Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sie Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel

Es gab jetzt, seit 1832, auf der Balkanhalbinsel zwei feste Stützpunkte des
Griechentums, einen byzantinischer Herkunft in Konstantinopel und einen
Philhellenischer Herkunft im Königreich Griechenland mit seiner wiedererstandnen
Hauptstadt Athen; dort der Phanar, hier die Akropolis als Hochburgen der
nationalen Sehnsucht, ein seltsames, widerspruchsvolles Doppelideal, ein Symbol
der verschlungnen Entwicklung dieses schicksalsreichen Volkes, gefährlich durch
die verwirrende Fülle von Tradition und vergangner Größe, die sich darin
verkörpert und den Blick trüben mußte für die Aufgaben der lebendigen
Gegenwart und ihre Bedürfnisse. Der Klassizismus wie der Byzantinismus
waren beide gleich weit entfernt von dem Ideal einer modernen Nationalität
und einer modernen Kultur: in dem neugegründeten Königreich jagte man dem
Trugbilde antiker Größe nach, mit dem Beschwörungsbuch der griechischen
Grammatik in der Hand, und in Konstantinopel, im Patriarchat, saß die Gift¬
spinne, die das Netz byzantinischer Intrigen um die emanzipationslüsternen
Balkanstaaten, vor allem die Bulgaren, zu spinnen suchte. Die Altertumssucht
und die Herrschsucht verbündeten sich in den herrschenden weltlichen und geist¬
lichen Klassen -- die Phanarioten waren zahlreich nach Athen übergesiedelt --
gegen das Volk und seine wahren Interessen. Denn während es diese Interessen
dringend verlangten, daß die durch die Gründung des Königreichs in zwei
Teile zerrissene Nation*) möglichst unter sich in Fühlung blieb und außerdem
mit den übrigen unterworfnen Völkern der Türkei fest zusammenhielt, tat man
von beidem gerade das Gegenteil: man ergriff Maßregeln, die im freien
Griechenland die Nation schwachem und sie im unterworfnen Griechenland
isolierten.

Beide verkehrten Maßregeln lagen auf kirchenpolitischen- Gebiete: die eine
war die, daß die büreaukratische Regierung der Bayern im neuen Königreich
eine sogenannte autokephale, in Wirklichkeit vom Staate abhängige und vom
Patriarchat in Konstantinopel abgetrennte, eigne Kirchenverwaltung schuf, die
unter einer vom König zu ernennenden Synode steht. Damit war der staat¬
lichen Zweiteilung der Griechen eine kirchliche gefolgt, und wenn auch 1850
eine formelle Glaubenseinheit zwischen der Synode des Königreichs und dem
Patriarchat in Konstantinopel hergestellt wurde, so war damit doch die für die
nationale Sache so unentbehrliche einheitliche Organisation der griechischen
Kirche zerstört, ihre Lebensadern unterbunden. Ob es freilich richtig gewesen
wäre, die Kirche des Königreichs, wie zum Beispiel Gelzer meint, einfach dem
Patriarchat unterzuordnen, scheint bei der byzantinischen Eigenart dieser In¬
stitution und ihrer geringen Machtvollkommenheit zweifelhaft. Da die orthodoxe



*) Die Gesamtzahl der Griechen in der Türkei beträgt gegen drei Millionen. Davon
kommen etwa eine Million auf die festländische europäische Türkei (etwa 2S0000 aus Epirus,
200000 auf Mazedonien, S0000 auf die Chalzidize, 500000 auf Thrazien nebst Konstantinopel),
Million auf die Inseln des Archipels und etwa eine Million auf Kleinasien, Cypern. Syrien
und Ägypten (besonders Alexandria).
Sie Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel

Es gab jetzt, seit 1832, auf der Balkanhalbinsel zwei feste Stützpunkte des
Griechentums, einen byzantinischer Herkunft in Konstantinopel und einen
Philhellenischer Herkunft im Königreich Griechenland mit seiner wiedererstandnen
Hauptstadt Athen; dort der Phanar, hier die Akropolis als Hochburgen der
nationalen Sehnsucht, ein seltsames, widerspruchsvolles Doppelideal, ein Symbol
der verschlungnen Entwicklung dieses schicksalsreichen Volkes, gefährlich durch
die verwirrende Fülle von Tradition und vergangner Größe, die sich darin
verkörpert und den Blick trüben mußte für die Aufgaben der lebendigen
Gegenwart und ihre Bedürfnisse. Der Klassizismus wie der Byzantinismus
waren beide gleich weit entfernt von dem Ideal einer modernen Nationalität
und einer modernen Kultur: in dem neugegründeten Königreich jagte man dem
Trugbilde antiker Größe nach, mit dem Beschwörungsbuch der griechischen
Grammatik in der Hand, und in Konstantinopel, im Patriarchat, saß die Gift¬
spinne, die das Netz byzantinischer Intrigen um die emanzipationslüsternen
Balkanstaaten, vor allem die Bulgaren, zu spinnen suchte. Die Altertumssucht
und die Herrschsucht verbündeten sich in den herrschenden weltlichen und geist¬
lichen Klassen — die Phanarioten waren zahlreich nach Athen übergesiedelt —
gegen das Volk und seine wahren Interessen. Denn während es diese Interessen
dringend verlangten, daß die durch die Gründung des Königreichs in zwei
Teile zerrissene Nation*) möglichst unter sich in Fühlung blieb und außerdem
mit den übrigen unterworfnen Völkern der Türkei fest zusammenhielt, tat man
von beidem gerade das Gegenteil: man ergriff Maßregeln, die im freien
Griechenland die Nation schwachem und sie im unterworfnen Griechenland
isolierten.

