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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

ihn ohne Widerrede der moralische und intellektuelle Mittelpunkt der Welt.
Sein Leben richtet sich nach den Pulsschlägen dieses Weltherzens. Die Städte
und Völker umstehen diese "Ville-Lumiere", in der sich Frankreich und das
Lateinertum konzentrieren und rühmen, wie Kinder die Mutter oder Erzieherin,
von der sie ein gutes Wort oder ein Gebot erwarten. Wir sind nach gött¬
lichem Recht "das erste Volk der Welt", die auserwählte und souveräne
Nation! Diese Ansicht entlehne ich nicht etwa dem gemeinen Chauvinismus
der Massen, sondern den anerkanntesten, auserlesensten Geistern, den intellektuellen
Häuptern der Nation, bei denen man dieses selbe lebendige und geradezu als
Dogma angesehene Vorurteil wiederfindet: so bei Viktor Hugo, Michelet, Zola
u. a. in. . . Wie tief muß das Gift dieser lateinischen Ideen in Gehirn und
Gewissen eingedrungen sein, wenn so große und mächtige Geister sie aufrecht
erhalten! Ich will gar nicht darauf eingehen, wie beleidigend und verletzend
diese Überhebung für die übrige mißachtete Welt sein muß: ich spreche hier
nur von ihrer unheilvollen und lächerlichen Seite. Ja, der in sich selbst und
in seine Tradition vernarrte Lateiner wirkt angesichts der Wirklichkeit überaus
lächerlich und kindisch.

Gibt es unter denen, die sich nicht von uralten Vorurteilen blenden lassen,
wohl einen einzigen, der nicht zu sehen vermöchte, daß die wahrhaft moderne
Zivilisation sich überall und vielleicht sogar vornehmlich außerhalb der latei-
nischen Welt entwickelt? Täter wir nicht besser, wenn wir -- mit weit mehr
Recht -- die Überlegenheit von New Uork, Berlin, London, Melbourne und
San Franzisko, in ihrer Eigenschaft als sichtbare Äußerung einer Zivilisation
und einer Nasse, anerkennten? Ich will gewiß nicht bestreiten, daß Paris und
gewisse andere lateinische Städte alle Ursache haben, auf einige ihrer Gebiete
stolz zu sein: ich. sehe es, ich fühle es und ich verkündige es laut, wie jeder
andre. Wer selbst wenn das französische Vaudeville, französischer "Esprit",
französische Küche, französische Moden und französischer Geschmack noch auf lange
Zeit hinaus die Vorherrschaft in der Welt behaupten, würde das doch noch
kein Grund sein anzunehmen, daß es überall anderswo nur Einsamkeit,
Ungehobeltheit, Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit gebe! Macht das überhaupt
den Inhalt des Lebens aus? Wer sähe nicht, daß Paris, Frankreich
und die lateinische Welt in bezug auf manche sehr wichtige, ja sehr wesent¬
liche Dinge nicht nur weit entfernt sind, an der Spitze zu stehen,
sondern sogar weit zurückbleiben und sich genötigt sehen, gewisse Wahr¬
heiten und gewisse für das moderne Leben unentbehrliche Elemente von
der Außenwelt anzunehmen? Was soll also diese Unaufrichtigkeit? Beweist
nicht schon das obenerwähnte Gefühl der Ermattung, daß unsre Verblendung
auf Lüge beruht? Und wir scheuen uns nicht, der Welt ein solches Schauspiel
zu bieten, während Tag für Tag neue unbarmherzige Tatsachen, die keiner
Beeinflussung durch Gefühle unterliegen, neue schlagende Beweise für unsre
Inferiorität liefern!


Intellektualismus und Dekadenz

ihn ohne Widerrede der moralische und intellektuelle Mittelpunkt der Welt.
Sein Leben richtet sich nach den Pulsschlägen dieses Weltherzens. Die Städte
und Völker umstehen diese „Ville-Lumiere", in der sich Frankreich und das
Lateinertum konzentrieren und rühmen, wie Kinder die Mutter oder Erzieherin,
von der sie ein gutes Wort oder ein Gebot erwarten. Wir sind nach gött¬
lichem Recht „das erste Volk der Welt", die auserwählte und souveräne
Nation! Diese Ansicht entlehne ich nicht etwa dem gemeinen Chauvinismus
der Massen, sondern den anerkanntesten, auserlesensten Geistern, den intellektuellen
Häuptern der Nation, bei denen man dieses selbe lebendige und geradezu als
Dogma angesehene Vorurteil wiederfindet: so bei Viktor Hugo, Michelet, Zola
u. a. in. . . Wie tief muß das Gift dieser lateinischen Ideen in Gehirn und
Gewissen eingedrungen sein, wenn so große und mächtige Geister sie aufrecht
erhalten! Ich will gar nicht darauf eingehen, wie beleidigend und verletzend
diese Überhebung für die übrige mißachtete Welt sein muß: ich spreche hier
nur von ihrer unheilvollen und lächerlichen Seite. Ja, der in sich selbst und
in seine Tradition vernarrte Lateiner wirkt angesichts der Wirklichkeit überaus
lächerlich und kindisch.

