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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

dorbene Gesellschaft. Sie baute sich auf den Trümmern des Schreckens auf
und bestand aus einem Gemisch von Leuten des alten und neuen Regimes,
aus mehr oder weniger republikanisch gesinnten Royalisten und gemäßigten
Republikanern.

Niemals bot Paris und seine Gesellschaft einen so seltsamen Anblick dar,
als zu der Zeit, in welcher der Konvent in den letzten Zügen lag und die
Herrschaft des Direktoriums begann. Die alte Gesellschaft war vernichtet und
die neue noch im Entstehen. Die früheren Gewohnheiten und Sitten unverändert
wieder aufzunehmen, hätte sich unmöglich mit den republikanischen Grundsätzen,
welche ihre Abschaffung herbeigeführt, vereinbart, und die neuen ließen sich nicht
von heute bis morgen bestimmen.

So lebte jeder, wie er wollte, ungezwungen und frei. Es war eine einzige
große Maskerade im Äußern wie im Innern, auf der die "Merveilleuses", die
"Muscadins" und die "Jncroyables" die Hauptrollen spielten.

Die republikanischen Gewohnheiten und Gebräuche kamen in Verruf; nur
einige blieben bestehen. So das Tragen der dreifarbigen Kokarde, die Titel
"Bürger" und "Bürgerin" und einige andere. Das während der Schreckens¬
herrschaft übliche Duzen fand keinen Anklang mehr, und man kehrte wieder zu
dem vornehmeren "Sie" zurück.

Niemals gab es glänzendere, frivolere Festlichkeiten, niemals ausschweifendere
Vergnügungen, niemals größere Überspanntheit in Mode und Sitten als unter
dem Direktorium! Nach all den wüsten Ereignissen der Revolution, die Thron,
Kirche, Aristokratie, Mode und geistiges Leben unter ihren Trümmern begraben
hatten, flüchteten sich die Franzosen mit Freuden unter das schützende Dach
geregelterer Zustände. Hier winkte ihnen Menschlichkeit und Zivilisation. Wer
im Bewußtsein, daß das Morgen dem Heute uicht ähneln, daß binnen kurzem
alles anders, alles noch viel schlechter als früher sein könnte, übertrieb man
alle Genüsse und machte aus dem feinen, eleganten Paris der vergangenen
Jahrhunderte ein großes Tollhaus.

Bälle und Festlichkeiten wurden in allen Gegenden der Stadt gegeben,
Gelage gefeiert, die lange verbotenen Equipagen erschienen wieder auf den
Promenaden und Straßen, eleganter und reicher als zuvor. In den Salons
wagte man wieder zu sprechen, wieder eine Meinung zu haben. Auf den
Boulevards, in den Champs Elysöes, dein Bois de Boulogne sah man aufs
neue vornehme Reiter und Amazonen, reichgeschmückte Livreen und Jockeis.
Es gab wieder Herren und Diener und somit auch einen Klassenunterschied,
wenngleich man überall Gleichheit und Freiheit predigte. Die Herrschaft des
Reichtums trat an Stelle der Herrschaft des Sansculottismus. Aus den Klubs
wurden Salons, wenn auch öffentliche Salons, zu denen ein jeder Zutritt hatte.

In den vorher ungepflegten, von Kot und Unrat starrenden, schlecht
beleuchteten Straßen sah man -- freilich auch nicht vor Anfang 1796 -- wieder
größere Ordnung und Sauberkeit. Reich ausgestattete Läden taten sich auf


Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium

dorbene Gesellschaft. Sie baute sich auf den Trümmern des Schreckens auf
und bestand aus einem Gemisch von Leuten des alten und neuen Regimes,
aus mehr oder weniger republikanisch gesinnten Royalisten und gemäßigten
Republikanern.

Niemals bot Paris und seine Gesellschaft einen so seltsamen Anblick dar,
als zu der Zeit, in welcher der Konvent in den letzten Zügen lag und die
Herrschaft des Direktoriums begann. Die alte Gesellschaft war vernichtet und
die neue noch im Entstehen. Die früheren Gewohnheiten und Sitten unverändert
wieder aufzunehmen, hätte sich unmöglich mit den republikanischen Grundsätzen,
welche ihre Abschaffung herbeigeführt, vereinbart, und die neuen ließen sich nicht
von heute bis morgen bestimmen.

So lebte jeder, wie er wollte, ungezwungen und frei. Es war eine einzige
große Maskerade im Äußern wie im Innern, auf der die „Merveilleuses", die
„Muscadins" und die „Jncroyables" die Hauptrollen spielten.

Die republikanischen Gewohnheiten und Gebräuche kamen in Verruf; nur
einige blieben bestehen. So das Tragen der dreifarbigen Kokarde, die Titel
„Bürger" und „Bürgerin" und einige andere. Das während der Schreckens¬
herrschaft übliche Duzen fand keinen Anklang mehr, und man kehrte wieder zu
dem vornehmeren „Sie" zurück.

