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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium

und ließen an Eleganz und Pracht nichts zu wünschen übrig. Durch ihre
Auslagen wurde die vornehme Welt auf die Straßen gelockt. Sie zeigte sich
jetzt überall, in den Theatern, den Cafös, den Restaurants und den zahllosen
neueröffneten Sommergärten. Jeder suchte so schnell und so viel wie möglich
seinen Vergnüguugsdurst zu stillen.

Ganz naturgemäß zeitigte diese plötzliche Verüuderuug in allen Gewohn¬
heiten und Sitten der Gesellschaft die schrecklichste Übertreibung und Ausschreitung.
Wie trunken waren die Menschen vor Freude und Lust. Ihre Begierde nach
Luxus und Sinnesgenüssen schien unersättlich. Es war eine verwirrende Zeit,
in der jeder reich sein wollte, in der Verschwendungssucht zum guten Ton
gehörte. Paris war der Sammelplatz aller Überspanntheiten, alles Großen und
Erhabenen, aber auch alles Gemeinen und Niedrigen! Mehr als je war es
der Treffpunkt aller genialen Menschen, aller Charlatane, aller Redner und
Künstler und aller, die durch Fähigkeiten oder Intrigen hochzukommen hofften.

Nach dem 9. Thermidor zählte man in Paris nicht weniger als sechshundert-
vierundvierzig Bälle. Die Franzosen tanzten! Sie tanzten sich die schreckliche
Erinnerung an eine blutige Zeit hinweg. Es waren jedoch nicht mehr jene
anmutigen Menuetts, Quadrillen, Pas de auatre oder Gavotten, jene vor¬
nehmen Tanzschritte und tiefen Verbeugungen der alten Gesellschaft. Die neue
bedürfte eines mehr physischen Tanzes, eines Tanzes, in den sie ihre ganze
Leidenschaft, ihr Temperament hineinlegen konnte: des Walzers! Er war als
Neuigkeit aus Österreich gekommen, und sofort hatten ihn die Franzosen zu
ihrem Lieblingstonz gemacht.

Arm und Reich, die gute und die schlechte Gesellschaft warf sich in die
Anne Terpsichores. Man tanzte in Holzschuhen und Halstüchern ebensogut wie
in feinen Seidenschuhen, durchsichtigen griechischen oder römischen Gewändern,
im rosa Trikot und im Kothurn. Es gab öffentliche Bälle für zwei Sous die
Runde, aber auch solche für zwölf und vierundzwanzig Sous. Man hatte für
den Geschmack eines jeden Sorge getragen. Die gute Gesellschaft hatte ihre
öffentlichen Bälle, auf die sie wie auf Konzerte und Theater abonnierte. Zu
manchem kostete der Eintritt fünf bis zwanzig Franken. Sie besaßen fast alle
einen besonderen Salon, wo die Damen die fleischfarbenen Trikots wechseln konnten.

Die berühmtesten dieser Bälle waren der im Hotel Biron, dessen Orchester
der beliebte G6rard leitete, dann der Ball im Gleichheitshause, der Harmonieball,
der überaus sinnliche Vauxhallball und der "Bal des Victimes" im Hotel
Thelusson. Zu letztgenanntem Ball hatten nur diejenigen Zutritt, deren
Angehörige auf dem Blutgerüst umgekommen waren. Dort tanzte man in
Trauerkleidern und begrüßte sich mit einem dreimaligen kurzen Kopfnicken, als
wenn des Henkers Beil den Nacken getroffen hätte. Die Damen trugen kurz¬
geschnittenes Haar und ein rotes Band um den Hals; es sollte den blutigen
Streifen des Enthaupteten kennzeichnen. Man tanzte also, wie mau steht, nicht
nur aus Vergnügungslust, sondern auch aus Widerspruch.


Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium

und ließen an Eleganz und Pracht nichts zu wünschen übrig. Durch ihre
Auslagen wurde die vornehme Welt auf die Straßen gelockt. Sie zeigte sich
jetzt überall, in den Theatern, den Cafös, den Restaurants und den zahllosen
neueröffneten Sommergärten. Jeder suchte so schnell und so viel wie möglich
seinen Vergnüguugsdurst zu stillen.

Ganz naturgemäß zeitigte diese plötzliche Verüuderuug in allen Gewohn¬
heiten und Sitten der Gesellschaft die schrecklichste Übertreibung und Ausschreitung.
Wie trunken waren die Menschen vor Freude und Lust. Ihre Begierde nach
Luxus und Sinnesgenüssen schien unersättlich. Es war eine verwirrende Zeit,
in der jeder reich sein wollte, in der Verschwendungssucht zum guten Ton
gehörte. Paris war der Sammelplatz aller Überspanntheiten, alles Großen und
Erhabenen, aber auch alles Gemeinen und Niedrigen! Mehr als je war es
der Treffpunkt aller genialen Menschen, aller Charlatane, aller Redner und
Künstler und aller, die durch Fähigkeiten oder Intrigen hochzukommen hofften.

Nach dem 9. Thermidor zählte man in Paris nicht weniger als sechshundert-
vierundvierzig Bälle. Die Franzosen tanzten! Sie tanzten sich die schreckliche
Erinnerung an eine blutige Zeit hinweg. Es waren jedoch nicht mehr jene
anmutigen Menuetts, Quadrillen, Pas de auatre oder Gavotten, jene vor¬
nehmen Tanzschritte und tiefen Verbeugungen der alten Gesellschaft. Die neue
bedürfte eines mehr physischen Tanzes, eines Tanzes, in den sie ihre ganze
Leidenschaft, ihr Temperament hineinlegen konnte: des Walzers! Er war als
Neuigkeit aus Österreich gekommen, und sofort hatten ihn die Franzosen zu
ihrem Lieblingstonz gemacht.

