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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch-schwäbische Grenzwanderungen

Jerusalem. Ich setze mich in einen stillen Wirtsgarten, die Stadt immer vor
Augen. Der Wirt bringt Chroniken und Beschreibungen mit verblichnen
Bildern herbei. Wissen und Nichtwissen haben hier ein gleiches Recht auf
Genuß. Und wer braucht hier Chroniken, um zu wissen? Ich mag geschichts-
fremden Sinnes nur mit den Augen schauen, es dauert nicht lange, so fangen
die Türme und Mauern zu reden an, und ich kann ihrer Sprache nicht
Schweigen gebieten. Und während sie reden, lebe ich Vergangnes durch, Ver¬
gangnes aus vielen Jahrhunderten. Sie reden von blutigen Fehden zwischen
Reichsstädtern und Adligen, von erstarkenden Bürgertum, von Handel und
Reichtum, vom Einzug des Kaisers und von prächtigen Festen, von Blut¬
gerichten auf dem Markte, von Mönchstum und Pilgerwesen und Ratsintrigen,
sie reden von Pest und Bauernkrieg, von Bildersturm und Reformation, von
Belagerung und Verteidigung, von Einnahme und Kontribution, von Ohn¬
macht und Spießbürgertum, von Schlummer und Erwachen.

Menschen und Menschengeschlechter ohne Zahl zogen wie Ströme durch
diese Bauten aus Stein und Holz, bildend oder umgestaltend, niederreißend
oder erhaltend und erneuernd. Unberühmt oder doch rasch vergessen, ver¬
schwanden sie nach kurzem Verweilen im Dunkel, namenlos. Nur ein starrer
Ausdruck ihres Wesens blieb. Wenige, die Bedeutendsten, hinterließen den
Nachfahren und Fremden noch mehr: den Namen und die Ahnung ihrer Persön¬
lichkeit. Man braucht erst wenige Stunden Rothenburgs Gast zu sein, und
es klingt einem, wenn man aufzumerken weiß, von verschiednen Stellen ein
Name entgegen, den man vielleicht bisher noch nie gehört hat, aus stattlichen
Bürgerhäusern, aus der Dümmerstille des Kirchenschiffs, aus dem Mühlental,
aus den Büchern alter und neuer Zeit, in denen man blättert. Das ist der
Name Heinrich Topplers, des Bürgermeisters. Unweit von meinem Gartensitz
entfernt, steht sein weißes Schlößchen, das Topplerschlößchen, im abenddunkeln
Lindengrün. Ein wunderlicher Bau des vierzehnten Jahrhunderts, halb Burg,
halb spitzgiebliges Bürgerhaus mit Zugbrücke und Graben. Auf würfelförmigen,
steinernem Unterbau ruhen die Geschosse, nach allen vier Seiten überstehend,
mit wenigen großen und kleinen, unregelmäßig verteilten Fenstern. Ich höre
es auch den Kaiserstuhl nennen. Ein Kaiser ist hier einst des Bürgermeisters
Gast gewesen. Ich schlage nun doch die Bücher auf. Ein dämonischer, ge¬
walttätiger, listiger Mann tritt mir entgegen, dessen Geist doch alle überragte.
Ein Meister der Stadt, der sie mit fortriß zur Macht, und der doch an seinem
Wesen zugrunde ging. Ich lese, wie er von den Ratsmitgliedern wegen Ver¬
rath gefangen gesetzt wurde, wie über sein gewaltsames Verschwinden Sagen
entstanden, die noch heute umgehn. Einen Renaissaneeinenschen nennt ihn das
eine Buch und vergleicht ihn den Mediceern. Das andre beschwört den tra¬
gischen Schatten Marino Falieris, des venezianischen Dogen. Weite Gedanken¬
gänge spinnen sich an solche Vergleiche an, Gedanken über den Parallelismus
bürgerlicher Entwicklungen, über Schuld und Drama der Größe.


