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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Line Rechtsphilosophie

kommt, Zwangsnormen von solchen Geboten zu trennen, die nur die gesell¬
schaftliche Annehmlichkeit, nicht die Möglichkeit des unbeanstandeten Verbleibens
in der Gesellschaft bedingen." Diese Definition sieht ein wenig materialistisch
aus, weil die Sittlichkeit nicht erwähnt wird, sondern nur die Sitte, die sehr
unsittlich sein kann, und weil uur von gesellschaftlichen Annehmlichkeiten die
Rede ist, nicht von der innern Befriedigung, die aus dem sittlichen Verhalten
entspringt. Die Rechtsphilosophie, heißt es in der Einleitung, habe "zu er¬
kunden, was dem menschlichen Dasein zugrunde liegt, und welches der tiefere
Sinn des menschlichen Wirkens ist". Äußerlich stellt sich dieses dar als
"Kulturwirken. Die Aufgabe der Menschheit ist Schöpfung und Fortbildung
der Kultur und die Erlangung bleibender Kulturwerte, wodurch eine neue Ge-
staltungssülle entsteht, die der göttlichen Schöpfung als ein zweites Ge¬
schaffenes entgegentritt." Die tiefere Bedeutung dieses Kulturschaffens darzu¬
legen, sei Sache der Metaphysik. Da Kohler nicht sagt, was ihm diese ergibt,
mag seine Darstellung mit der Bemerkung ergänzt werden, daß dieses Schaffen
die Bestimmung hat, das menschliche Geistesleben zu entfalten und zu bereichern.
Alle äußerlichen Kulturgüter wären tot und wertlos, wenn nicht ihr Schaffen
eine Tätigkeit, ihr Dasein eine Bereicherung und Beglückung der Menschen-
seele wäre, und von bleibenden Kulturwerten kann nur unter der Voraussetzung
gesprochen werden, daß die Menschenseele selber bleibt. Nur so viel will Köhler
der "Weltphilosophie" entnehmen, daß die Kultur in bestündiger Entwicklung
begriffen ist, die Kultur fortschreiten, die Menschheit die vorhandnen Kultur¬
güter wahren und immer wieder neue erzeugen soll. In dieser Kulturentwicklung
nun habe auch das Recht seine Stelle, "denn eine menschliche Kultur ist nur
denkbar, wenn in der Menschheit eine Ordnung herrscht, die jedem seine Stellung
gibt und ihm seine Ausgabe zuweist, und die dafür sorgt, daß der vorhandne
Gütervorrat geschützt und die Schöpfung neuer Güter gefördert wird". Weil
sich die Kulturzustünde ändern, muß sich ihre Ordnung mit ändern; diese hat
sich jenen in jedem Augenblicke anzupassen. "Es gibt darum kein ewiges
Recht." Das Recht aber, "wie es in der Kultur sein soll, ist nicht immer
gleich dem vorhandnen Recht, denn vielfach wird von den maßgebenden Per¬
sonen oder Behörden das richtige nicht erkannt, und teilweise bleiben die Kultnr-
erfordernisse unberücksichtigt, teilweise bedient man sich nicht der richtigen Mittel,
um diesen Erfordernissen zu genügen. In solchem Falle sind zwei Bestrebungen
berechtigt: einmal die Bestrebung dahin, daß das Recht und die Gesetzgebung
entsprechend geändert wird, und zweitens die Bestrebung, dem Rechte eine
Auslegung zu geben, die es möglichst mit den Kulturerfordernissen in Einklang
setzt." Sollte die Anpassung an diese die einzige Art von Änderung sein,
die dem Recht obliegt? Kommt es nicht auch vor, daß das Recht von seinen
eignen Grundsätzen abweicht -- vielleicht unter dem Beifall einer ganzen Volks¬
mehrheit --, und daß daraus die Pflicht entspringt, das positive Recht wieder
in Einklang zu bringen mit dem idealen Recht? Aber freilich: unveränderliche


Line Rechtsphilosophie

kommt, Zwangsnormen von solchen Geboten zu trennen, die nur die gesell¬
schaftliche Annehmlichkeit, nicht die Möglichkeit des unbeanstandeten Verbleibens
in der Gesellschaft bedingen." Diese Definition sieht ein wenig materialistisch
aus, weil die Sittlichkeit nicht erwähnt wird, sondern nur die Sitte, die sehr
unsittlich sein kann, und weil uur von gesellschaftlichen Annehmlichkeiten die
Rede ist, nicht von der innern Befriedigung, die aus dem sittlichen Verhalten
entspringt. Die Rechtsphilosophie, heißt es in der Einleitung, habe „zu er¬
kunden, was dem menschlichen Dasein zugrunde liegt, und welches der tiefere
Sinn des menschlichen Wirkens ist". Äußerlich stellt sich dieses dar als
„Kulturwirken. Die Aufgabe der Menschheit ist Schöpfung und Fortbildung
der Kultur und die Erlangung bleibender Kulturwerte, wodurch eine neue Ge-
staltungssülle entsteht, die der göttlichen Schöpfung als ein zweites Ge¬
schaffenes entgegentritt." Die tiefere Bedeutung dieses Kulturschaffens darzu¬
legen, sei Sache der Metaphysik. Da Kohler nicht sagt, was ihm diese ergibt,
mag seine Darstellung mit der Bemerkung ergänzt werden, daß dieses Schaffen
die Bestimmung hat, das menschliche Geistesleben zu entfalten und zu bereichern.
Alle äußerlichen Kulturgüter wären tot und wertlos, wenn nicht ihr Schaffen
eine Tätigkeit, ihr Dasein eine Bereicherung und Beglückung der Menschen-
seele wäre, und von bleibenden Kulturwerten kann nur unter der Voraussetzung
gesprochen werden, daß die Menschenseele selber bleibt. Nur so viel will Köhler
der „Weltphilosophie" entnehmen, daß die Kultur in bestündiger Entwicklung
begriffen ist, die Kultur fortschreiten, die Menschheit die vorhandnen Kultur¬
güter wahren und immer wieder neue erzeugen soll. In dieser Kulturentwicklung
nun habe auch das Recht seine Stelle, „denn eine menschliche Kultur ist nur
denkbar, wenn in der Menschheit eine Ordnung herrscht, die jedem seine Stellung
gibt und ihm seine Ausgabe zuweist, und die dafür sorgt, daß der vorhandne
Gütervorrat geschützt und die Schöpfung neuer Güter gefördert wird". Weil
sich die Kulturzustünde ändern, muß sich ihre Ordnung mit ändern; diese hat
sich jenen in jedem Augenblicke anzupassen. „Es gibt darum kein ewiges
Recht." Das Recht aber, „wie es in der Kultur sein soll, ist nicht immer
gleich dem vorhandnen Recht, denn vielfach wird von den maßgebenden Per¬
sonen oder Behörden das richtige nicht erkannt, und teilweise bleiben die Kultnr-
erfordernisse unberücksichtigt, teilweise bedient man sich nicht der richtigen Mittel,
um diesen Erfordernissen zu genügen. In solchem Falle sind zwei Bestrebungen
berechtigt: einmal die Bestrebung dahin, daß das Recht und die Gesetzgebung
entsprechend geändert wird, und zweitens die Bestrebung, dem Rechte eine
Auslegung zu geben, die es möglichst mit den Kulturerfordernissen in Einklang
setzt." Sollte die Anpassung an diese die einzige Art von Änderung sein,
die dem Recht obliegt? Kommt es nicht auch vor, daß das Recht von seinen
eignen Grundsätzen abweicht — vielleicht unter dem Beifall einer ganzen Volks¬
mehrheit —, und daß daraus die Pflicht entspringt, das positive Recht wieder
in Einklang zu bringen mit dem idealen Recht? Aber freilich: unveränderliche