Arm und Reich, die gute und die schlechte Gesellschaft warf sich in die
Anne Terpsichores. Man tanzte in Holzschuhen und Halstüchern ebensogut wie
in feinen Seidenschuhen, durchsichtigen griechischen oder römischen Gewändern,
im rosa Trikot und im Kothurn. Es gab öffentliche Bälle für zwei Sous die
Runde, aber auch solche für zwölf und vierundzwanzig Sous. Man hatte für
den Geschmack eines jeden Sorge getragen. Die gute Gesellschaft hatte ihre
öffentlichen Bälle, auf die sie wie auf Konzerte und Theater abonnierte. Zu
manchem kostete der Eintritt fünf bis zwanzig Franken. Sie besaßen fast alle
einen besonderen Salon, wo die Damen die fleischfarbenen Trikots wechseln konnten.

Die berühmtesten dieser Bälle waren der im Hotel Biron, dessen Orchester
der beliebte G6rard leitete, dann der Ball im Gleichheitshause, der Harmonieball,
der überaus sinnliche Vauxhallball und der „Bal des Victimes" im Hotel
Thelusson. Zu letztgenanntem Ball hatten nur diejenigen Zutritt, deren
Angehörige auf dem Blutgerüst umgekommen waren. Dort tanzte man in
Trauerkleidern und begrüßte sich mit einem dreimaligen kurzen Kopfnicken, als
wenn des Henkers Beil den Nacken getroffen hätte. Die Damen trugen kurz¬
geschnittenes Haar und ein rotes Band um den Hals; es sollte den blutigen
Streifen des Enthaupteten kennzeichnen. Man tanzte also, wie mau steht, nicht
nur aus Vergnügungslust, sondern auch aus Widerspruch.


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[0316] Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium und ließen an Eleganz und Pracht nichts zu wünschen übrig. Durch ihre Auslagen wurde die vornehme Welt auf die Straßen gelockt. Sie zeigte sich jetzt überall, in den Theatern, den Cafös, den Restaurants und den zahllosen neueröffneten Sommergärten. Jeder suchte so schnell und so viel wie möglich seinen Vergnüguugsdurst zu stillen. Ganz naturgemäß zeitigte diese plötzliche Verüuderuug in allen Gewohn¬ heiten und Sitten der Gesellschaft die schrecklichste Übertreibung und Ausschreitung. Wie trunken waren die Menschen vor Freude und Lust. Ihre Begierde nach Luxus und Sinnesgenüssen schien unersättlich. Es war eine verwirrende Zeit, in der jeder reich sein wollte, in der Verschwendungssucht zum guten Ton gehörte. Paris war der Sammelplatz aller Überspanntheiten, alles Großen und Erhabenen, aber auch alles Gemeinen und Niedrigen! Mehr als je war es der Treffpunkt aller genialen Menschen, aller Charlatane, aller Redner und Künstler und aller, die durch Fähigkeiten oder Intrigen hochzukommen hofften. Nach dem 9. Thermidor zählte man in Paris nicht weniger als sechshundert- vierundvierzig Bälle. Die Franzosen tanzten! Sie tanzten sich die schreckliche Erinnerung an eine blutige Zeit hinweg. Es waren jedoch nicht mehr jene anmutigen Menuetts, Quadrillen, Pas de auatre oder Gavotten, jene vor¬ nehmen Tanzschritte und tiefen Verbeugungen der alten Gesellschaft. Die neue bedürfte eines mehr physischen Tanzes, eines Tanzes, in den sie ihre ganze Leidenschaft, ihr Temperament hineinlegen konnte: des Walzers! Er war als Neuigkeit aus Österreich gekommen, und sofort hatten ihn die Franzosen zu ihrem Lieblingstonz gemacht. Arm und Reich, die gute und die schlechte Gesellschaft warf sich in die Anne Terpsichores. Man tanzte in Holzschuhen und Halstüchern ebensogut wie in feinen Seidenschuhen, durchsichtigen griechischen oder römischen Gewändern, im rosa Trikot und im Kothurn. Es gab öffentliche Bälle für zwei Sous die Runde, aber auch solche für zwölf und vierundzwanzig Sous. Man hatte für den Geschmack eines jeden Sorge getragen. Die gute Gesellschaft hatte ihre öffentlichen Bälle, auf die sie wie auf Konzerte und Theater abonnierte. Zu manchem kostete der Eintritt fünf bis zwanzig Franken. Sie besaßen fast alle einen besonderen Salon, wo die Damen die fleischfarbenen Trikots wechseln konnten. Die berühmtesten dieser Bälle waren der im Hotel Biron, dessen Orchester der beliebte G6rard leitete, dann der Ball im Gleichheitshause, der Harmonieball, der überaus sinnliche Vauxhallball und der „Bal des Victimes" im Hotel Thelusson. Zu letztgenanntem Ball hatten nur diejenigen Zutritt, deren Angehörige auf dem Blutgerüst umgekommen waren. Dort tanzte man in Trauerkleidern und begrüßte sich mit einem dreimaligen kurzen Kopfnicken, als wenn des Henkers Beil den Nacken getroffen hätte. Die Damen trugen kurz¬ geschnittenes Haar und ein rotes Band um den Hals; es sollte den blutigen Streifen des Enthaupteten kennzeichnen. Man tanzte also, wie mau steht, nicht nur aus Vergnügungslust, sondern auch aus Widerspruch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/316>, abgerufen am 17.06.2024.