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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

wohl das Individuum ivie die sozialen Organismen beherrscht, die mit einem
Wort die einzige unerläßliche ist: Energie. Die Energie, die alles
übertrifft und alles bewirkt, die zugleich die bloße körperliche Energie -- diese
Blüte gesunder uyd mächtiger Organismen -- und die innere, die Energie des
Gewissens in sich schließt, die die Stetigkeit der Anstrengung, die Beharrlichkeit
der Entwicklung, Geduld und Ausdauer mit sich bringt, und das schweigsame,
hartnäckige, instinktive, unerschütterliche Vorrücken dem Ziele zu -- und der
hysterische Erregung, nutzlose und alberne Wut, Schwankungen, Un¬
schlüssigkeiten und Verzerrungen widerstreben. Alle anderen sozialen Eigen¬
schaften mögen wertvoll und köstlich sein; wenn aber diese fehlen, so mangelt
es an der eigentlichen Grundlage.

Ich denke mir, daß Goethe etwas ähnliches gemeint hat, als er zu
Eckermann sagte: "Die Franzosen habe,: Verstand und Geist, aber kein Fun¬
dament und keine Pietät", wobei er unter "Pietät" den Glauben an die
großen Naturgesetze und Ehrfurcht vor den unausweichlichen und wohltätigen
Normen des Kosmos verstand. Um den tiefen Gegensatz zwischen den Prin¬
zipien, von denen die lateinische und germanische Zivilisation beherrscht sind,
klar auszudrücken, könnte man auch sagen, daß jene in demselben Verhältnis
zu dieser steht, wie ein Ziergarten voll prächtiger, berauschend duftender Blumen
zu einem kunst- und schmucklose" Acker. Die blühende Einfriedigung schmeichelt
dem Auge und betäubt das Gehirn: dennoch ist es das anscheinend gewöhnliche
und urwüchsige Gemüseland, das dem Menschen Blut und Muskeln verleiht.
Und dieses ist es auch, das am letzten Ende mehr wahre Schönheit im
Schoße trägt.

Unter dem hypnotischen Einfluß des Gipfels einer Zivilisation unter¬
scheidet man nicht scharf genug zwischen dem Intellekt und dem Charakter,
d. h. zwischen der geistigen Fruchtbarkeit und dem moralischen Wert, zwischen
den Anlagen für intellektuelles Schaffen und den Anlagen für schöpferische
Lebenstätigkeit. Ein sehr bedauerlicher Fehler, der viele trügerische Urteile
hervorbringt! Man läßt sich vom Anschein blenden. Man staunt über das
wahrhaft staunenswerte Schauspiel, das von einer Auslese von Denkern, Schrift¬
stellern, Künstlern, Rednern und überintelligenten, übersensitiven Menschen
geboten wird. Gewiß, ein bewunderungswürdiges Schauspiel! Aber man
muß auch die Masse, die annähernde Gesamtheit betrachten. . . Dann tritt der
ungeheure Gegensatz und das innere Elend zutage. Da finden wir keinen
Charakter, sondern nur Gleichgültigkeit, Routine, Unschlüssigkeit und Schlaffheit.
In unserer Geschichte, sowohl der römischen Zeit wie des sechzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts, herrscht Mangel an Charakter vor, -- trotz aller helden¬
mütigen und glanzvollen Taten, an denen sie so reich ist. Und immer ist es Charakter¬
mangel gewesen, an welchem die großen Nationen bei jenen furchtbaren
historischen Zusammendrücken scheiterten, die ein unterm Deckmantel äußer¬
lichen glänzenden Wohlergehens verborgenes ungeheures Elend enthüllten.


Grenzvoien it 1910 4
Intellektualismus und Dekadenz

wohl das Individuum ivie die sozialen Organismen beherrscht, die mit einem
Wort die einzige unerläßliche ist: Energie. Die Energie, die alles
übertrifft und alles bewirkt, die zugleich die bloße körperliche Energie — diese
Blüte gesunder uyd mächtiger Organismen — und die innere, die Energie des
Gewissens in sich schließt, die die Stetigkeit der Anstrengung, die Beharrlichkeit
der Entwicklung, Geduld und Ausdauer mit sich bringt, und das schweigsame,
hartnäckige, instinktive, unerschütterliche Vorrücken dem Ziele zu — und der
hysterische Erregung, nutzlose und alberne Wut, Schwankungen, Un¬
schlüssigkeiten und Verzerrungen widerstreben. Alle anderen sozialen Eigen¬
schaften mögen wertvoll und köstlich sein; wenn aber diese fehlen, so mangelt
es an der eigentlichen Grundlage.

Ich denke mir, daß Goethe etwas ähnliches gemeint hat, als er zu
Eckermann sagte: „Die Franzosen habe,: Verstand und Geist, aber kein Fun¬
dament und keine Pietät", wobei er unter „Pietät" den Glauben an die
großen Naturgesetze und Ehrfurcht vor den unausweichlichen und wohltätigen
Normen des Kosmos verstand. Um den tiefen Gegensatz zwischen den Prin¬
zipien, von denen die lateinische und germanische Zivilisation beherrscht sind,
klar auszudrücken, könnte man auch sagen, daß jene in demselben Verhältnis
zu dieser steht, wie ein Ziergarten voll prächtiger, berauschend duftender Blumen
zu einem kunst- und schmucklose» Acker. Die blühende Einfriedigung schmeichelt
dem Auge und betäubt das Gehirn: dennoch ist es das anscheinend gewöhnliche
und urwüchsige Gemüseland, das dem Menschen Blut und Muskeln verleiht.
Und dieses ist es auch, das am letzten Ende mehr wahre Schönheit im
Schoße trägt.