Gibt es unter denen, die sich nicht von uralten Vorurteilen blenden lassen,
wohl einen einzigen, der nicht zu sehen vermöchte, daß die wahrhaft moderne
Zivilisation sich überall und vielleicht sogar vornehmlich außerhalb der latei-
nischen Welt entwickelt? Täter wir nicht besser, wenn wir — mit weit mehr
Recht — die Überlegenheit von New Uork, Berlin, London, Melbourne und
San Franzisko, in ihrer Eigenschaft als sichtbare Äußerung einer Zivilisation
und einer Nasse, anerkennten? Ich will gewiß nicht bestreiten, daß Paris und
gewisse andere lateinische Städte alle Ursache haben, auf einige ihrer Gebiete
stolz zu sein: ich. sehe es, ich fühle es und ich verkündige es laut, wie jeder
andre. Wer selbst wenn das französische Vaudeville, französischer „Esprit",
französische Küche, französische Moden und französischer Geschmack noch auf lange
Zeit hinaus die Vorherrschaft in der Welt behaupten, würde das doch noch
kein Grund sein anzunehmen, daß es überall anderswo nur Einsamkeit,
Ungehobeltheit, Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit gebe! Macht das überhaupt
den Inhalt des Lebens aus? Wer sähe nicht, daß Paris, Frankreich
und die lateinische Welt in bezug auf manche sehr wichtige, ja sehr wesent¬
liche Dinge nicht nur weit entfernt sind, an der Spitze zu stehen,
sondern sogar weit zurückbleiben und sich genötigt sehen, gewisse Wahr¬
heiten und gewisse für das moderne Leben unentbehrliche Elemente von
der Außenwelt anzunehmen? Was soll also diese Unaufrichtigkeit? Beweist
nicht schon das obenerwähnte Gefühl der Ermattung, daß unsre Verblendung
auf Lüge beruht? Und wir scheuen uns nicht, der Welt ein solches Schauspiel
zu bieten, während Tag für Tag neue unbarmherzige Tatsachen, die keiner
Beeinflussung durch Gefühle unterliegen, neue schlagende Beweise für unsre
Inferiorität liefern!


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[0041] Intellektualismus und Dekadenz ihn ohne Widerrede der moralische und intellektuelle Mittelpunkt der Welt. Sein Leben richtet sich nach den Pulsschlägen dieses Weltherzens. Die Städte und Völker umstehen diese „Ville-Lumiere", in der sich Frankreich und das Lateinertum konzentrieren und rühmen, wie Kinder die Mutter oder Erzieherin, von der sie ein gutes Wort oder ein Gebot erwarten. Wir sind nach gött¬ lichem Recht „das erste Volk der Welt", die auserwählte und souveräne Nation! Diese Ansicht entlehne ich nicht etwa dem gemeinen Chauvinismus der Massen, sondern den anerkanntesten, auserlesensten Geistern, den intellektuellen Häuptern der Nation, bei denen man dieses selbe lebendige und geradezu als Dogma angesehene Vorurteil wiederfindet: so bei Viktor Hugo, Michelet, Zola u. a. in. . . Wie tief muß das Gift dieser lateinischen Ideen in Gehirn und Gewissen eingedrungen sein, wenn so große und mächtige Geister sie aufrecht erhalten! Ich will gar nicht darauf eingehen, wie beleidigend und verletzend diese Überhebung für die übrige mißachtete Welt sein muß: ich spreche hier nur von ihrer unheilvollen und lächerlichen Seite. Ja, der in sich selbst und in seine Tradition vernarrte Lateiner wirkt angesichts der Wirklichkeit überaus lächerlich und kindisch. Gibt es unter denen, die sich nicht von uralten Vorurteilen blenden lassen, wohl einen einzigen, der nicht zu sehen vermöchte, daß die wahrhaft moderne Zivilisation sich überall und vielleicht sogar vornehmlich außerhalb der latei- nischen Welt entwickelt? Täter wir nicht besser, wenn wir — mit weit mehr Recht — die Überlegenheit von New Uork, Berlin, London, Melbourne und San Franzisko, in ihrer Eigenschaft als sichtbare Äußerung einer Zivilisation und einer Nasse, anerkennten? Ich will gewiß nicht bestreiten, daß Paris und gewisse andere lateinische Städte alle Ursache haben, auf einige ihrer Gebiete stolz zu sein: ich. sehe es, ich fühle es und ich verkündige es laut, wie jeder andre. Wer selbst wenn das französische Vaudeville, französischer „Esprit", französische Küche, französische Moden und französischer Geschmack noch auf lange Zeit hinaus die Vorherrschaft in der Welt behaupten, würde das doch noch kein Grund sein anzunehmen, daß es überall anderswo nur Einsamkeit, Ungehobeltheit, Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit gebe! Macht das überhaupt den Inhalt des Lebens aus? Wer sähe nicht, daß Paris, Frankreich und die lateinische Welt in bezug auf manche sehr wichtige, ja sehr wesent¬ liche Dinge nicht nur weit entfernt sind, an der Spitze zu stehen, sondern sogar weit zurückbleiben und sich genötigt sehen, gewisse Wahr¬ heiten und gewisse für das moderne Leben unentbehrliche Elemente von der Außenwelt anzunehmen? Was soll also diese Unaufrichtigkeit? Beweist nicht schon das obenerwähnte Gefühl der Ermattung, daß unsre Verblendung auf Lüge beruht? Und wir scheuen uns nicht, der Welt ein solches Schauspiel zu bieten, während Tag für Tag neue unbarmherzige Tatsachen, die keiner Beeinflussung durch Gefühle unterliegen, neue schlagende Beweise für unsre Inferiorität liefern!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/41>, abgerufen am 26.05.2024.