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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Hellas und Wilamowitz

"Weltwanderung" würde man, wenn man ein jedes einzeln nimmt, sagen
können, daß es philosophischen Charakter trage: man nehme z. B. das innige
Gedicht "Waldrätsel", voll zartesten Naturgefühls, oder das Gedicht "Wittekind",
das uns das Ende der Sachsenkriege miterleben läßt. Nimmt man freilich das
Buch, in dein sie stehen, als Ganzes, und versteht man es als Weltwanderung,
so werden auch diese Gedichte durch den Zusammenhang, in den sie eingefügt
sind, philosophisch bedeutungsvoll, und sie gewinnen die eigentümliche Bedeutung,
die sie an ihrem Orte haben, gerade durch ihre ungebrochene Unmittelbarkeit,
gerade durch die Abwesenheit der Reflexion. Gegen Schluß steigert sich die
"Weltwanderung" zu gewaltigen Hymnen auf die höchsten Lebenswerte.
Vernunft und Liebe, die wir als die letzte und höchste Aufgabe des
Philosophen kennen gelernt haben, sind auch das größte Thema des Dichters
Liebmann.




Hellas und Wilamowitz
von Kurt Hildebrandt

M! meer unseren bedeutenden klassischen Philologen sind nur sehr wenige,
die es nicht verschmähen, auch auf einen weiteren Kreis von Laien
zu wirken und die klassische Kunst in der heutigen Gesellschaft zu
beleben, v. Wilamowitz-Moellendorff ist einer der wenigen, die
l deu Willen und das Talent zu einer solchen Wirkung haben. Ob
seine Wirkung in der Richtung einer von uns erhofften geistigen Kultur liegt,
das ist eine Frage, die wir nicht bejahen zu können glauben, trotz aller Zu¬
stimmung, die Wilamowitz aus Kreisen der nicht nachprüfenden oder kritiklosen
Laienwelt zum Teil erfahren hat.*)

Verwerflich scheint mir schon das Programm des Wilamowitz in seinen
Übersetzungen griechischer Tragödien: "Meine Übersetzung will mindestens so
verständlich sein, wie den Athenern das Original war; womöglich uoch
leichter verständlich." Die Athener empfanden den Stil.des Aischylos als
dunkel, erhaben und hart. Aber das ist nicht der Geschmack des Wilamowitz,
er findet ja, daß Dante "etwas Barbarisches" an sich trägt. Unsere größten



*) In dem "Jahrbuch für die geistige Bewegung," Verlag der Blätter für die Kunst,
Ausgabestelle: Otto ti. Hollen, Berlin, das in kurzem erscheinen wird, habe ich mich über diese
Frage ausführlich ausgesprochen. An dieser Stelle kommt es mir bor allem auf eine kurze
Zusammenfassung leitender Gesichtspunkte an, sowie auf eine gedrängte Übersicht über die be¬
denklichsten Fehler, soweit sie mir für einen unbefangenen Beurteiler unbestreitbar zu sein scheinen.
Hellas und Wilamowitz

„Weltwanderung" würde man, wenn man ein jedes einzeln nimmt, sagen
können, daß es philosophischen Charakter trage: man nehme z. B. das innige
Gedicht „Waldrätsel", voll zartesten Naturgefühls, oder das Gedicht „Wittekind",
das uns das Ende der Sachsenkriege miterleben läßt. Nimmt man freilich das
Buch, in dein sie stehen, als Ganzes, und versteht man es als Weltwanderung,
so werden auch diese Gedichte durch den Zusammenhang, in den sie eingefügt
sind, philosophisch bedeutungsvoll, und sie gewinnen die eigentümliche Bedeutung,
die sie an ihrem Orte haben, gerade durch ihre ungebrochene Unmittelbarkeit,
gerade durch die Abwesenheit der Reflexion. Gegen Schluß steigert sich die
„Weltwanderung" zu gewaltigen Hymnen auf die höchsten Lebenswerte.
Vernunft und Liebe, die wir als die letzte und höchste Aufgabe des
Philosophen kennen gelernt haben, sind auch das größte Thema des Dichters
Liebmann.




