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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

Überdies müßte der Wert dieses Geisteslebens und dieser hohen Zivilisation
-- dieser Quelle unsres Überlegenheitsgefühls und des Überrestes von Nimbus,
den wir noch genießen -- etwas eingehender beleuchtet werden, als ich es hier
zu tun vermag. Ich bestreite keineswegs, daß Frankreich in der Gesamtheit
der lateinischen Welt an erster Stelle steht, noch daß es der ganzen Welt
gegenüber in gewissen Zweigen menschlichen Wissens und der Industrie die
Vorherrschaft ausübt. Aber die Vorzüge dieser verhältnismäßig hervorragenden
Stellung und gewisser vereinzelter Überlegenheiten vermögen mich nicht zu
widerlegen.

Eilt Milieu ungemeiner Zivilisation, Verfeinerung und Kultur, wie Jahr¬
hunderte der Intellektualität. Eleganz und feinen Empfindung es hervorbringen,
hat natürlich erhebliche Vorzüge. Es verleiht den Geistern eine Leichtigkeit, eine
Geschmeidigkeit, einen Glanz und eine Empfänglichkeit, die langsam und schwer¬
fällig denkende Völker nicht kennen. Das tägliche Umgehen mit Ideen, die
Übung in geistigen Dingen erzeugt einen Skeptizismus, der den Menschen
befähigt, die Welt und das Leben von oben herab mit überlegener Unbefangenheit
zu betrachten. Die Eigenart des echten Lateiners besteht darin, dein Weltschauspiel
als von allem zurückgekommener Dilettant beizuwohnen. Wir Eklektiker und
Skeptiker haben nur ein schlaues Lächeln für Dinge, in denen das Individuum
gesunderer Zivilisationen einen Beweggrund für entschlossenes Vorrücken oder
Zurückweichet:, für Ansturm, Begeisterung oder Kampf erblickt. Wir haben eine
so uralte Tradition und einen so großen Vorrat von Erfahrungen hinter uns,
daß wir uns erlauben dürfen, gleichgültig zu sein und unterm Anschein der
Satire oder Heiterkeit im Innern unsrer Seele die höchste Verachtung für die
ganze Welt zu empfinden. Das ist sehr schön, denn es gestattet uns, in
Momenten, wo andre arbeiten und kämpfen, den sorglosen, erhabenen Zuschauer
zu spielen. Aber vielleicht sollte man sich doch fragen, ob mit diesem augen¬
scheinlichen Vorteil nicht eine geheime Ursache der Minderwertigkeit und deS
Niedergangs verbunden ist. Der Skeptizismus und die Erhabenheit, die Philosophie
des "leichten Herzens" haben ihren Platz in unserm Leben; aber machen sie
das ganze Dasein aus? Das übcrgeistigte Wesen hoher Zivilisationen bezahlt
seine Überlegenheit mit einem Mangel an Glauben an die Dinge. Was ist
aber das Leben ohne einen festen, innigen und tatkräftigen Glauben? Der
Glaube ist die Seele der Tat, ebenso wie die Tat die Seele des Lebens ist.
Von nun an hat der Intellektuelle nur die Illusion des Lebens, statt wirklich
zu leben. Das Geschöpf, das sich den Glauben und die Unbefangenheit deS
einfachen gesunden Naturmenschen bewahrt hat, tritt dagegen mit der Außenwelt
in Berührung, beeinflußt sie und wird von ihr beeinflußt. Es lebt mitten
zwischen Wirklichkeiten und bewahrt sich dadurch die Schaffens- und Tatkraft.
Und das Ergebnis? Da im Lauf der Welt nun einmal alles Arbeit und Bewegung
ist, wird der allzu durchgeistigte und empfindsame Mensch von denjenigen überholt,
die er als rohe, tief unter ihm stehende Barbaren betrachtet.


Intellektualismus und Dekadenz

Überdies müßte der Wert dieses Geisteslebens und dieser hohen Zivilisation
— dieser Quelle unsres Überlegenheitsgefühls und des Überrestes von Nimbus,
den wir noch genießen — etwas eingehender beleuchtet werden, als ich es hier
zu tun vermag. Ich bestreite keineswegs, daß Frankreich in der Gesamtheit
der lateinischen Welt an erster Stelle steht, noch daß es der ganzen Welt
gegenüber in gewissen Zweigen menschlichen Wissens und der Industrie die
Vorherrschaft ausübt. Aber die Vorzüge dieser verhältnismäßig hervorragenden
Stellung und gewisser vereinzelter Überlegenheiten vermögen mich nicht zu
widerlegen.