Beide verkehrten Maßregeln lagen auf kirchenpolitischen- Gebiete: die eine
war die, daß die büreaukratische Regierung der Bayern im neuen Königreich
eine sogenannte autokephale, in Wirklichkeit vom Staate abhängige und vom
Patriarchat in Konstantinopel abgetrennte, eigne Kirchenverwaltung schuf, die
unter einer vom König zu ernennenden Synode steht. Damit war der staat¬
lichen Zweiteilung der Griechen eine kirchliche gefolgt, und wenn auch 1850
eine formelle Glaubenseinheit zwischen der Synode des Königreichs und dem
Patriarchat in Konstantinopel hergestellt wurde, so war damit doch die für die
nationale Sache so unentbehrliche einheitliche Organisation der griechischen
Kirche zerstört, ihre Lebensadern unterbunden. Ob es freilich richtig gewesen
wäre, die Kirche des Königreichs, wie zum Beispiel Gelzer meint, einfach dem
Patriarchat unterzuordnen, scheint bei der byzantinischen Eigenart dieser In¬
stitution und ihrer geringen Machtvollkommenheit zweifelhaft. Da die orthodoxe



*) Die Gesamtzahl der Griechen in der Türkei beträgt gegen drei Millionen. Davon
kommen etwa eine Million auf die festländische europäische Türkei (etwa 2S0000 aus Epirus,
200000 auf Mazedonien, S0000 auf die Chalzidize, 500000 auf Thrazien nebst Konstantinopel),
Million auf die Inseln des Archipels und etwa eine Million auf Kleinasien, Cypern. Syrien
und Ägypten (besonders Alexandria).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314116"/>
          <fw type="header" place="top"> Sie Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1973"> Es gab jetzt, seit 1832, auf der Balkanhalbinsel zwei feste Stützpunkte des<lb/>
Griechentums, einen byzantinischer Herkunft in Konstantinopel und einen<lb/>
Philhellenischer Herkunft im Königreich Griechenland mit seiner wiedererstandnen<lb/>
Hauptstadt Athen; dort der Phanar, hier die Akropolis als Hochburgen der<lb/>
nationalen Sehnsucht, ein seltsames, widerspruchsvolles Doppelideal, ein Symbol<lb/>
der verschlungnen Entwicklung dieses schicksalsreichen Volkes, gefährlich durch<lb/>
die verwirrende Fülle von Tradition und vergangner Größe, die sich darin<lb/>
verkörpert und den Blick trüben mußte für die Aufgaben der lebendigen<lb/>
Gegenwart und ihre Bedürfnisse. Der Klassizismus wie der Byzantinismus<lb/>
waren beide gleich weit entfernt von dem Ideal einer modernen Nationalität<lb/>
und einer modernen Kultur: in dem neugegründeten Königreich jagte man dem<lb/>
Trugbilde antiker Größe nach, mit dem Beschwörungsbuch der griechischen<lb/>
Grammatik in der Hand, und in Konstantinopel, im Patriarchat, saß die Gift¬<lb/>
spinne, die das Netz byzantinischer Intrigen um die emanzipationslüsternen<lb/>
Balkanstaaten, vor allem die Bulgaren, zu spinnen suchte. Die Altertumssucht<lb/>
und die Herrschsucht verbündeten sich in den herrschenden weltlichen und geist¬<lb/>
lichen Klassen &#x2014; die Phanarioten waren zahlreich nach Athen übergesiedelt &#x2014;<lb/>
gegen das Volk und seine wahren Interessen. Denn während es diese Interessen<lb/>
dringend verlangten, daß die durch die Gründung des Königreichs in zwei<lb/>
Teile zerrissene Nation*) möglichst unter sich in Fühlung blieb und außerdem<lb/>
mit den übrigen unterworfnen Völkern der Türkei fest zusammenhielt, tat man<lb/>
von beidem gerade das Gegenteil: man ergriff Maßregeln, die im freien<lb/>
Griechenland die Nation schwachem und sie im unterworfnen Griechenland<lb/>
isolierten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1974" next="#ID_1975"> Beide verkehrten Maßregeln lagen auf kirchenpolitischen- Gebiete: die eine<lb/>
war die, daß die büreaukratische Regierung der Bayern im neuen Königreich<lb/>
eine sogenannte autokephale, in Wirklichkeit vom Staate abhängige und vom<lb/>
Patriarchat in Konstantinopel abgetrennte, eigne Kirchenverwaltung schuf, die<lb/>
unter einer vom König zu ernennenden Synode steht. Damit war der staat¬<lb/>
lichen Zweiteilung der Griechen eine kirchliche gefolgt, und wenn auch 1850<lb/>
eine formelle Glaubenseinheit zwischen der Synode des Königreichs und dem<lb/>
Patriarchat in Konstantinopel hergestellt wurde, so war damit doch die für die<lb/>
