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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

Es dürfte ebenfalls gefährlich sein, "Intelligenz" im wahren, umfassenden
und normalen Sinne des Wortes mit "Geist" zu verwechseln. Ein Übermaß
von Geist verrät manchmal einen Mangel an Intelligenz. Die lateinischen
Völker liefern in meinen Augen den Beweis für diesen Satz. Es kommt
häufig vor, daß ihre geistige Überlegenheit scheitert, wo der elementarste,
gesunde Menschenverstand den Sieg davonträgt. So geschieht es, daß unglaub¬
liche Torheiten begangen werden, daß man beklagenswerte Niederlagen erleidet,
wo sich Spitzfindigkeit und Kompliziertheit als schwächer wie Geradheit und
Naivität erweisen, und wo die angeblich geistig Armen eine Fähigkeit an den
Tag legen, die man notgedrungen als "Intelligenz" bezeichnen muß. Die
Natur legt sich eben ins Mittel und rückt die Dinge zurecht. Wie oft haben
wir -- ohne übrigens Nutzen daraus zu ziehen -- die harte Erfahrung machen
müssen, daß der gesunde Menschenverstand über die intensive Geistigkeit triumphiert?
Wie oft hat sich zumal der vielgerühmte und bewunderte französische Geist
unfähig erwiesen, sich gegenüber der Logik, dem gesunden Menschenverstande,
oder auch nur gegenüber dem reinen Instinkt eines Naturmenschen mit starken
und gesunden Trieben zu behaupten? Das liegt daran, daß der "Geist"
zuweilen das Gegenteil von Intelligenz ist, wie ich bereits gesagt habe. Die
Nation, die im sichern Gefühl ihrer sprichwörtlichen geistigen Überlegenheit
lachend an den höchsten Naturgesetzen und den größten und wichtigsten Tat¬
sachen dieser Welt vorübergeht, ohne sie zu gewahren -- die Gesetze und Tat¬
sachen, die sie eines Tages zermalmen werden --. erweist sich ganz einfach als
töricht, da sie nicht weiß, daß der Skeptizismus seine Grenzen hat, und daß
es ewige Normen gibt, die sich nicht überschreiten lassen. Intelligenz --
worunter ich richtiges Verständnis und richtige Deutung der Wirklichkeiten ver¬
stehe ist auf dieser Welt im allgemeinen nötiger als Geist. In dieser
Hinsicht haben die lateinischen Völker eine so außerordentliche Torheit, einen so
ungeheuerlichen Mangel an Urteilskraft bewiesen, daß man zu ihrer Erklärung
notgedrungen auf ein Zitat zurückgreifen muß: ()no3 vult perclere Jupiter
äementat.

Anderseits ließe es sich unschwer beweisen, daß wir uns in mancher
Beziehung mehr scheinbar als wirklich um intellektuelle Dinge kümmern, und
daß gewisse Völker, die keinen Teil an der römischen Erbschaft haben, uns in
bezug auf wahre Jntellektualitcit unstreitbar übertreffen. Unser Intellektualismus
besteht vor allem darin, die Welt durch das Prisma einer irrealen Auffassung
zu betrachten.

Daß wir so verblendet sind, ist eine natürliche Folge der Tatsache, daß
wir in unsern Augen als geistreichstes Volk der Welt allen andern überlegen
sind und uns dank unsrer speziellen Intelligenz über alle Realitäten erhaben
dünken. Der Hochmut des Lateiners -- des Erben der antiken Zivilisation
und Repräsentanten Roms und des römischen Gedankens -- gehört zu seinen
dauernden Eigenschvftcn. Er wurde uns in die Wiege gelegt, denn schon der


Intellektualismus und Dekadenz

Es dürfte ebenfalls gefährlich sein, „Intelligenz" im wahren, umfassenden
und normalen Sinne des Wortes mit „Geist" zu verwechseln. Ein Übermaß
von Geist verrät manchmal einen Mangel an Intelligenz. Die lateinischen
Völker liefern in meinen Augen den Beweis für diesen Satz. Es kommt
häufig vor, daß ihre geistige Überlegenheit scheitert, wo der elementarste,
gesunde Menschenverstand den Sieg davonträgt. So geschieht es, daß unglaub¬
liche Torheiten begangen werden, daß man beklagenswerte Niederlagen erleidet,
wo sich Spitzfindigkeit und Kompliziertheit als schwächer wie Geradheit und
Naivität erweisen, und wo die angeblich geistig Armen eine Fähigkeit an den
Tag legen, die man notgedrungen als „Intelligenz" bezeichnen muß. Die
Natur legt sich eben ins Mittel und rückt die Dinge zurecht. Wie oft haben
wir — ohne übrigens Nutzen daraus zu ziehen — die harte Erfahrung machen
müssen, daß der gesunde Menschenverstand über die intensive Geistigkeit triumphiert?
Wie oft hat sich zumal der vielgerühmte und bewunderte französische Geist
unfähig erwiesen, sich gegenüber der Logik, dem gesunden Menschenverstande,
oder auch nur gegenüber dem reinen Instinkt eines Naturmenschen mit starken
und gesunden Trieben zu behaupten? Das liegt daran, daß der „Geist"
zuweilen das Gegenteil von Intelligenz ist, wie ich bereits gesagt habe. Die
Nation, die im sichern Gefühl ihrer sprichwörtlichen geistigen Überlegenheit
lachend an den höchsten Naturgesetzen und den größten und wichtigsten Tat¬
sachen dieser Welt vorübergeht, ohne sie zu gewahren — die Gesetze und Tat¬
sachen, die sie eines Tages zermalmen werden —. erweist sich ganz einfach als
töricht, da sie nicht weiß, daß der Skeptizismus seine Grenzen hat, und daß
es ewige Normen gibt, die sich nicht überschreiten lassen. Intelligenz —
worunter ich richtiges Verständnis und richtige Deutung der Wirklichkeiten ver¬
stehe ist auf dieser Welt im allgemeinen nötiger als Geist. In dieser
Hinsicht haben die lateinischen Völker eine so außerordentliche Torheit, einen so
ungeheuerlichen Mangel an Urteilskraft bewiesen, daß man zu ihrer Erklärung
notgedrungen auf ein Zitat zurückgreifen muß: ()no3 vult perclere Jupiter
äementat.

