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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über das Studiuni der Mystik

Entstehens. Der von Gott ausgehende schöpferische Logos (.das Wort') des Anfangs
wird zum Messias am Schluß des Weltdramas. Seinem Abstieg durch die (meist)
sieben Himmelsregionen entspricht ein gleicher Aufstieg. Die Entfaltung der
göttlichen Einheit zur kosmischen Vielheit wird am jüngsten Tag widerrufen
durch eine Sammlung aller Vielheit zur Einheit. Die unio mystica wird zur
Tatsache. So wird das Leben, nicht nur das des Einzelnen, sondern auch des
Kosmos -- wie Sir Thomas Browne sagt -- zum "Zwischenspiel zwischen
zwei Ewigkeiten". Und der Ewigkeit, als der höchsten Realität, gegenüber ist
es weniger als nebensächlich, ist es nur Schein, Traum. Es gibt letzten Endes
überhaupt kein wirkliches Geschehen, denn das Wirkliche geschieht nicht,
sondern ist.

Der Mystiker vermag also den Zeitbegriff aus seinem Denken zu ent¬
fernen, hat keinen Platz für ihn übrig. Wie sollte er da den Begriff des
Fortschrittes erfassen können? Fortschreiten heißt sich von der Gottheit ent¬
fernen, sich aus der Einheit in die Vielheit verlieren. Wo aber Vielheit, da
ist Streit. