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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Line Rechtsphilosophie

Rechtsgrundsätze scheint Kohler nicht anzuerkennen. Er schreibt: "Bis vor
hundert Jahren sprach man von einem Naturrecht und glaubte, daß es ein
festes, ewiges Recht gäbe, das für alle Zeiten passend sei und nur eben viel¬
fach noch nicht richtig erkannt werde. Diese Anschauung hängt zusammen mit
der weitern Meinung, als ob die durch Gott ins Leben gesetzte Menschen¬
kultur ein für allemal abgeschlossen wäre, sodaß höchstens noch unbedeutende
Änderungen nötig seien; demgemäß sollte das Recht so gestaltet sein, wie es
den Geboten der Gottheit entspricht. Weltlied gesagt: man nahm an, die
Welt habe das große Ziel der Kultur schon erreicht, und wie diese Kultur
mir eine und sofort eine vollkommne sei, so sei auch das ihr entsprechende
Recht." Hier scheinen mir zwei Dinge miteinander vermischt zu werden: die
äußere Kultur und die sittliche Verfassung der Seele. Selbst ein orthodoxer
Christ, der die Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall nicht als
Allegorie, sondern als Geschichte auffaßt, behauptet doch wohl nur, der Lehre
seiner Kirche gemäß, daß Adam und Eva heilig und gerecht, nicht aber, daß
sie Meister aller Künste und Wissenschaften und virtuose Techniker gewesen
seien. Auch der orthodoxe Christ also, der an unwandelbare sittliche und
Rechtsgrundsätze glaubt, und der glaubt, daß Adam und Eva, soweit davon
in ihren unaussprechlich einfachen Verhältnissen die Rede sein konnte, danach
gehandelt haben, selbst ein solcher Orthodoxer muß, solange er bei gesunden
Sinnen ist, den Kulturfortschritt anerkennen; berichtet doch die Bibel selbst
über Stadien dieses Fortschritts: erste Bekleidung, Erfindung der Viehzucht,
des Ackerbaus, der Metallbearbeitung, der Musikinstrumente. Ob es Natur-
rechtslehrer gegeben hat, die gemeint haben, die Kultur sei von Anfang an
vollendet gewesen, weiß ich nicht; solche Meinung wäre natürlich schlechthin
unvernünftig. Unveränderlich können nur die geistigen und körperlichen An¬
lagen sein, die den Menschen zur Kulturtätigkeit befähigen, sowie die sittlichen
und Rechtsgrundsätze, die ihn befähigen, nicht allein seine äußere Tätigkeit
und den Verkehr mit seinen Mitmenschen, sondern auch seine Seele zu ordnen.
Was sich nach Zeiten, Orten, Umständen und Kulturzuständen ändert, das ist,
wie ich oft gesagt habe, die Anwendung der Grundsätze, diese selbst aber bleiben
so unveränderlich wie die Mutterliebe, die sich abwechselnd im nähren, Waschen,
Lehren, Mahnen, Küssen und Prügeln äußert. Genau so unveränderlich wie
die Mutterliebe, die Wurzel aller Sittlichkeit, ist das Srmm ouiauo, die Wurzel
alles Rechts, mag auch das Luna das einemal aus einer Geldsumme, das
andremal aus einen, Acker, einem Patent, einer Beförderung, einer Rezension
oder einer Tracht Prügel bestehn. Dagegen könnte freilich vom modernen
Biologen eingewandt werden, daß auch schon die nicht rein tierische Mutter¬
liebe und das Luuin ouiaus Produkte der Kulturentwicklung seien. Indes ich
meine, wo es sich nicht um Naturwissenschaft, sondern um die Regelung des
Berhaltens der Menschen zueinander handelt, dürfen wir die Gemütsverfassung
des Pithekanthropus creatus dahingestellt sein lassen: die Menschen, die wir