Unter dem hypnotischen Einfluß des Gipfels einer Zivilisation unter¬
scheidet man nicht scharf genug zwischen dem Intellekt und dem Charakter,
d. h. zwischen der geistigen Fruchtbarkeit und dem moralischen Wert, zwischen
den Anlagen für intellektuelles Schaffen und den Anlagen für schöpferische
Lebenstätigkeit. Ein sehr bedauerlicher Fehler, der viele trügerische Urteile
hervorbringt! Man läßt sich vom Anschein blenden. Man staunt über das
wahrhaft staunenswerte Schauspiel, das von einer Auslese von Denkern, Schrift¬
stellern, Künstlern, Rednern und überintelligenten, übersensitiven Menschen
geboten wird. Gewiß, ein bewunderungswürdiges Schauspiel! Aber man
muß auch die Masse, die annähernde Gesamtheit betrachten. . . Dann tritt der
ungeheure Gegensatz und das innere Elend zutage. Da finden wir keinen
Charakter, sondern nur Gleichgültigkeit, Routine, Unschlüssigkeit und Schlaffheit.
In unserer Geschichte, sowohl der römischen Zeit wie des sechzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts, herrscht Mangel an Charakter vor, — trotz aller helden¬
mütigen und glanzvollen Taten, an denen sie so reich ist. Und immer ist es Charakter¬
mangel gewesen, an welchem die großen Nationen bei jenen furchtbaren
historischen Zusammendrücken scheiterten, die ein unterm Deckmantel äußer¬
lichen glänzenden Wohlergehens verborgenes ungeheures Elend enthüllten.


Grenzvoien it 1910 4
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[0037] Intellektualismus und Dekadenz wohl das Individuum ivie die sozialen Organismen beherrscht, die mit einem Wort die einzige unerläßliche ist: Energie. Die Energie, die alles übertrifft und alles bewirkt, die zugleich die bloße körperliche Energie — diese Blüte gesunder uyd mächtiger Organismen — und die innere, die Energie des Gewissens in sich schließt, die die Stetigkeit der Anstrengung, die Beharrlichkeit der Entwicklung, Geduld und Ausdauer mit sich bringt, und das schweigsame, hartnäckige, instinktive, unerschütterliche Vorrücken dem Ziele zu — und der hysterische Erregung, nutzlose und alberne Wut, Schwankungen, Un¬ schlüssigkeiten und Verzerrungen widerstreben. Alle anderen sozialen Eigen¬ schaften mögen wertvoll und köstlich sein; wenn aber diese fehlen, so mangelt es an der eigentlichen Grundlage. Ich denke mir, daß Goethe etwas ähnliches gemeint hat, als er zu Eckermann sagte: „Die Franzosen habe,: Verstand und Geist, aber kein Fun¬ dament und keine Pietät", wobei er unter „Pietät" den Glauben an die großen Naturgesetze und Ehrfurcht vor den unausweichlichen und wohltätigen Normen des Kosmos verstand. Um den tiefen Gegensatz zwischen den Prin¬ zipien, von denen die lateinische und germanische Zivilisation beherrscht sind, klar auszudrücken, könnte man auch sagen, daß jene in demselben Verhältnis zu dieser steht, wie ein Ziergarten voll prächtiger, berauschend duftender Blumen zu einem kunst- und schmucklose» Acker. Die blühende Einfriedigung schmeichelt dem Auge und betäubt das Gehirn: dennoch ist es das anscheinend gewöhnliche und urwüchsige Gemüseland, das dem Menschen Blut und Muskeln verleiht. Und dieses ist es auch, das am letzten Ende mehr wahre Schönheit im Schoße trägt. Unter dem hypnotischen Einfluß des Gipfels einer Zivilisation unter¬ scheidet man nicht scharf genug zwischen dem Intellekt und dem Charakter, d. h. zwischen der geistigen Fruchtbarkeit und dem moralischen Wert, zwischen den Anlagen für intellektuelles Schaffen und den Anlagen für schöpferische Lebenstätigkeit. Ein sehr bedauerlicher Fehler, der viele trügerische Urteile hervorbringt! Man läßt sich vom Anschein blenden. Man staunt über das wahrhaft staunenswerte Schauspiel, das von einer Auslese von Denkern, Schrift¬ stellern, Künstlern, Rednern und überintelligenten, übersensitiven Menschen geboten wird. Gewiß, ein bewunderungswürdiges Schauspiel! Aber man muß auch die Masse, die annähernde Gesamtheit betrachten. . . Dann tritt der ungeheure Gegensatz und das innere Elend zutage. Da finden wir keinen Charakter, sondern nur Gleichgültigkeit, Routine, Unschlüssigkeit und Schlaffheit. In unserer Geschichte, sowohl der römischen Zeit wie des sechzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, herrscht Mangel an Charakter vor, — trotz aller helden¬ mütigen und glanzvollen Taten, an denen sie so reich ist. Und immer ist es Charakter¬ mangel gewesen, an welchem die großen Nationen bei jenen furchtbaren historischen Zusammendrücken scheiterten, die ein unterm Deckmantel äußer¬ lichen glänzenden Wohlergehens verborgenes ungeheures Elend enthüllten. Grenzvoien it 1910 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/37>, abgerufen am 26.05.2024.