Eilt Milieu ungemeiner Zivilisation, Verfeinerung und Kultur, wie Jahr¬
hunderte der Intellektualität. Eleganz und feinen Empfindung es hervorbringen,
hat natürlich erhebliche Vorzüge. Es verleiht den Geistern eine Leichtigkeit, eine
Geschmeidigkeit, einen Glanz und eine Empfänglichkeit, die langsam und schwer¬
fällig denkende Völker nicht kennen. Das tägliche Umgehen mit Ideen, die
Übung in geistigen Dingen erzeugt einen Skeptizismus, der den Menschen
befähigt, die Welt und das Leben von oben herab mit überlegener Unbefangenheit
zu betrachten. Die Eigenart des echten Lateiners besteht darin, dein Weltschauspiel
als von allem zurückgekommener Dilettant beizuwohnen. Wir Eklektiker und
Skeptiker haben nur ein schlaues Lächeln für Dinge, in denen das Individuum
gesunderer Zivilisationen einen Beweggrund für entschlossenes Vorrücken oder
Zurückweichet:, für Ansturm, Begeisterung oder Kampf erblickt. Wir haben eine
so uralte Tradition und einen so großen Vorrat von Erfahrungen hinter uns,
daß wir uns erlauben dürfen, gleichgültig zu sein und unterm Anschein der
Satire oder Heiterkeit im Innern unsrer Seele die höchste Verachtung für die
ganze Welt zu empfinden. Das ist sehr schön, denn es gestattet uns, in
Momenten, wo andre arbeiten und kämpfen, den sorglosen, erhabenen Zuschauer
zu spielen. Aber vielleicht sollte man sich doch fragen, ob mit diesem augen¬
scheinlichen Vorteil nicht eine geheime Ursache der Minderwertigkeit und deS
Niedergangs verbunden ist. Der Skeptizismus und die Erhabenheit, die Philosophie
des „leichten Herzens" haben ihren Platz in unserm Leben; aber machen sie
das ganze Dasein aus? Das übcrgeistigte Wesen hoher Zivilisationen bezahlt
seine Überlegenheit mit einem Mangel an Glauben an die Dinge. Was ist
aber das Leben ohne einen festen, innigen und tatkräftigen Glauben? Der
Glaube ist die Seele der Tat, ebenso wie die Tat die Seele des Lebens ist.
Von nun an hat der Intellektuelle nur die Illusion des Lebens, statt wirklich
zu leben. Das Geschöpf, das sich den Glauben und die Unbefangenheit deS
einfachen gesunden Naturmenschen bewahrt hat, tritt dagegen mit der Außenwelt
in Berührung, beeinflußt sie und wird von ihr beeinflußt. Es lebt mitten
zwischen Wirklichkeiten und bewahrt sich dadurch die Schaffens- und Tatkraft.
Und das Ergebnis? Da im Lauf der Welt nun einmal alles Arbeit und Bewegung
ist, wird der allzu durchgeistigte und empfindsame Mensch von denjenigen überholt,
die er als rohe, tief unter ihm stehende Barbaren betrachtet.


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[0038] Intellektualismus und Dekadenz Überdies müßte der Wert dieses Geisteslebens und dieser hohen Zivilisation — dieser Quelle unsres Überlegenheitsgefühls und des Überrestes von Nimbus, den wir noch genießen — etwas eingehender beleuchtet werden, als ich es hier zu tun vermag. Ich bestreite keineswegs, daß Frankreich in der Gesamtheit der lateinischen Welt an erster Stelle steht, noch daß es der ganzen Welt gegenüber in gewissen Zweigen menschlichen Wissens und der Industrie die Vorherrschaft ausübt. Aber die Vorzüge dieser verhältnismäßig hervorragenden Stellung und gewisser vereinzelter Überlegenheiten vermögen mich nicht zu widerlegen. Eilt Milieu ungemeiner Zivilisation, Verfeinerung und Kultur, wie Jahr¬ hunderte der Intellektualität. Eleganz und feinen Empfindung es hervorbringen, hat natürlich erhebliche Vorzüge. Es verleiht den Geistern eine Leichtigkeit, eine Geschmeidigkeit, einen Glanz und eine Empfänglichkeit, die langsam und schwer¬ fällig denkende Völker nicht kennen. Das tägliche Umgehen mit Ideen, die Übung in geistigen Dingen erzeugt einen Skeptizismus, der den Menschen befähigt, die Welt und das Leben von oben herab mit überlegener Unbefangenheit zu betrachten. Die Eigenart des echten Lateiners besteht darin, dein Weltschauspiel als von allem zurückgekommener Dilettant beizuwohnen. Wir Eklektiker und Skeptiker haben nur ein schlaues Lächeln für Dinge, in denen das Individuum gesunderer Zivilisationen einen Beweggrund für entschlossenes Vorrücken oder Zurückweichet:, für Ansturm, Begeisterung oder Kampf erblickt. Wir haben eine so uralte Tradition und einen so großen Vorrat von Erfahrungen hinter uns, daß wir uns erlauben dürfen, gleichgültig zu sein und unterm Anschein der Satire oder Heiterkeit im Innern unsrer Seele die höchste Verachtung für die ganze Welt zu empfinden. Das ist sehr schön, denn es gestattet uns, in Momenten, wo andre arbeiten und kämpfen, den sorglosen, erhabenen Zuschauer zu spielen. Aber vielleicht sollte man sich doch fragen, ob mit diesem augen¬ scheinlichen Vorteil nicht eine geheime Ursache der Minderwertigkeit und deS Niedergangs verbunden ist. Der Skeptizismus und die Erhabenheit, die Philosophie des „leichten Herzens" haben ihren Platz in unserm Leben; aber machen sie das ganze Dasein aus? Das übcrgeistigte Wesen hoher Zivilisationen bezahlt seine Überlegenheit mit einem Mangel an Glauben an die Dinge. Was ist aber das Leben ohne einen festen, innigen und tatkräftigen Glauben? Der Glaube ist die Seele der Tat, ebenso wie die Tat die Seele des Lebens ist. Von nun an hat der Intellektuelle nur die Illusion des Lebens, statt wirklich zu leben. Das Geschöpf, das sich den Glauben und die Unbefangenheit deS einfachen gesunden Naturmenschen bewahrt hat, tritt dagegen mit der Außenwelt in Berührung, beeinflußt sie und wird von ihr beeinflußt. Es lebt mitten zwischen Wirklichkeiten und bewahrt sich dadurch die Schaffens- und Tatkraft. Und das Ergebnis? Da im Lauf der Welt nun einmal alles Arbeit und Bewegung ist, wird der allzu durchgeistigte und empfindsame Mensch von denjenigen überholt, die er als rohe, tief unter ihm stehende Barbaren betrachtet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/38>, abgerufen am 26.05.2024.