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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die Tyrik des siebziger Krieges

geschichte mit diesen Kriegsdichtungen wenig beschäftigte. Wohl hat der Freiherr
Franz Wilhelm von Ditfurth die "Historischen Volks- und volkstümlichen Lieder
des Krieges von 1870 und 1871" gesammelt, wohl gibt es einen gediegenen
Vortrag Martin Wagners über die "Soldatenlieder aus dem deutsch-französischen
Kriege", hat auch Max Jähns in seinem Buch "Der Vaterlandsgedanke und
die deutsche Dichtung" auf einigen Seiten der Lyrik des letzten deutschen Krieges
gedacht; aber ein auch nur annähernd so umfassendes Werk, wie es etwa
Christian Pelzel der deutschen Revolutionslyrik widmete, ist nicht geschrieben
worden. Ein tieferer Grund für die Vergessenheit, der diese Lyrik zum großen
Teil anheimgefallen ist, dürfte in dem völligen Umschwung des Interesses zu
suchen sein, der nach 1871 eintrat. Gewiß war auch nach dem Scheitern der
Revolutionsbewegung um 1850 die politische Lyrik wie tot gewesen; man hatte
sich aus dem unerquicklichen Hier und Heute fluchtartig ins Zeit- und Raum¬
ferne, in das Mittelalter und den Orient geflüchtet. Aber wie man in der
Verbannung am innigsten der Heimat gedenkt, so war das Interesse an den
Tagen der Gegenwart, und so auch an der politischen Lyrik, keineswegs
erloschen gewesen. Nach der Reichsgründung aber lagen die Dinge im wesent¬
lichsten anders. Jetzt war die politische Dichtung tatsächlich tot, denn ihre
Sehnsucht war erfüllt. Und nicht von ihr fortgeflohen war man, sondern man
hatte sich ganz an ein Neues hingegeben, an ihre Erbin: die soziale Dichtung.

hatte Geibel "den Bauleuten bei Eröffnung des ersten norddeutschen Parlamentes"
zugerufen. 1871 war man unter Dach, und nun galt alles Interesse in so
hohem Maße dem Wohnlichmachen des neuen Hauses, daß man der Nöte wie
des schließlichen Jubels der Bauleute einigermaßen vergaß -- nicht aus Undank,
sondern aus wahrhaftem Zeitmangel, denn noch einmal: nach 1870 hat man
sich nicht ins Traumland geflüchtet, sondern mit heißem Eifer einer neuen
Zeitdichtuug ergeben.

Nun könnte diesen bisherigen Ausführungen wohl entgegengehalten werden,
sie bedeuteten einen Kampf gegen Windnmhlenflügel. Indem nämlich an der
Menge der lyrischen Schöpfungen des siebziger Krieges niemand zweifle, oder
indem es gar nicht darauf ankomme, über die Menge solcher Hervorbringungen
überhaupt erst nachzudenken. Denn wenn Julius Sturm in jenem Einleitungs¬
sonett weiter sage:

so sei das nur ein ehrenwert vaterländischer, allenfalls ein kulturhistorisch
berechtigter Standpunkt; den: Ästhetiker habe das bloß Zahlreiche weder Freude
noch Mißmut zu verursachen, er habe einzig nach dem künstlerisch Wertvollen


Die Tyrik des siebziger Krieges

geschichte mit diesen Kriegsdichtungen wenig beschäftigte. Wohl hat der Freiherr
Franz Wilhelm von Ditfurth die „Historischen Volks- und volkstümlichen Lieder
des Krieges von 1870 und 1871" gesammelt, wohl gibt es einen gediegenen
Vortrag Martin Wagners über die „Soldatenlieder aus dem deutsch-französischen
Kriege", hat auch Max Jähns in seinem Buch „Der Vaterlandsgedanke und
die deutsche Dichtung" auf einigen Seiten der Lyrik des letzten deutschen Krieges
gedacht; aber ein auch nur annähernd so umfassendes Werk, wie es etwa
Christian Pelzel der deutschen Revolutionslyrik widmete, ist nicht geschrieben
worden. Ein tieferer Grund für die Vergessenheit, der diese Lyrik zum großen
Teil anheimgefallen ist, dürfte in dem völligen Umschwung des Interesses zu
suchen sein, der nach 1871 eintrat. Gewiß war auch nach dem Scheitern der
Revolutionsbewegung um 1850 die politische Lyrik wie tot gewesen; man hatte
sich aus dem unerquicklichen Hier und Heute fluchtartig ins Zeit- und Raum¬
ferne, in das Mittelalter und den Orient geflüchtet. Aber wie man in der
Verbannung am innigsten der Heimat gedenkt, so war das Interesse an den
Tagen der Gegenwart, und so auch an der politischen Lyrik, keineswegs
erloschen gewesen. Nach der Reichsgründung aber lagen die Dinge im wesent¬
lichsten anders. Jetzt war die politische Dichtung tatsächlich tot, denn ihre
Sehnsucht war erfüllt. Und nicht von ihr fortgeflohen war man, sondern man
hatte sich ganz an ein Neues hingegeben, an ihre Erbin: die soziale Dichtung.

