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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Nationalstaat oder IVirtschaftsverband?

die Handelsbilanzen mit Rußland usw. Dort liegt unsere Energie, die Energie
eines friedliebenden, arbeitsfreudigen, aber freien Volkes!

Gewiß, aber gerade da liegt auch unsere Schwäche als Nation.

Diese Entwicklung führt zur Verneinung des Nationalitäts¬
prinzips, auf Grund dessen- die Einigung des Hauptteils aller
Deutschen zum Deutschen Reich nur möglich war. Der beste Beweis
für meine Auffassung ist die Haltung dieses Reichs gegenüber der deutschen
Frage. In unsrer amtlichen Politik gibt es keine "deutsche Frage" mehr.
Das als Nationalstaat begründete Deutsche Reich hat die ihm aus der
geschichtlichen Tradition heraus gestellte Aufgabe, die Einigung aller deutschen
Stämme, nicht zu Ende geführt und verneint dennoch das Vorhandensein einer
deutschen Frage überhaupt. Die Reichsleitung ist von der Aufgabe zurück¬
getreten. Sie hat die idealistische Auffassung des Staatsbegriffs, die dem das
gesamte Deutschtum umfassenden deutschen Gedanken zugrunde liegt, hingegeben
für eine materialistische. Aus dem aristokratischen Kulturträger ist ein durchaus
demokratisch empfindender Staatsbürger geworden, der den Zweck seiner Arbeit
vor allen Dingen in der Gewinnung einer Altersrente sieht, und der vom
Staat nichts anderes verlangt als die Förderung dieser Arbeit. Das gilt
besonders vom Bürgertum in den Städten, weniger von der bodenständigen
Aristokratie; nur in den Massen lebt dank der Agitation der Sozialdemokratie
stärkeres politisches Wollen, das sehr leicht national ausgenutzt werden könnte.
Die Preisgabe ideeller Interessen, begangen im Namen einer friedlichen
Wirtschaftsentwicklnng, fördert wohl das erstrebte Ziel, aber sie untergräbt auch
-- für die Allgemeinheit lange unmerklich -- die Macht des Staates, der ihr
huldigt. Wir werden gleich sehn warum.

Der Weg zur Altersrente führt für die Mehrzahl der Staatsbürger durch
die Fabrik, die Schreibstuben der Behörden und Unternehmungen aller Art,
und für zahlreiche energische, höher begabte Persönlichkeiten, die von Geburt
dem Unternehmerstande nicht angehören, durch die Auswanderung. Gerade
infolge der Auffassung des staatsbürgerlichen Prinzips, die sehr bequem für die
formellen Beziehungen der Staaten untereinander ist, gehn aber die Auswanderer
zum größten Teil der Nation verloren. Denn der ihnen Gastfreundschaft
gewährende Staat fordert, daß sie entweder loyale Staatsbürger werden oder
aber sich von jeder Betätigung an der Politik fernhalten. Unter solchen
Voraussetzungen kommt der Altersrenten suchende Deutsche oder die von tausend
solcher Deutschen beauftragte Aktiengesellschaft in die Netze des außerdeutschen
Jnteressenverbandes. Will er dem Ziel der Auswanderung dienen, d. h. will
er Geld erwerben und voran kommen, dann muß er sich seinem neuen Interessen-
kreise anpassen, muß mit dem Polen polnisch, mit dem Belgier französisch, mit
Chilenen portugiesisch sprechen. Damit ist es aber noch nicht abgetan, der
Deutsche muß an der Politik des ihn aufnehmenden Staates mittelbar und
unmittelbar teilnehmen und das wieder zwingt ihn in den meisten Fällen, Staats-


Nationalstaat oder IVirtschaftsverband?

die Handelsbilanzen mit Rußland usw. Dort liegt unsere Energie, die Energie
eines friedliebenden, arbeitsfreudigen, aber freien Volkes!

Gewiß, aber gerade da liegt auch unsere Schwäche als Nation.

Diese Entwicklung führt zur Verneinung des Nationalitäts¬
prinzips, auf Grund dessen- die Einigung des Hauptteils aller
Deutschen zum Deutschen Reich nur möglich war. Der beste Beweis
für meine Auffassung ist die Haltung dieses Reichs gegenüber der deutschen
Frage. In unsrer amtlichen Politik gibt es keine „deutsche Frage" mehr.
Das als Nationalstaat begründete Deutsche Reich hat die ihm aus der
geschichtlichen Tradition heraus gestellte Aufgabe, die Einigung aller deutschen
Stämme, nicht zu Ende geführt und verneint dennoch das Vorhandensein einer
deutschen Frage überhaupt. Die Reichsleitung ist von der Aufgabe zurück¬
getreten. Sie hat die idealistische Auffassung des Staatsbegriffs, die dem das
gesamte Deutschtum umfassenden deutschen Gedanken zugrunde liegt, hingegeben
für eine materialistische. Aus dem aristokratischen Kulturträger ist ein durchaus
demokratisch empfindender Staatsbürger geworden, der den Zweck seiner Arbeit
vor allen Dingen in der Gewinnung einer Altersrente sieht, und der vom
Staat nichts anderes verlangt als die Förderung dieser Arbeit. Das gilt
besonders vom Bürgertum in den Städten, weniger von der bodenständigen
Aristokratie; nur in den Massen lebt dank der Agitation der Sozialdemokratie
stärkeres politisches Wollen, das sehr leicht national ausgenutzt werden könnte.
Die Preisgabe ideeller Interessen, begangen im Namen einer friedlichen
Wirtschaftsentwicklnng, fördert wohl das erstrebte Ziel, aber sie untergräbt auch
— für die Allgemeinheit lange unmerklich — die Macht des Staates, der ihr
huldigt. Wir werden gleich sehn warum.

Der Weg zur Altersrente führt für die Mehrzahl der Staatsbürger durch
die Fabrik, die Schreibstuben der Behörden und Unternehmungen aller Art,
und für zahlreiche energische, höher begabte Persönlichkeiten, die von Geburt
dem Unternehmerstande nicht angehören, durch die Auswanderung. Gerade
infolge der Auffassung des staatsbürgerlichen Prinzips, die sehr bequem für die
formellen Beziehungen der Staaten untereinander ist, gehn aber die Auswanderer
zum größten Teil der Nation verloren. Denn der ihnen Gastfreundschaft
gewährende Staat fordert, daß sie entweder loyale Staatsbürger werden oder
aber sich von jeder Betätigung an der Politik fernhalten. Unter solchen
Voraussetzungen kommt der Altersrenten suchende Deutsche oder die von tausend
solcher Deutschen beauftragte Aktiengesellschaft in die Netze des außerdeutschen
Jnteressenverbandes. Will er dem Ziel der Auswanderung dienen, d. h. will
er Geld erwerben und voran kommen, dann muß er sich seinem neuen Interessen-
kreise anpassen, muß mit dem Polen polnisch, mit dem Belgier französisch, mit
Chilenen portugiesisch sprechen. Damit ist es aber noch nicht abgetan, der
Deutsche muß an der Politik des ihn aufnehmenden Staates mittelbar und
unmittelbar teilnehmen und das wieder zwingt ihn in den meisten Fällen, Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/16>, abgerufen am 26.05.2024.