Fränkisch-schwäbische Grenzwanderungen

Jerusalem. Ich setze mich in einen stillen Wirtsgarten, die Stadt immer vor
Augen. Der Wirt bringt Chroniken und Beschreibungen mit verblichnen
Bildern herbei. Wissen und Nichtwissen haben hier ein gleiches Recht auf
Genuß. Und wer braucht hier Chroniken, um zu wissen? Ich mag geschichts-
fremden Sinnes nur mit den Augen schauen, es dauert nicht lange, so fangen
die Türme und Mauern zu reden an, und ich kann ihrer Sprache nicht
Schweigen gebieten. Und während sie reden, lebe ich Vergangnes durch, Ver¬
gangnes aus vielen Jahrhunderten. Sie reden von blutigen Fehden zwischen
Reichsstädtern und Adligen, von erstarkenden Bürgertum, von Handel und
Reichtum, vom Einzug des Kaisers und von prächtigen Festen, von Blut¬
gerichten auf dem Markte, von Mönchstum und Pilgerwesen und Ratsintrigen,
sie reden von Pest und Bauernkrieg, von Bildersturm und Reformation, von
Belagerung und Verteidigung, von Einnahme und Kontribution, von Ohn¬
macht und Spießbürgertum, von Schlummer und Erwachen.

Menschen und Menschengeschlechter ohne Zahl zogen wie Ströme durch
diese Bauten aus Stein und Holz, bildend oder umgestaltend, niederreißend
oder erhaltend und erneuernd. Unberühmt oder doch rasch vergessen, ver¬
schwanden sie nach kurzem Verweilen im Dunkel, namenlos. Nur ein starrer
Ausdruck ihres Wesens blieb. Wenige, die Bedeutendsten, hinterließen den
Nachfahren und Fremden noch mehr: den Namen und die Ahnung ihrer Persön¬
lichkeit. Man braucht erst wenige Stunden Rothenburgs Gast zu sein, und
es klingt einem, wenn man aufzumerken weiß, von verschiednen Stellen ein
Name entgegen, den man vielleicht bisher noch nie gehört hat, aus stattlichen
Bürgerhäusern, aus der Dümmerstille des Kirchenschiffs, aus dem Mühlental,
aus den Büchern alter und neuer Zeit, in denen man blättert. Das ist der
Name Heinrich Topplers, des Bürgermeisters. Unweit von meinem Gartensitz
entfernt, steht sein weißes Schlößchen, das Topplerschlößchen, im abenddunkeln
Lindengrün. Ein wunderlicher Bau des vierzehnten Jahrhunderts, halb Burg,
halb spitzgiebliges Bürgerhaus mit Zugbrücke und Graben. Auf würfelförmigen,
steinernem Unterbau ruhen die Geschosse, nach allen vier Seiten überstehend,
mit wenigen großen und kleinen, unregelmäßig verteilten Fenstern. Ich höre
es auch den Kaiserstuhl nennen. Ein Kaiser ist hier einst des Bürgermeisters
Gast gewesen. Ich schlage nun doch die Bücher auf. Ein dämonischer, ge¬
walttätiger, listiger Mann tritt mir entgegen, dessen Geist doch alle überragte.
Ein Meister der Stadt, der sie mit fortriß zur Macht, und der doch an seinem
Wesen zugrunde ging. Ich lese, wie er von den Ratsmitgliedern wegen Ver¬
rath gefangen gesetzt wurde, wie über sein gewaltsames Verschwinden Sagen
entstanden, die noch heute umgehn. Einen Renaissaneeinenschen nennt ihn das
eine Buch und vergleicht ihn den Mediceern. Das andre beschwört den tra¬
gischen Schatten Marino Falieris, des venezianischen Dogen. Weite Gedanken¬
gänge spinnen sich an solche Vergleiche an, Gedanken über den Parallelismus
bürgerlicher Entwicklungen, über Schuld und Drama der Größe.