Anderseits ließe es sich unschwer beweisen, daß wir uns in mancher
Beziehung mehr scheinbar als wirklich um intellektuelle Dinge kümmern, und
daß gewisse Völker, die keinen Teil an der römischen Erbschaft haben, uns in
bezug auf wahre Jntellektualitcit unstreitbar übertreffen. Unser Intellektualismus
besteht vor allem darin, die Welt durch das Prisma einer irrealen Auffassung
zu betrachten.

Daß wir so verblendet sind, ist eine natürliche Folge der Tatsache, daß
wir in unsern Augen als geistreichstes Volk der Welt allen andern überlegen
sind und uns dank unsrer speziellen Intelligenz über alle Realitäten erhaben
dünken. Der Hochmut des Lateiners — des Erben der antiken Zivilisation
und Repräsentanten Roms und des römischen Gedankens — gehört zu seinen
dauernden Eigenschvftcn. Er wurde uns in die Wiege gelegt, denn schon der


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[0039] Intellektualismus und Dekadenz Es dürfte ebenfalls gefährlich sein, „Intelligenz" im wahren, umfassenden und normalen Sinne des Wortes mit „Geist" zu verwechseln. Ein Übermaß von Geist verrät manchmal einen Mangel an Intelligenz. Die lateinischen Völker liefern in meinen Augen den Beweis für diesen Satz. Es kommt häufig vor, daß ihre geistige Überlegenheit scheitert, wo der elementarste, gesunde Menschenverstand den Sieg davonträgt. So geschieht es, daß unglaub¬ liche Torheiten begangen werden, daß man beklagenswerte Niederlagen erleidet, wo sich Spitzfindigkeit und Kompliziertheit als schwächer wie Geradheit und Naivität erweisen, und wo die angeblich geistig Armen eine Fähigkeit an den Tag legen, die man notgedrungen als „Intelligenz" bezeichnen muß. Die Natur legt sich eben ins Mittel und rückt die Dinge zurecht. Wie oft haben wir — ohne übrigens Nutzen daraus zu ziehen — die harte Erfahrung machen müssen, daß der gesunde Menschenverstand über die intensive Geistigkeit triumphiert? Wie oft hat sich zumal der vielgerühmte und bewunderte französische Geist unfähig erwiesen, sich gegenüber der Logik, dem gesunden Menschenverstande, oder auch nur gegenüber dem reinen Instinkt eines Naturmenschen mit starken und gesunden Trieben zu behaupten? Das liegt daran, daß der „Geist" zuweilen das Gegenteil von Intelligenz ist, wie ich bereits gesagt habe. Die Nation, die im sichern Gefühl ihrer sprichwörtlichen geistigen Überlegenheit lachend an den höchsten Naturgesetzen und den größten und wichtigsten Tat¬ sachen dieser Welt vorübergeht, ohne sie zu gewahren — die Gesetze und Tat¬ sachen, die sie eines Tages zermalmen werden —. erweist sich ganz einfach als töricht, da sie nicht weiß, daß der Skeptizismus seine Grenzen hat, und daß es ewige Normen gibt, die sich nicht überschreiten lassen. Intelligenz — worunter ich richtiges Verständnis und richtige Deutung der Wirklichkeiten ver¬ stehe ist auf dieser Welt im allgemeinen nötiger als Geist. In dieser Hinsicht haben die lateinischen Völker eine so außerordentliche Torheit, einen so ungeheuerlichen Mangel an Urteilskraft bewiesen, daß man zu ihrer Erklärung notgedrungen auf ein Zitat zurückgreifen muß: ()no3 vult perclere Jupiter äementat. Anderseits ließe es sich unschwer beweisen, daß wir uns in mancher Beziehung mehr scheinbar als wirklich um intellektuelle Dinge kümmern, und daß gewisse Völker, die keinen Teil an der römischen Erbschaft haben, uns in bezug auf wahre Jntellektualitcit unstreitbar übertreffen. Unser Intellektualismus besteht vor allem darin, die Welt durch das Prisma einer irrealen Auffassung zu betrachten. Daß wir so verblendet sind, ist eine natürliche Folge der Tatsache, daß wir in unsern Augen als geistreichstes Volk der Welt allen andern überlegen sind und uns dank unsrer speziellen Intelligenz über alle Realitäten erhaben dünken. Der Hochmut des Lateiners — des Erben der antiken Zivilisation und Repräsentanten Roms und des römischen Gedankens — gehört zu seinen dauernden Eigenschvftcn. Er wurde uns in die Wiege gelegt, denn schon der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/39>, abgerufen am 26.05.2024.