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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

organische Kraft bedeutet. Ihre hohe, vielseitige Geistesentwicklung beweist --
obwohl sie sich in Wirklichkeit auf eine Auslese beschränkt -- ihre körperliche
und moralische Entkräftung.

Das Gehirn ist nur deshalb so stark entwickelt, weil eine Welt uralter
Ideen und Traditionen darin blüht, und der Preis einer so außerordentlichen
Gehirnverschärfung besteht in der Erschöpfung der natürlichen Energie, der
instinktiven Lebenskraft und des Stärkevorrats. Hypertrophie setzt Atrophie
voraus. Es ist eine Erscheinung, die sich in ähnlicher Weise bei dem Individuum
zeigt: das Geistesleben erreicht seinen Höhepunkt beim Greise, nachdem die
Lebenskräfte erloschen sind. Wenn die Glieder untauglich für den Lebens¬
gebrauch geworden sind, steigt das Leben empor und sucht Zuflucht im Gehirn.

Der Anspruch auf "Idealismus" -- im Sinne von Antirealismus auf¬
gefaßt -- und der beständige Appell ans "Ideale" ist in meinen Augen gleich"
bedeutend mit dem Zugeständnis einer Inferiorität in bezug auf reale Dinge.
Der Idealismus ist dann nichts weiter als ein Deckmantel für Schwäche und
Ohnmacht.

Deshalb halte ich folgendes für ein Lebensgesetz der Völker: äußerste
Kompliziertheit des geistigen Lebens ist ein Beweis für die Entartung des
gesellschaftlichen Organismus! Starke und gesunde Völker, die ihre Zukunft
noch vor sich haben, sind einfach im Denken und Empfinden. Höchste Ver¬
feinerung auf einer Seite bedeutet Abnutzung und Ermattung auf der andern.

Es gibt in der Vergangenheit gewiß sehr lehrreiche Beispiele, die nicht
vergessen werden dürfen. Athen, Alexandria, Rom und Bvzanz erstrahlten am
Vorabend ihrer sozialen Vernichtung im höchsten intellektuellen Glanz. Von
innern Schäden zerfressen und in vollständiger organischer Auflösung begriffen,
standen sie in philosophischer und literarischer, in künstlerischer und wissenschaft¬
licher Hinsicht auf der Höhe. Auch jene Städte waren zu ihren Zeiten Mittel¬
punkte, die alle intellektuell begierigen Blicke auf sich zogen. Die Völker, die
sie umringten, waren in ihren Augen nichts weiter als Barbaren, und waren
es auch wirklich, deun da sie jung und frisch und einzig und allein bestrebt
waren, sich am Leben zu erhalten und ihren Platz an der Sonne zu erobern,
so befand sich ihr Gehirn noch in beinah jungfräulichen Zustande. Und doch --
wo war Leben, Kraft und Zukunft? Auf welcher Seite lag die Überlegenheit:
auf der Seite der Intellektuellen oder auf der Seite der Ungebildeten? Die
Geschichte gibt uns Antwort.

Beschränken wir uns auf das Beispiel von Griechenland. Stellen wir uns
die Lage der griechischen Welt anderthalb Jahrhunderte vor Beginn der christ¬
lichen Ära vor, als der Römer bereits vor den Toren seiner Städte stand.
Es ist ein typisches SchauspielI Auf einer Seite das kleine hellenische Volk,
reich an Traditionen, übersättigt mit Kunst, Philosophie und Literatur, mit
Recht voller Stolz auf seine intellektuelle Vergangenheit: ein Elitevolk, das
Jahrhunderte der Kultur und Verfeinerung in sich vereinigte, das geradezu


Intellektualismus und Dekadenz

organische Kraft bedeutet. Ihre hohe, vielseitige Geistesentwicklung beweist —
obwohl sie sich in Wirklichkeit auf eine Auslese beschränkt — ihre körperliche
und moralische Entkräftung.

Das Gehirn ist nur deshalb so stark entwickelt, weil eine Welt uralter
Ideen und Traditionen darin blüht, und der Preis einer so außerordentlichen
Gehirnverschärfung besteht in der Erschöpfung der natürlichen Energie, der
instinktiven Lebenskraft und des Stärkevorrats. Hypertrophie setzt Atrophie
voraus. Es ist eine Erscheinung, die sich in ähnlicher Weise bei dem Individuum
zeigt: das Geistesleben erreicht seinen Höhepunkt beim Greise, nachdem die
Lebenskräfte erloschen sind. Wenn die Glieder untauglich für den Lebens¬
gebrauch geworden sind, steigt das Leben empor und sucht Zuflucht im Gehirn.

Der Anspruch auf „Idealismus" — im Sinne von Antirealismus auf¬
gefaßt — und der beständige Appell ans „Ideale" ist in meinen Augen gleich»
bedeutend mit dem Zugeständnis einer Inferiorität in bezug auf reale Dinge.
Der Idealismus ist dann nichts weiter als ein Deckmantel für Schwäche und
Ohnmacht.

Deshalb halte ich folgendes für ein Lebensgesetz der Völker: äußerste
Kompliziertheit des geistigen Lebens ist ein Beweis für die Entartung des
gesellschaftlichen Organismus! Starke und gesunde Völker, die ihre Zukunft
noch vor sich haben, sind einfach im Denken und Empfinden. Höchste Ver¬
feinerung auf einer Seite bedeutet Abnutzung und Ermattung auf der andern.