hatte Geibel „den Bauleuten bei Eröffnung des ersten norddeutschen Parlamentes"
zugerufen. 1871 war man unter Dach, und nun galt alles Interesse in so
hohem Maße dem Wohnlichmachen des neuen Hauses, daß man der Nöte wie
des schließlichen Jubels der Bauleute einigermaßen vergaß — nicht aus Undank,
sondern aus wahrhaftem Zeitmangel, denn noch einmal: nach 1870 hat man
sich nicht ins Traumland geflüchtet, sondern mit heißem Eifer einer neuen
Zeitdichtuug ergeben.

Nun könnte diesen bisherigen Ausführungen wohl entgegengehalten werden,
sie bedeuteten einen Kampf gegen Windnmhlenflügel. Indem nämlich an der
Menge der lyrischen Schöpfungen des siebziger Krieges niemand zweifle, oder
indem es gar nicht darauf ankomme, über die Menge solcher Hervorbringungen
überhaupt erst nachzudenken. Denn wenn Julius Sturm in jenem Einleitungs¬
sonett weiter sage:

so sei das nur ein ehrenwert vaterländischer, allenfalls ein kulturhistorisch
berechtigter Standpunkt; den: Ästhetiker habe das bloß Zahlreiche weder Freude
noch Mißmut zu verursachen, er habe einzig nach dem künstlerisch Wertvollen


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[0608] Die Tyrik des siebziger Krieges geschichte mit diesen Kriegsdichtungen wenig beschäftigte. Wohl hat der Freiherr Franz Wilhelm von Ditfurth die „Historischen Volks- und volkstümlichen Lieder des Krieges von 1870 und 1871" gesammelt, wohl gibt es einen gediegenen Vortrag Martin Wagners über die „Soldatenlieder aus dem deutsch-französischen Kriege", hat auch Max Jähns in seinem Buch „Der Vaterlandsgedanke und die deutsche Dichtung" auf einigen Seiten der Lyrik des letzten deutschen Krieges gedacht; aber ein auch nur annähernd so umfassendes Werk, wie es etwa Christian Pelzel der deutschen Revolutionslyrik widmete, ist nicht geschrieben worden. Ein tieferer Grund für die Vergessenheit, der diese Lyrik zum großen Teil anheimgefallen ist, dürfte in dem völligen Umschwung des Interesses zu suchen sein, der nach 1871 eintrat. Gewiß war auch nach dem Scheitern der Revolutionsbewegung um 1850 die politische Lyrik wie tot gewesen; man hatte sich aus dem unerquicklichen Hier und Heute fluchtartig ins Zeit- und Raum¬ ferne, in das Mittelalter und den Orient geflüchtet. Aber wie man in der Verbannung am innigsten der Heimat gedenkt, so war das Interesse an den Tagen der Gegenwart, und so auch an der politischen Lyrik, keineswegs erloschen gewesen. Nach der Reichsgründung aber lagen die Dinge im wesent¬ lichsten anders. Jetzt war die politische Dichtung tatsächlich tot, denn ihre Sehnsucht war erfüllt. Und nicht von ihr fortgeflohen war man, sondern man hatte sich ganz an ein Neues hingegeben, an ihre Erbin: die soziale Dichtung. hatte Geibel „den Bauleuten bei Eröffnung des ersten norddeutschen Parlamentes" zugerufen. 1871 war man unter Dach, und nun galt alles Interesse in so hohem Maße dem Wohnlichmachen des neuen Hauses, daß man der Nöte wie des schließlichen Jubels der Bauleute einigermaßen vergaß — nicht aus Undank, sondern aus wahrhaftem Zeitmangel, denn noch einmal: nach 1870 hat man sich nicht ins Traumland geflüchtet, sondern mit heißem Eifer einer neuen Zeitdichtuug ergeben. Nun könnte diesen bisherigen Ausführungen wohl entgegengehalten werden, sie bedeuteten einen Kampf gegen Windnmhlenflügel. Indem nämlich an der Menge der lyrischen Schöpfungen des siebziger Krieges niemand zweifle, oder indem es gar nicht darauf ankomme, über die Menge solcher Hervorbringungen überhaupt erst nachzudenken. Denn wenn Julius Sturm in jenem Einleitungs¬ sonett weiter sage: so sei das nur ein ehrenwert vaterländischer, allenfalls ein kulturhistorisch berechtigter Standpunkt; den: Ästhetiker habe das bloß Zahlreiche weder Freude noch Mißmut zu verursachen, er habe einzig nach dem künstlerisch Wertvollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/608>, abgerufen am 09.06.2024.