Grenzboten III 1909 71
Line Rechtsphilosophie

Rechtsgrundsätze scheint Kohler nicht anzuerkennen. Er schreibt: „Bis vor
hundert Jahren sprach man von einem Naturrecht und glaubte, daß es ein
festes, ewiges Recht gäbe, das für alle Zeiten passend sei und nur eben viel¬
fach noch nicht richtig erkannt werde. Diese Anschauung hängt zusammen mit
der weitern Meinung, als ob die durch Gott ins Leben gesetzte Menschen¬
kultur ein für allemal abgeschlossen wäre, sodaß höchstens noch unbedeutende
Änderungen nötig seien; demgemäß sollte das Recht so gestaltet sein, wie es
den Geboten der Gottheit entspricht. Weltlied gesagt: man nahm an, die
Welt habe das große Ziel der Kultur schon erreicht, und wie diese Kultur
mir eine und sofort eine vollkommne sei, so sei auch das ihr entsprechende
Recht." Hier scheinen mir zwei Dinge miteinander vermischt zu werden: die
äußere Kultur und die sittliche Verfassung der Seele. Selbst ein orthodoxer
Christ, der die Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall nicht als
Allegorie, sondern als Geschichte auffaßt, behauptet doch wohl nur, der Lehre
seiner Kirche gemäß, daß Adam und Eva heilig und gerecht, nicht aber, daß
sie Meister aller Künste und Wissenschaften und virtuose Techniker gewesen
seien. Auch der orthodoxe Christ also, der an unwandelbare sittliche und
Rechtsgrundsätze glaubt, und der glaubt, daß Adam und Eva, soweit davon
in ihren unaussprechlich einfachen Verhältnissen die Rede sein konnte, danach
gehandelt haben, selbst ein solcher Orthodoxer muß, solange er bei gesunden
Sinnen ist, den Kulturfortschritt anerkennen; berichtet doch die Bibel selbst
über Stadien dieses Fortschritts: erste Bekleidung, Erfindung der Viehzucht,
des Ackerbaus, der Metallbearbeitung, der Musikinstrumente. Ob es Natur-
rechtslehrer gegeben hat, die gemeint haben, die Kultur sei von Anfang an
vollendet gewesen, weiß ich nicht; solche Meinung wäre natürlich schlechthin
unvernünftig. Unveränderlich können nur die geistigen und körperlichen An¬
lagen sein, die den Menschen zur Kulturtätigkeit befähigen, sowie die sittlichen
und Rechtsgrundsätze, die ihn befähigen, nicht allein seine äußere Tätigkeit
und den Verkehr mit seinen Mitmenschen, sondern auch seine Seele zu ordnen.
Was sich nach Zeiten, Orten, Umständen und Kulturzuständen ändert, das ist,
wie ich oft gesagt habe, die Anwendung der Grundsätze, diese selbst aber bleiben
so unveränderlich wie die Mutterliebe, die sich abwechselnd im nähren, Waschen,
Lehren, Mahnen, Küssen und Prügeln äußert. Genau so unveränderlich wie
die Mutterliebe, die Wurzel aller Sittlichkeit, ist das Srmm ouiauo, die Wurzel
alles Rechts, mag auch das Luna das einemal aus einer Geldsumme, das
andremal aus einen, Acker, einem Patent, einer Beförderung, einer Rezension
oder einer Tracht Prügel bestehn. Dagegen könnte freilich vom modernen
Biologen eingewandt werden, daß auch schon die nicht rein tierische Mutter¬
liebe und das Luuin ouiaus Produkte der Kulturentwicklung seien. Indes ich
meine, wo es sich nicht um Naturwissenschaft, sondern um die Regelung des
Berhaltens der Menschen zueinander handelt, dürfen wir die Gemütsverfassung
des Pithekanthropus creatus dahingestellt sein lassen: die Menschen, die wir


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[0559] Line Rechtsphilosophie Rechtsgrundsätze scheint Kohler nicht anzuerkennen. Er schreibt: „Bis vor hundert Jahren sprach man von einem Naturrecht und glaubte, daß es ein festes, ewiges Recht gäbe, das für alle Zeiten passend sei und nur eben viel¬ fach noch nicht richtig erkannt werde. Diese Anschauung hängt zusammen mit der weitern Meinung, als ob die durch Gott ins Leben gesetzte Menschen¬ kultur ein für allemal abgeschlossen wäre, sodaß höchstens noch unbedeutende Änderungen nötig seien; demgemäß sollte das Recht so gestaltet sein, wie es den Geboten der Gottheit entspricht. Weltlied gesagt: man nahm an, die Welt habe das große Ziel der Kultur schon erreicht, und wie diese Kultur mir eine und sofort eine vollkommne sei, so sei auch das ihr entsprechende Recht." Hier scheinen mir zwei Dinge miteinander vermischt zu werden: die äußere Kultur und die sittliche Verfassung der Seele. Selbst ein orthodoxer Christ, der die Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall nicht als Allegorie, sondern als Geschichte auffaßt, behauptet doch wohl nur, der Lehre seiner Kirche gemäß, daß Adam und Eva heilig und gerecht, nicht aber, daß sie Meister aller Künste und Wissenschaften und virtuose Techniker gewesen seien. Auch der orthodoxe Christ also, der an unwandelbare sittliche und Rechtsgrundsätze glaubt, und der glaubt, daß Adam und Eva, soweit davon in ihren unaussprechlich einfachen Verhältnissen die Rede sein konnte, danach gehandelt haben, selbst ein solcher Orthodoxer muß, solange er bei gesunden Sinnen ist, den Kulturfortschritt anerkennen; berichtet doch die Bibel selbst über Stadien dieses Fortschritts: erste Bekleidung, Erfindung der Viehzucht, des Ackerbaus, der Metallbearbeitung, der Musikinstrumente. Ob es Natur- rechtslehrer gegeben hat, die gemeint haben, die Kultur sei von Anfang an vollendet gewesen, weiß ich nicht; solche Meinung wäre natürlich schlechthin unvernünftig. Unveränderlich können nur die geistigen und körperlichen An¬ lagen sein, die den Menschen zur Kulturtätigkeit befähigen, sowie die sittlichen und Rechtsgrundsätze, die ihn befähigen, nicht allein seine äußere Tätigkeit und den Verkehr mit seinen Mitmenschen, sondern auch seine Seele zu ordnen. Was sich nach Zeiten, Orten, Umständen und Kulturzuständen ändert, das ist, wie ich oft gesagt habe, die Anwendung der Grundsätze, diese selbst aber bleiben so unveränderlich wie die Mutterliebe, die sich abwechselnd im nähren, Waschen, Lehren, Mahnen, Küssen und Prügeln äußert. Genau so unveränderlich wie die Mutterliebe, die Wurzel aller Sittlichkeit, ist das Srmm ouiauo, die Wurzel alles Rechts, mag auch das Luna das einemal aus einer Geldsumme, das andremal aus einen, Acker, einem Patent, einer Beförderung, einer Rezension oder einer Tracht Prügel bestehn. Dagegen könnte freilich vom modernen Biologen eingewandt werden, daß auch schon die nicht rein tierische Mutter¬ liebe und das Luuin ouiaus Produkte der Kulturentwicklung seien. Indes ich meine, wo es sich nicht um Naturwissenschaft, sondern um die Regelung des Berhaltens der Menschen zueinander handelt, dürfen wir die Gemütsverfassung des Pithekanthropus creatus dahingestellt sein lassen: die Menschen, die wir Grenzboten III 1909 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/559>, abgerufen am 06.06.2024.