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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

prächtige Organismus ist innerlich zerfressen und scheint nur auf den Ellbogenstoß
eines Passanten zu warten, der ihn zum Taumeln bringt und den endgültigen
Zusammensturz herbeiführt. Deshalb scheint die blonde Bestie des Nordens,
die ebenso viel intensive Kraft muss Leben verwendet, wie der Mensch uralter
Zivilisationen auf Gedanken und Empfindungen, nur eine Aufgabe der kosmischen
Hygiene zu verrichten, indem sie ihre unbewußt reinigenden Fluten über diese
wunderbare Blüte vielhundertjähriger Kultur ergießt.

Das ist meine Auslegung jenes vom Kulturvorrang der Völker hergeleiteten
Arguments -- im Gegensatz zu der landläufigen Auffassung. Was andern
verheißungsvoll erscheint, ist in meinen Augen eine Gefahr. Ich zittere für die
Zukunft der mit Kultur durchtränkten Völker. Ich sehe das am Horizont
ihres Geschickes auftauchen, was die naiven Bildermaler unter der Gestalt des
Todesengels mit der furchtbaren Sense darzustellen pflegten. Und das kommt daher,
daß ich nicht nur die höchsten Schöpfungen der Zivilisation und ihre Gipfel
und Blüten betrachte, sondern das große Ganze, im'auch die Glieder, die Muskeln
und die Hände, die Stärke, die Äste und den Stamm des sozialen Lebensbaums.

Der erfahrene und hochgebildete Greis kann den nur mit natürlicher Kraft
und gesundem Lebensinstinkt begabte,: Jüngling mißachten, ohne in meinen
Augen recht zu haben. Welcher von beiden besitzt Stärke und Lebenskraft,
diese höchsten Güter des Lebens?

Wenn man sich so leicht durch den Schein der Überlegenheit alter
Zivilisationen mit entkräfteter Gehirnen und Nerven täuschen läßt, so liegt es
vor allem daran, daß man gewöhnlich nicht weiß, was die wirkliche Stärke
eines Volkes ausmacht, worauf seine Zuversicht auf die Zukunft beruht.
Wir haben soeben festgestellt, daß einige der glänzendsten Zivilisationsepochen
der Vergangenheit sich am Vorabend des Niedergangs entfaltet haben, und daß
der hohe Grad geistiger Verfeinerung eines Volkes nicht beweist, daß es mit
seiner Stärke gut bestellt ist. Nicht die Intellektuellen sind es, in denen die Lebens¬
kraft eines Volkes besteht, sondern der Durchschnitt, der große Haufe.
Eine Nation ist stark, wenn sie eine Durchschnittssumme von einigermaßen
intelligenten, nicht allzu angeregten, aber recht energischen Individuen besitzt,
die charakterfest, langsam und schwerfällig ist und instinktmäßig un.d sicher
vorwärts schreitet. Diese sind es, die Schöpferkraft besitzen und die unbewußt,
wie der Tag auf die Nacht folgt, zeugen, arbeiten und fortschreiten. Dieser
Durchschnitt ist es, der den Gehalt eines Volkes und seine Zukunft aus¬
macht. Ein solches Volk muß noch weite unbebaute Gebiete und Mengen von
rohen, ungehobener Schätzen in sich tragen: fehlt es ihm an solchen natürlichen
Hilfsquellen, so steht sein Untergang nach kurzer oder langer Frist sicher bevor.
Wie kann man festen Schritts im Leben vorwärtsschreiten, wenn mau ein
Greisengehirn besitzt, das mit uralten Dingen und Traditionen vollgepfropft,
ist, -- ein tyrannisches und fossiles Gehirn? Ein Übermaß von Intelligenz
erzeugt hauptsächlich Untätigkeit, Zersetzung und folglich Dekadenz. Ein allzu


Intellektualismus und Dekadenz

prächtige Organismus ist innerlich zerfressen und scheint nur auf den Ellbogenstoß
eines Passanten zu warten, der ihn zum Taumeln bringt und den endgültigen
Zusammensturz herbeiführt. Deshalb scheint die blonde Bestie des Nordens,
die ebenso viel intensive Kraft muss Leben verwendet, wie der Mensch uralter
Zivilisationen auf Gedanken und Empfindungen, nur eine Aufgabe der kosmischen
Hygiene zu verrichten, indem sie ihre unbewußt reinigenden Fluten über diese
wunderbare Blüte vielhundertjähriger Kultur ergießt.

Das ist meine Auslegung jenes vom Kulturvorrang der Völker hergeleiteten
Arguments — im Gegensatz zu der landläufigen Auffassung. Was andern
verheißungsvoll erscheint, ist in meinen Augen eine Gefahr. Ich zittere für die
Zukunft der mit Kultur durchtränkten Völker. Ich sehe das am Horizont
ihres Geschickes auftauchen, was die naiven Bildermaler unter der Gestalt des
Todesengels mit der furchtbaren Sense darzustellen pflegten. Und das kommt daher,
daß ich nicht nur die höchsten Schöpfungen der Zivilisation und ihre Gipfel
und Blüten betrachte, sondern das große Ganze, im'auch die Glieder, die Muskeln
und die Hände, die Stärke, die Äste und den Stamm des sozialen Lebensbaums.

Der erfahrene und hochgebildete Greis kann den nur mit natürlicher Kraft
und gesundem Lebensinstinkt begabte,: Jüngling mißachten, ohne in meinen
Augen recht zu haben. Welcher von beiden besitzt Stärke und Lebenskraft,
diese höchsten Güter des Lebens?

Wenn man sich so leicht durch den Schein der Überlegenheit alter
Zivilisationen mit entkräfteter Gehirnen und Nerven täuschen läßt, so liegt es
vor allem daran, daß man gewöhnlich nicht weiß, was die wirkliche Stärke
eines Volkes ausmacht, worauf seine Zuversicht auf die Zukunft beruht.
Wir haben soeben festgestellt, daß einige der glänzendsten Zivilisationsepochen
der Vergangenheit sich am Vorabend des Niedergangs entfaltet haben, und daß
der hohe Grad geistiger Verfeinerung eines Volkes nicht beweist, daß es mit
seiner Stärke gut bestellt ist. Nicht die Intellektuellen sind es, in denen die Lebens¬
kraft eines Volkes besteht, sondern der Durchschnitt, der große Haufe.
Eine Nation ist stark, wenn sie eine Durchschnittssumme von einigermaßen
intelligenten, nicht allzu angeregten, aber recht energischen Individuen besitzt,
die charakterfest, langsam und schwerfällig ist und instinktmäßig un.d sicher
vorwärts schreitet. Diese sind es, die Schöpferkraft besitzen und die unbewußt,
wie der Tag auf die Nacht folgt, zeugen, arbeiten und fortschreiten. Dieser
Durchschnitt ist es, der den Gehalt eines Volkes und seine Zukunft aus¬
macht. Ein solches Volk muß noch weite unbebaute Gebiete und Mengen von
rohen, ungehobener Schätzen in sich tragen: fehlt es ihm an solchen natürlichen
Hilfsquellen, so steht sein Untergang nach kurzer oder langer Frist sicher bevor.
Wie kann man festen Schritts im Leben vorwärtsschreiten, wenn mau ein
Greisengehirn besitzt, das mit uralten Dingen und Traditionen vollgepfropft,
ist, — ein tyrannisches und fossiles Gehirn? Ein Übermaß von Intelligenz
erzeugt hauptsächlich Untätigkeit, Zersetzung und folglich Dekadenz. Ein allzu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/35>, abgerufen am 19.05.2024.