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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Nationalstaat oder Wirtschaftsverband?

gegen die slawische Flut aus Menschen, Geist und Kapital und wir selbst
gewannen uns aus den Slawen die besten Elemente zur Stärkung des
Deutschtums. Nach dem Berliner Kongreß leitete die rückwärtige Bewegung
aus dieser Richtung ein. Trotz der sehr kritischen Lage der russischen Regierung
nach dem Frieden von Se. Stephans war. sie doch mächtig genug, dem
Deutschtum den Zugang nach Nußland zu verwehren, und schon zehn Jahre
später mußte die deutsche Diplomatie einen Rückzug vor Rußland antreten
und das "mächtige" Deutsche Reich mußte zusehn, wie zahlreiche von seinen
Söhnen, die an der Einigung des Reichs mitgewirkt hatten, entweder russische
Untertanen werden oder ihren Besitz draußen im Stich lassen mußten. Gewöhnlich
wird als Grund für diesen Rückzug das Alter Kaiser Wilhelms des Ersten
angegeben; häufig wird auch behauptet, Bismarck habe die Aufrollung der
Polenfrage vermeiden wollen. Gewiß werden auch diese beiden Gründe mit¬
gewirkt haben, aber man wird doch gut tun, die inneren Triebfedern
anderswo zu suchen.

Zur Zeit des Berliner Kongresses und in dem Jahrzehnt darauf schien
der Reichsbau in seinen Grundmauern fertiggestellt zu sein und man war
längst dabei, die Zimmer einzurichten. Dabei wurde nun ziemlich einseitig auf
die Entwicklung der Wirtschaft Bedacht genommen. Bismarck, der Bekämpfer
des sozialistischen Materialismus, hat schließlich doch ganz materialistische Politik
getrieben, weil er glaubte, "alles übrige werde sich von selber finden". Wie
infolge dieser Auffassung noch wichtige Aufgaben ungelöst blieben, ist bekannt.
In der Fürsorge für die Wirtschaft geschah es, daß alle Strömungen, die
dieser Fürsorge im Moment Schwierigkeiten bereiteten, mit großem Aufwand
bekämpft wurden. So kam es, daß die Kräfte zu einer siegreichen Durch¬
führung des Kulturkampfes nicht ausreichten. Es schien viel wichtiger, die
Sozialdemokraten und die Freihändler niederzuringen. Alle geistigen und
moralischen Kräfte der Nation wurden in den Dienst der Industrie gestellt, die
sich hinter immer höher werdenden Zollmauern zu staunenswerten Erfolgen
emporhob. Das Ergebnis des Kulturkampfes ist die Zentrmnsherrschaft, das
der Sozialistengesetze eine in keinem Lande sonst bekannte Belastung der Unter¬
nehmer durch Abgaben für soziale Fürsorge. Diese Entwicklung im Innern
konnte die internationalen Beziehungen des Reichs nicht unberührt lassen. Die
nervenzerreibende Arbeit im Kampf um den Weltmarkt nahm dem deutschen
Volk die Lust am politischen und territorialen Drängen, die es noch am Anfang
der 1870er Jahre besaß, in der es aber von einer kraftvollen Reichsleitung
gezügelt wurde. Wir gerieten in jene Ära von langfristigen Verträgen und
Rückversicherungen, die vor allen Dingen die Bewegungsfreiheit der stärksten
unter den arbeitenden Nationen hemmen.

Nun wird mir entgegengehalten werden: Dein Bild ist verzerrt, schüttle
den deutschen Staub von deinen Füßen, denn du bist ein Nörgler und Pessimist;
schau hin auf unsere Kolonien, sieh unsere Stellung im Welthandel, vergleiche


Nationalstaat oder Wirtschaftsverband?

gegen die slawische Flut aus Menschen, Geist und Kapital und wir selbst
gewannen uns aus den Slawen die besten Elemente zur Stärkung des
Deutschtums. Nach dem Berliner Kongreß leitete die rückwärtige Bewegung
aus dieser Richtung ein. Trotz der sehr kritischen Lage der russischen Regierung
nach dem Frieden von Se. Stephans war. sie doch mächtig genug, dem
Deutschtum den Zugang nach Nußland zu verwehren, und schon zehn Jahre
später mußte die deutsche Diplomatie einen Rückzug vor Rußland antreten
und das „mächtige" Deutsche Reich mußte zusehn, wie zahlreiche von seinen
Söhnen, die an der Einigung des Reichs mitgewirkt hatten, entweder russische
Untertanen werden oder ihren Besitz draußen im Stich lassen mußten. Gewöhnlich
wird als Grund für diesen Rückzug das Alter Kaiser Wilhelms des Ersten
angegeben; häufig wird auch behauptet, Bismarck habe die Aufrollung der
Polenfrage vermeiden wollen. Gewiß werden auch diese beiden Gründe mit¬
gewirkt haben, aber man wird doch gut tun, die inneren Triebfedern
anderswo zu suchen.

Zur Zeit des Berliner Kongresses und in dem Jahrzehnt darauf schien
der Reichsbau in seinen Grundmauern fertiggestellt zu sein und man war
längst dabei, die Zimmer einzurichten. Dabei wurde nun ziemlich einseitig auf
die Entwicklung der Wirtschaft Bedacht genommen. Bismarck, der Bekämpfer
des sozialistischen Materialismus, hat schließlich doch ganz materialistische Politik
getrieben, weil er glaubte, „alles übrige werde sich von selber finden". Wie
infolge dieser Auffassung noch wichtige Aufgaben ungelöst blieben, ist bekannt.
In der Fürsorge für die Wirtschaft geschah es, daß alle Strömungen, die
dieser Fürsorge im Moment Schwierigkeiten bereiteten, mit großem Aufwand
bekämpft wurden. So kam es, daß die Kräfte zu einer siegreichen Durch¬
führung des Kulturkampfes nicht ausreichten. Es schien viel wichtiger, die
Sozialdemokraten und die Freihändler niederzuringen. Alle geistigen und
moralischen Kräfte der Nation wurden in den Dienst der Industrie gestellt, die
sich hinter immer höher werdenden Zollmauern zu staunenswerten Erfolgen
emporhob. Das Ergebnis des Kulturkampfes ist die Zentrmnsherrschaft, das
der Sozialistengesetze eine in keinem Lande sonst bekannte Belastung der Unter¬
nehmer durch Abgaben für soziale Fürsorge. Diese Entwicklung im Innern
konnte die internationalen Beziehungen des Reichs nicht unberührt lassen. Die
nervenzerreibende Arbeit im Kampf um den Weltmarkt nahm dem deutschen
Volk die Lust am politischen und territorialen Drängen, die es noch am Anfang
der 1870er Jahre besaß, in der es aber von einer kraftvollen Reichsleitung
gezügelt wurde. Wir gerieten in jene Ära von langfristigen Verträgen und
Rückversicherungen, die vor allen Dingen die Bewegungsfreiheit der stärksten
unter den arbeitenden Nationen hemmen.

Nun wird mir entgegengehalten werden: Dein Bild ist verzerrt, schüttle
den deutschen Staub von deinen Füßen, denn du bist ein Nörgler und Pessimist;
schau hin auf unsere Kolonien, sieh unsere Stellung im Welthandel, vergleiche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/15>, abgerufen am 19.05.2024.