Niemals gab es glänzendere, frivolere Festlichkeiten, niemals ausschweifendere
Vergnügungen, niemals größere Überspanntheit in Mode und Sitten als unter
dem Direktorium! Nach all den wüsten Ereignissen der Revolution, die Thron,
Kirche, Aristokratie, Mode und geistiges Leben unter ihren Trümmern begraben
hatten, flüchteten sich die Franzosen mit Freuden unter das schützende Dach
geregelterer Zustände. Hier winkte ihnen Menschlichkeit und Zivilisation. Wer
im Bewußtsein, daß das Morgen dem Heute uicht ähneln, daß binnen kurzem
alles anders, alles noch viel schlechter als früher sein könnte, übertrieb man
alle Genüsse und machte aus dem feinen, eleganten Paris der vergangenen
Jahrhunderte ein großes Tollhaus.

Bälle und Festlichkeiten wurden in allen Gegenden der Stadt gegeben,
Gelage gefeiert, die lange verbotenen Equipagen erschienen wieder auf den
Promenaden und Straßen, eleganter und reicher als zuvor. In den Salons
wagte man wieder zu sprechen, wieder eine Meinung zu haben. Auf den
Boulevards, in den Champs Elysöes, dein Bois de Boulogne sah man aufs
neue vornehme Reiter und Amazonen, reichgeschmückte Livreen und Jockeis.
Es gab wieder Herren und Diener und somit auch einen Klassenunterschied,
wenngleich man überall Gleichheit und Freiheit predigte. Die Herrschaft des
Reichtums trat an Stelle der Herrschaft des Sansculottismus. Aus den Klubs
wurden Salons, wenn auch öffentliche Salons, zu denen ein jeder Zutritt hatte.

In den vorher ungepflegten, von Kot und Unrat starrenden, schlecht
beleuchteten Straßen sah man — freilich auch nicht vor Anfang 1796 — wieder
größere Ordnung und Sauberkeit. Reich ausgestattete Läden taten sich auf


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[0315] Gesellschaft, Sitten und Salons unter dem Direktorium dorbene Gesellschaft. Sie baute sich auf den Trümmern des Schreckens auf und bestand aus einem Gemisch von Leuten des alten und neuen Regimes, aus mehr oder weniger republikanisch gesinnten Royalisten und gemäßigten Republikanern. Niemals bot Paris und seine Gesellschaft einen so seltsamen Anblick dar, als zu der Zeit, in welcher der Konvent in den letzten Zügen lag und die Herrschaft des Direktoriums begann. Die alte Gesellschaft war vernichtet und die neue noch im Entstehen. Die früheren Gewohnheiten und Sitten unverändert wieder aufzunehmen, hätte sich unmöglich mit den republikanischen Grundsätzen, welche ihre Abschaffung herbeigeführt, vereinbart, und die neuen ließen sich nicht von heute bis morgen bestimmen. So lebte jeder, wie er wollte, ungezwungen und frei. Es war eine einzige große Maskerade im Äußern wie im Innern, auf der die „Merveilleuses", die „Muscadins" und die „Jncroyables" die Hauptrollen spielten. Die republikanischen Gewohnheiten und Gebräuche kamen in Verruf; nur einige blieben bestehen. So das Tragen der dreifarbigen Kokarde, die Titel „Bürger" und „Bürgerin" und einige andere. Das während der Schreckens¬ herrschaft übliche Duzen fand keinen Anklang mehr, und man kehrte wieder zu dem vornehmeren „Sie" zurück. Niemals gab es glänzendere, frivolere Festlichkeiten, niemals ausschweifendere Vergnügungen, niemals größere Überspanntheit in Mode und Sitten als unter dem Direktorium! Nach all den wüsten Ereignissen der Revolution, die Thron, Kirche, Aristokratie, Mode und geistiges Leben unter ihren Trümmern begraben hatten, flüchteten sich die Franzosen mit Freuden unter das schützende Dach geregelterer Zustände. Hier winkte ihnen Menschlichkeit und Zivilisation. Wer im Bewußtsein, daß das Morgen dem Heute uicht ähneln, daß binnen kurzem alles anders, alles noch viel schlechter als früher sein könnte, übertrieb man alle Genüsse und machte aus dem feinen, eleganten Paris der vergangenen Jahrhunderte ein großes Tollhaus. Bälle und Festlichkeiten wurden in allen Gegenden der Stadt gegeben, Gelage gefeiert, die lange verbotenen Equipagen erschienen wieder auf den Promenaden und Straßen, eleganter und reicher als zuvor. In den Salons wagte man wieder zu sprechen, wieder eine Meinung zu haben. Auf den Boulevards, in den Champs Elysöes, dein Bois de Boulogne sah man aufs neue vornehme Reiter und Amazonen, reichgeschmückte Livreen und Jockeis. Es gab wieder Herren und Diener und somit auch einen Klassenunterschied, wenngleich man überall Gleichheit und Freiheit predigte. Die Herrschaft des Reichtums trat an Stelle der Herrschaft des Sansculottismus. Aus den Klubs wurden Salons, wenn auch öffentliche Salons, zu denen ein jeder Zutritt hatte. In den vorher ungepflegten, von Kot und Unrat starrenden, schlecht beleuchteten Straßen sah man — freilich auch nicht vor Anfang 1796 — wieder größere Ordnung und Sauberkeit. Reich ausgestattete Läden taten sich auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/315>, abgerufen am 26.05.2024.