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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über das Studium der Mystik

doch ist nur die Form, das Unwirkliche davon, zerstört. So ist es stets: was
wir hier mit Augen sehen, mit Händen greifen können, führt uns nur irre in
betreff der einzigen, wahren Wesenheit. Und wer nur Vielheiten sieht, kamt
die Einheit nicht fassen. Die Erfahrung, die wir mit irdischen Sinnen erlanget!
können, ist Trug.

Welches Übermaß von Pessimismus und Skepsis liegt also in der Mystik
verborgen! Sie kennt keinerlei Vorschriften über ein richtiges Leben in der Welt;
keinerlei Weg für den Intellekt, auf dem er zu höheren Erkenntnissen geführt
würde. Sie gedenkt dieser Welt nur, um die Abkehr davon zu predigen; sie
erwähnt der irdischen Fähigkeiten des Menschen nur, um darauf zu verzichten.

Gleich den Sinnen ist auch unser logisches Denken ein trügerisches Ding.
Auch die Vernunft ist nicht imstande, die Wahrheit zu erkennen. Und doch ist
dein Menschen die höchste Weisheit nicht verschlossen; denn er besitzt noch eine
dritte, höchste Fähigkeit des Wahrnehmens. Sie mit nur einem der über¬
lieferten Ausdrücke zu bezeichnen, würde eine falsche Vorstellung erwecken.
Sokrates nannte sie äaimoni'on, die Gnostiker Gnosis, Paracelsus Phantasie. Die
Apostelgeschichte spricht davon, wenn sie der Geistestaufe gedenkt, die Enthusiasten
aller Zeiten, wenn sie sich erleuchtet glauben und prophezeien. Mir scheint,
daß auch der jüdische Begriff der Prophetie hier wurzelt, wie nicht minder
jener der göttlichen Begeisterung der Künstler und Priester, den die griechische
Literatur von Homer um kennt.

Wie alles Seiende sich dreifach teilt: in den göttlichen Geist oder das
Wort; ferner in die Engel oder Kräfte; und endlich in den Stoff, -- so auch
das menschliche Erkennen: in ein geistiges, seelisches und physisch-sinnliches.
Und wenn der Mensch ein Abbild der Welt ist, so muß seine höchste Fähigkeit
dem göttlichen Geiste entsprechen. Hier stehen wir also an jenem Punkt, von
dein der Mystiker selbst sein religiöses Erleben herleitet.

Wie ist aber dieses Erleben beschaffen? -- Wir sagten, daß der mensch¬
liche Geist mi Abbild des göttlichen ist. Dieser letztere aber gilt dem Menschen
als schöpferische Kraft. schöpferisch muß also auch der Menschengeist sein. Das
mystische Erkennen ist kein tatloses Wahrnehmen, sondern ein neuerliches
Schaffen der Welt; nicht der einzelnen Dinge, sondern der Gesamtheit. Der
Mystiker schafft aber nicht das Unwesentliche der Welt, nämlich den Stoff,
sondern das Wesentliche: die Verhältnisse, also vor allem die Zahlen. Er
findet sie nicht auf Umwegen, sondern kraft seiner mikrokosmischen Natur hat
er sie in sich. Er bringt sie ans Licht durch das Aussprechen.

Es soll hier kein Abriß der Logoslehre gegeben werden, nach welcher
bekanntlich ,das Wort' ein Werkzeug des schaffenden Geistes ist. Es soll nur gesagt
sein, daß die gesamte Mystik diese Logoslehre auch auf den Menschen angewendet
wissen will. Ferner sei betont, daß die Grundlage des Wortes, nämlich die
Vorstellung, bei Paracelsus und seinen Nachfolgern als ein schaffendes
gilt. Durch "Imagination" schafft der heilige Geist die Welt. Die magische


Grenzboten II 1910 10
Über das Studium der Mystik

doch ist nur die Form, das Unwirkliche davon, zerstört. So ist es stets: was
wir hier mit Augen sehen, mit Händen greifen können, führt uns nur irre in
betreff der einzigen, wahren Wesenheit. Und wer nur Vielheiten sieht, kamt
die Einheit nicht fassen. Die Erfahrung, die wir mit irdischen Sinnen erlanget!
können, ist Trug.

Welches Übermaß von Pessimismus und Skepsis liegt also in der Mystik
verborgen! Sie kennt keinerlei Vorschriften über ein richtiges Leben in der Welt;
keinerlei Weg für den Intellekt, auf dem er zu höheren Erkenntnissen geführt
würde. Sie gedenkt dieser Welt nur, um die Abkehr davon zu predigen; sie
erwähnt der irdischen Fähigkeiten des Menschen nur, um darauf zu verzichten.

Gleich den Sinnen ist auch unser logisches Denken ein trügerisches Ding.
Auch die Vernunft ist nicht imstande, die Wahrheit zu erkennen. Und doch ist
dein Menschen die höchste Weisheit nicht verschlossen; denn er besitzt noch eine
dritte, höchste Fähigkeit des Wahrnehmens. Sie mit nur einem der über¬
lieferten Ausdrücke zu bezeichnen, würde eine falsche Vorstellung erwecken.
Sokrates nannte sie äaimoni'on, die Gnostiker Gnosis, Paracelsus Phantasie. Die
Apostelgeschichte spricht davon, wenn sie der Geistestaufe gedenkt, die Enthusiasten
aller Zeiten, wenn sie sich erleuchtet glauben und prophezeien. Mir scheint,
daß auch der jüdische Begriff der Prophetie hier wurzelt, wie nicht minder
jener der göttlichen Begeisterung der Künstler und Priester, den die griechische
Literatur von Homer um kennt.

Wie alles Seiende sich dreifach teilt: in den göttlichen Geist oder das
Wort; ferner in die Engel oder Kräfte; und endlich in den Stoff, — so auch
das menschliche Erkennen: in ein geistiges, seelisches und physisch-sinnliches.
Und wenn der Mensch ein Abbild der Welt ist, so muß seine höchste Fähigkeit
dem göttlichen Geiste entsprechen. Hier stehen wir also an jenem Punkt, von
dein der Mystiker selbst sein religiöses Erleben herleitet.

Wie ist aber dieses Erleben beschaffen? — Wir sagten, daß der mensch¬
liche Geist mi Abbild des göttlichen ist. Dieser letztere aber gilt dem Menschen
als schöpferische Kraft. schöpferisch muß also auch der Menschengeist sein. Das
mystische Erkennen ist kein tatloses Wahrnehmen, sondern ein neuerliches
Schaffen der Welt; nicht der einzelnen Dinge, sondern der Gesamtheit. Der
Mystiker schafft aber nicht das Unwesentliche der Welt, nämlich den Stoff,
sondern das Wesentliche: die Verhältnisse, also vor allem die Zahlen. Er
findet sie nicht auf Umwegen, sondern kraft seiner mikrokosmischen Natur hat
er sie in sich. Er bringt sie ans Licht durch das Aussprechen.

Es soll hier kein Abriß der Logoslehre gegeben werden, nach welcher
bekanntlich ,das Wort' ein Werkzeug des schaffenden Geistes ist. Es soll nur gesagt
sein, daß die gesamte Mystik diese Logoslehre auch auf den Menschen angewendet
wissen will. Ferner sei betont, daß die Grundlage des Wortes, nämlich die
Vorstellung, bei Paracelsus und seinen Nachfolgern als ein schaffendes
gilt. Durch „Imagination" schafft der heilige Geist die Welt. Die magische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/85>, abgerufen am 17.06.2024.