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[0558] Line Rechtsphilosophie kommt, Zwangsnormen von solchen Geboten zu trennen, die nur die gesell¬ schaftliche Annehmlichkeit, nicht die Möglichkeit des unbeanstandeten Verbleibens in der Gesellschaft bedingen." Diese Definition sieht ein wenig materialistisch aus, weil die Sittlichkeit nicht erwähnt wird, sondern nur die Sitte, die sehr unsittlich sein kann, und weil uur von gesellschaftlichen Annehmlichkeiten die Rede ist, nicht von der innern Befriedigung, die aus dem sittlichen Verhalten entspringt. Die Rechtsphilosophie, heißt es in der Einleitung, habe „zu er¬ kunden, was dem menschlichen Dasein zugrunde liegt, und welches der tiefere Sinn des menschlichen Wirkens ist". Äußerlich stellt sich dieses dar als „Kulturwirken. Die Aufgabe der Menschheit ist Schöpfung und Fortbildung der Kultur und die Erlangung bleibender Kulturwerte, wodurch eine neue Ge- staltungssülle entsteht, die der göttlichen Schöpfung als ein zweites Ge¬ schaffenes entgegentritt." Die tiefere Bedeutung dieses Kulturschaffens darzu¬ legen, sei Sache der Metaphysik. Da Kohler nicht sagt, was ihm diese ergibt, mag seine Darstellung mit der Bemerkung ergänzt werden, daß dieses Schaffen die Bestimmung hat, das menschliche Geistesleben zu entfalten und zu bereichern. Alle äußerlichen Kulturgüter wären tot und wertlos, wenn nicht ihr Schaffen eine Tätigkeit, ihr Dasein eine Bereicherung und Beglückung der Menschen- seele wäre, und von bleibenden Kulturwerten kann nur unter der Voraussetzung gesprochen werden, daß die Menschenseele selber bleibt. Nur so viel will Köhler der „Weltphilosophie" entnehmen, daß die Kultur in bestündiger Entwicklung begriffen ist, die Kultur fortschreiten, die Menschheit die vorhandnen Kultur¬ güter wahren und immer wieder neue erzeugen soll. In dieser Kulturentwicklung nun habe auch das Recht seine Stelle, „denn eine menschliche Kultur ist nur denkbar, wenn in der Menschheit eine Ordnung herrscht, die jedem seine Stellung gibt und ihm seine Ausgabe zuweist, und die dafür sorgt, daß der vorhandne Gütervorrat geschützt und die Schöpfung neuer Güter gefördert wird". Weil sich die Kulturzustünde ändern, muß sich ihre Ordnung mit ändern; diese hat sich jenen in jedem Augenblicke anzupassen. „Es gibt darum kein ewiges Recht." Das Recht aber, „wie es in der Kultur sein soll, ist nicht immer gleich dem vorhandnen Recht, denn vielfach wird von den maßgebenden Per¬ sonen oder Behörden das richtige nicht erkannt, und teilweise bleiben die Kultnr- erfordernisse unberücksichtigt, teilweise bedient man sich nicht der richtigen Mittel, um diesen Erfordernissen zu genügen. In solchem Falle sind zwei Bestrebungen berechtigt: einmal die Bestrebung dahin, daß das Recht und die Gesetzgebung entsprechend geändert wird, und zweitens die Bestrebung, dem Rechte eine Auslegung zu geben, die es möglichst mit den Kulturerfordernissen in Einklang setzt." Sollte die Anpassung an diese die einzige Art von Änderung sein, die dem Recht obliegt? Kommt es nicht auch vor, daß das Recht von seinen eignen Grundsätzen abweicht — vielleicht unter dem Beifall einer ganzen Volks¬ mehrheit —, und daß daraus die Pflicht entspringt, das positive Recht wieder in Einklang zu bringen mit dem idealen Recht? Aber freilich: unveränderliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/558>, abgerufen am 12.05.2024.