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[0382] Fränkisch-schwäbische Grenzwanderungen Jerusalem. Ich setze mich in einen stillen Wirtsgarten, die Stadt immer vor Augen. Der Wirt bringt Chroniken und Beschreibungen mit verblichnen Bildern herbei. Wissen und Nichtwissen haben hier ein gleiches Recht auf Genuß. Und wer braucht hier Chroniken, um zu wissen? Ich mag geschichts- fremden Sinnes nur mit den Augen schauen, es dauert nicht lange, so fangen die Türme und Mauern zu reden an, und ich kann ihrer Sprache nicht Schweigen gebieten. Und während sie reden, lebe ich Vergangnes durch, Ver¬ gangnes aus vielen Jahrhunderten. Sie reden von blutigen Fehden zwischen Reichsstädtern und Adligen, von erstarkenden Bürgertum, von Handel und Reichtum, vom Einzug des Kaisers und von prächtigen Festen, von Blut¬ gerichten auf dem Markte, von Mönchstum und Pilgerwesen und Ratsintrigen, sie reden von Pest und Bauernkrieg, von Bildersturm und Reformation, von Belagerung und Verteidigung, von Einnahme und Kontribution, von Ohn¬ macht und Spießbürgertum, von Schlummer und Erwachen. Menschen und Menschengeschlechter ohne Zahl zogen wie Ströme durch diese Bauten aus Stein und Holz, bildend oder umgestaltend, niederreißend oder erhaltend und erneuernd. Unberühmt oder doch rasch vergessen, ver¬ schwanden sie nach kurzem Verweilen im Dunkel, namenlos. Nur ein starrer Ausdruck ihres Wesens blieb. Wenige, die Bedeutendsten, hinterließen den Nachfahren und Fremden noch mehr: den Namen und die Ahnung ihrer Persön¬ lichkeit. Man braucht erst wenige Stunden Rothenburgs Gast zu sein, und es klingt einem, wenn man aufzumerken weiß, von verschiednen Stellen ein Name entgegen, den man vielleicht bisher noch nie gehört hat, aus stattlichen Bürgerhäusern, aus der Dümmerstille des Kirchenschiffs, aus dem Mühlental, aus den Büchern alter und neuer Zeit, in denen man blättert. Das ist der Name Heinrich Topplers, des Bürgermeisters. Unweit von meinem Gartensitz entfernt, steht sein weißes Schlößchen, das Topplerschlößchen, im abenddunkeln Lindengrün. Ein wunderlicher Bau des vierzehnten Jahrhunderts, halb Burg, halb spitzgiebliges Bürgerhaus mit Zugbrücke und Graben. Auf würfelförmigen, steinernem Unterbau ruhen die Geschosse, nach allen vier Seiten überstehend, mit wenigen großen und kleinen, unregelmäßig verteilten Fenstern. Ich höre es auch den Kaiserstuhl nennen. Ein Kaiser ist hier einst des Bürgermeisters Gast gewesen. Ich schlage nun doch die Bücher auf. Ein dämonischer, ge¬ walttätiger, listiger Mann tritt mir entgegen, dessen Geist doch alle überragte. Ein Meister der Stadt, der sie mit fortriß zur Macht, und der doch an seinem Wesen zugrunde ging. Ich lese, wie er von den Ratsmitgliedern wegen Ver¬ rath gefangen gesetzt wurde, wie über sein gewaltsames Verschwinden Sagen entstanden, die noch heute umgehn. Einen Renaissaneeinenschen nennt ihn das eine Buch und vergleicht ihn den Mediceern. Das andre beschwört den tra¬ gischen Schatten Marino Falieris, des venezianischen Dogen. Weite Gedanken¬ gänge spinnen sich an solche Vergleiche an, Gedanken über den Parallelismus bürgerlicher Entwicklungen, über Schuld und Drama der Größe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/382>, abgerufen am 30.05.2024.