nationale Sache so unentbehrliche einheitliche Organisation der griechischen<lb/>
Kirche zerstört, ihre Lebensadern unterbunden. Ob es freilich richtig gewesen<lb/>
wäre, die Kirche des Königreichs, wie zum Beispiel Gelzer meint, einfach dem<lb/>
Patriarchat unterzuordnen, scheint bei der byzantinischen Eigenart dieser In¬<lb/>
stitution und ihrer geringen Machtvollkommenheit zweifelhaft. Da die orthodoxe</p><lb/>
          <note xml:id="FID_23" place="foot"> *) Die Gesamtzahl der Griechen in der Türkei beträgt gegen drei Millionen. Davon<lb/>
kommen etwa eine Million auf die festländische europäische Türkei (etwa 2S0000 aus Epirus,<lb/>
200000 auf Mazedonien, S0000 auf die Chalzidize, 500000 auf Thrazien nebst Konstantinopel),<lb/>
Million auf die Inseln des Archipels und etwa eine Million auf Kleinasien, Cypern. Syrien<lb/>
und Ägypten (besonders Alexandria).</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Sie Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel Es gab jetzt, seit 1832, auf der Balkanhalbinsel zwei feste Stützpunkte des Griechentums, einen byzantinischer Herkunft in Konstantinopel und einen Philhellenischer Herkunft im Königreich Griechenland mit seiner wiedererstandnen Hauptstadt Athen; dort der Phanar, hier die Akropolis als Hochburgen der nationalen Sehnsucht, ein seltsames, widerspruchsvolles Doppelideal, ein Symbol der verschlungnen Entwicklung dieses schicksalsreichen Volkes, gefährlich durch die verwirrende Fülle von Tradition und vergangner Größe, die sich darin verkörpert und den Blick trüben mußte für die Aufgaben der lebendigen Gegenwart und ihre Bedürfnisse. Der Klassizismus wie der Byzantinismus waren beide gleich weit entfernt von dem Ideal einer modernen Nationalität und einer modernen Kultur: in dem neugegründeten Königreich jagte man dem Trugbilde antiker Größe nach, mit dem Beschwörungsbuch der griechischen Grammatik in der Hand, und in Konstantinopel, im Patriarchat, saß die Gift¬ spinne, die das Netz byzantinischer Intrigen um die emanzipationslüsternen Balkanstaaten, vor allem die Bulgaren, zu spinnen suchte. Die Altertumssucht und die Herrschsucht verbündeten sich in den herrschenden weltlichen und geist¬ lichen Klassen — die Phanarioten waren zahlreich nach Athen übergesiedelt — gegen das Volk und seine wahren Interessen. Denn während es diese Interessen dringend verlangten, daß die durch die Gründung des Königreichs in zwei Teile zerrissene Nation*) möglichst unter sich in Fühlung blieb und außerdem mit den übrigen unterworfnen Völkern der Türkei fest zusammenhielt, tat man von beidem gerade das Gegenteil: man ergriff Maßregeln, die im freien Griechenland die Nation schwachem und sie im unterworfnen Griechenland isolierten. Beide verkehrten Maßregeln lagen auf kirchenpolitischen- Gebiete: die eine war die, daß die büreaukratische Regierung der Bayern im neuen Königreich eine sogenannte autokephale, in Wirklichkeit vom Staate abhängige und vom Patriarchat in Konstantinopel abgetrennte, eigne Kirchenverwaltung schuf, die unter einer vom König zu ernennenden Synode steht. Damit war der staat¬ lichen Zweiteilung der Griechen eine kirchliche gefolgt, und wenn auch 1850 eine formelle Glaubenseinheit zwischen der Synode des Königreichs und dem Patriarchat in Konstantinopel hergestellt wurde, so war damit doch die für die nationale Sache so unentbehrliche einheitliche Organisation der griechischen Kirche zerstört, ihre Lebensadern unterbunden. Ob es freilich richtig gewesen wäre, die Kirche des Königreichs, wie zum Beispiel Gelzer meint, einfach dem Patriarchat unterzuordnen, scheint bei der byzantinischen Eigenart dieser In¬ stitution und ihrer geringen Machtvollkommenheit zweifelhaft. Da die orthodoxe *) Die Gesamtzahl der Griechen in der Türkei beträgt gegen drei Millionen. Davon kommen etwa eine Million auf die festländische europäische Türkei (etwa 2S0000 aus Epirus, 200000 auf Mazedonien, S0000 auf die Chalzidize, 500000 auf Thrazien nebst Konstantinopel), Million auf die Inseln des Archipels und etwa eine Million auf Kleinasien, Cypern. Syrien und Ägypten (besonders Alexandria).

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/413>, abgerufen am 16.06.2024.