Es gibt in der Vergangenheit gewiß sehr lehrreiche Beispiele, die nicht
vergessen werden dürfen. Athen, Alexandria, Rom und Bvzanz erstrahlten am
Vorabend ihrer sozialen Vernichtung im höchsten intellektuellen Glanz. Von
innern Schäden zerfressen und in vollständiger organischer Auflösung begriffen,
standen sie in philosophischer und literarischer, in künstlerischer und wissenschaft¬
licher Hinsicht auf der Höhe. Auch jene Städte waren zu ihren Zeiten Mittel¬
punkte, die alle intellektuell begierigen Blicke auf sich zogen. Die Völker, die
sie umringten, waren in ihren Augen nichts weiter als Barbaren, und waren
es auch wirklich, deun da sie jung und frisch und einzig und allein bestrebt
waren, sich am Leben zu erhalten und ihren Platz an der Sonne zu erobern,
so befand sich ihr Gehirn noch in beinah jungfräulichen Zustande. Und doch —
wo war Leben, Kraft und Zukunft? Auf welcher Seite lag die Überlegenheit:
auf der Seite der Intellektuellen oder auf der Seite der Ungebildeten? Die
Geschichte gibt uns Antwort.

Beschränken wir uns auf das Beispiel von Griechenland. Stellen wir uns
die Lage der griechischen Welt anderthalb Jahrhunderte vor Beginn der christ¬
lichen Ära vor, als der Römer bereits vor den Toren seiner Städte stand.
Es ist ein typisches SchauspielI Auf einer Seite das kleine hellenische Volk,
reich an Traditionen, übersättigt mit Kunst, Philosophie und Literatur, mit
Recht voller Stolz auf seine intellektuelle Vergangenheit: ein Elitevolk, das
Jahrhunderte der Kultur und Verfeinerung in sich vereinigte, das geradezu


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[0033] Intellektualismus und Dekadenz organische Kraft bedeutet. Ihre hohe, vielseitige Geistesentwicklung beweist — obwohl sie sich in Wirklichkeit auf eine Auslese beschränkt — ihre körperliche und moralische Entkräftung. Das Gehirn ist nur deshalb so stark entwickelt, weil eine Welt uralter Ideen und Traditionen darin blüht, und der Preis einer so außerordentlichen Gehirnverschärfung besteht in der Erschöpfung der natürlichen Energie, der instinktiven Lebenskraft und des Stärkevorrats. Hypertrophie setzt Atrophie voraus. Es ist eine Erscheinung, die sich in ähnlicher Weise bei dem Individuum zeigt: das Geistesleben erreicht seinen Höhepunkt beim Greise, nachdem die Lebenskräfte erloschen sind. Wenn die Glieder untauglich für den Lebens¬ gebrauch geworden sind, steigt das Leben empor und sucht Zuflucht im Gehirn. Der Anspruch auf „Idealismus" — im Sinne von Antirealismus auf¬ gefaßt — und der beständige Appell ans „Ideale" ist in meinen Augen gleich» bedeutend mit dem Zugeständnis einer Inferiorität in bezug auf reale Dinge. Der Idealismus ist dann nichts weiter als ein Deckmantel für Schwäche und Ohnmacht. Deshalb halte ich folgendes für ein Lebensgesetz der Völker: äußerste Kompliziertheit des geistigen Lebens ist ein Beweis für die Entartung des gesellschaftlichen Organismus! Starke und gesunde Völker, die ihre Zukunft noch vor sich haben, sind einfach im Denken und Empfinden. Höchste Ver¬ feinerung auf einer Seite bedeutet Abnutzung und Ermattung auf der andern. Es gibt in der Vergangenheit gewiß sehr lehrreiche Beispiele, die nicht vergessen werden dürfen. Athen, Alexandria, Rom und Bvzanz erstrahlten am Vorabend ihrer sozialen Vernichtung im höchsten intellektuellen Glanz. Von innern Schäden zerfressen und in vollständiger organischer Auflösung begriffen, standen sie in philosophischer und literarischer, in künstlerischer und wissenschaft¬ licher Hinsicht auf der Höhe. Auch jene Städte waren zu ihren Zeiten Mittel¬ punkte, die alle intellektuell begierigen Blicke auf sich zogen. Die Völker, die sie umringten, waren in ihren Augen nichts weiter als Barbaren, und waren es auch wirklich, deun da sie jung und frisch und einzig und allein bestrebt waren, sich am Leben zu erhalten und ihren Platz an der Sonne zu erobern, so befand sich ihr Gehirn noch in beinah jungfräulichen Zustande. Und doch — wo war Leben, Kraft und Zukunft? Auf welcher Seite lag die Überlegenheit: auf der Seite der Intellektuellen oder auf der Seite der Ungebildeten? Die Geschichte gibt uns Antwort. Beschränken wir uns auf das Beispiel von Griechenland. Stellen wir uns die Lage der griechischen Welt anderthalb Jahrhunderte vor Beginn der christ¬ lichen Ära vor, als der Römer bereits vor den Toren seiner Städte stand. Es ist ein typisches SchauspielI Auf einer Seite das kleine hellenische Volk, reich an Traditionen, übersättigt mit Kunst, Philosophie und Literatur, mit Recht voller Stolz auf seine intellektuelle Vergangenheit: ein Elitevolk, das Jahrhunderte der Kultur und Verfeinerung in sich vereinigte, das geradezu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/33>, abgerufen am 26.05.2024.