische Agitationsschrift, die 1884 in München erschien. Er weist ihr Übertreibungen, Entstellungen und Lügen nach, bemerkt jedoch in Beziehung auf die Imparität, die darin gerügt wird: „Die Klage der Katholiken, bei der Besetzung aller einflußreichen Stellen in der Staatsverwaltung auch cÄöwris xg-ribus den Evangelischen gegenüber zurückgesetzt zu sein, die allgemeine An¬ sicht, daß von Staats wegen verhältnismäßig viel mehr für den Unterricht der Evangelischen als für den der Katholiken hergegeben werde, war bis auf das letzte Jahrzehnt Pas heißt die sechziger Jahre) nicht unbegründet. Es läßt sich nicht bestreiten, daß >darum) die Regierung, bevor 1870 der große Riß in der katholischen Kirche offner hervortrat, bei einem Konflikte auf die Mitwirkung und Sympathie nur sehr weniger Katholiken rechnen konnte. Es ist Tatsache, daß damals fast ausnahmslos die katholischen Schriftsteller für die weitgehendsten »Rechte der Kirche« eintraten, weil bei ihnen die Über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/320>, abgerufen am 27.05.2024.