Hellas und Wilamowitz
von Kurt Hildebrandt

M! meer unseren bedeutenden klassischen Philologen sind nur sehr wenige,
die es nicht verschmähen, auch auf einen weiteren Kreis von Laien
zu wirken und die klassische Kunst in der heutigen Gesellschaft zu
beleben, v. Wilamowitz-Moellendorff ist einer der wenigen, die
l deu Willen und das Talent zu einer solchen Wirkung haben. Ob
seine Wirkung in der Richtung einer von uns erhofften geistigen Kultur liegt,
das ist eine Frage, die wir nicht bejahen zu können glauben, trotz aller Zu¬
stimmung, die Wilamowitz aus Kreisen der nicht nachprüfenden oder kritiklosen
Laienwelt zum Teil erfahren hat.*)

Verwerflich scheint mir schon das Programm des Wilamowitz in seinen
Übersetzungen griechischer Tragödien: „Meine Übersetzung will mindestens so
verständlich sein, wie den Athenern das Original war; womöglich uoch
leichter verständlich." Die Athener empfanden den Stil.des Aischylos als
dunkel, erhaben und hart. Aber das ist nicht der Geschmack des Wilamowitz,
er findet ja, daß Dante „etwas Barbarisches" an sich trägt. Unsere größten



*) In dem „Jahrbuch für die geistige Bewegung," Verlag der Blätter für die Kunst,
Ausgabestelle: Otto ti. Hollen, Berlin, das in kurzem erscheinen wird, habe ich mich über diese
Frage ausführlich ausgesprochen. An dieser Stelle kommt es mir bor allem auf eine kurze
Zusammenfassung leitender Gesichtspunkte an, sowie auf eine gedrängte Übersicht über die be¬
denklichsten Fehler, soweit sie mir für einen unbefangenen Beurteiler unbestreitbar zu sein scheinen.
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[0424] Hellas und Wilamowitz „Weltwanderung" würde man, wenn man ein jedes einzeln nimmt, sagen können, daß es philosophischen Charakter trage: man nehme z. B. das innige Gedicht „Waldrätsel", voll zartesten Naturgefühls, oder das Gedicht „Wittekind", das uns das Ende der Sachsenkriege miterleben läßt. Nimmt man freilich das Buch, in dein sie stehen, als Ganzes, und versteht man es als Weltwanderung, so werden auch diese Gedichte durch den Zusammenhang, in den sie eingefügt sind, philosophisch bedeutungsvoll, und sie gewinnen die eigentümliche Bedeutung, die sie an ihrem Orte haben, gerade durch ihre ungebrochene Unmittelbarkeit, gerade durch die Abwesenheit der Reflexion. Gegen Schluß steigert sich die „Weltwanderung" zu gewaltigen Hymnen auf die höchsten Lebenswerte. Vernunft und Liebe, die wir als die letzte und höchste Aufgabe des Philosophen kennen gelernt haben, sind auch das größte Thema des Dichters Liebmann. Hellas und Wilamowitz von Kurt Hildebrandt M! meer unseren bedeutenden klassischen Philologen sind nur sehr wenige, die es nicht verschmähen, auch auf einen weiteren Kreis von Laien zu wirken und die klassische Kunst in der heutigen Gesellschaft zu beleben, v. Wilamowitz-Moellendorff ist einer der wenigen, die l deu Willen und das Talent zu einer solchen Wirkung haben. Ob seine Wirkung in der Richtung einer von uns erhofften geistigen Kultur liegt, das ist eine Frage, die wir nicht bejahen zu können glauben, trotz aller Zu¬ stimmung, die Wilamowitz aus Kreisen der nicht nachprüfenden oder kritiklosen Laienwelt zum Teil erfahren hat.*) Verwerflich scheint mir schon das Programm des Wilamowitz in seinen Übersetzungen griechischer Tragödien: „Meine Übersetzung will mindestens so verständlich sein, wie den Athenern das Original war; womöglich uoch leichter verständlich." Die Athener empfanden den Stil.des Aischylos als dunkel, erhaben und hart. Aber das ist nicht der Geschmack des Wilamowitz, er findet ja, daß Dante „etwas Barbarisches" an sich trägt. Unsere größten *) In dem „Jahrbuch für die geistige Bewegung," Verlag der Blätter für die Kunst, Ausgabestelle: Otto ti. Hollen, Berlin, das in kurzem erscheinen wird, habe ich mich über diese Frage ausführlich ausgesprochen. An dieser Stelle kommt es mir bor allem auf eine kurze Zusammenfassung leitender Gesichtspunkte an, sowie auf eine gedrängte Übersicht über die be¬ denklichsten Fehler, soweit sie mir für einen unbefangenen Beurteiler unbestreitbar zu sein scheinen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/424>, abgerufen am 30.04.2024.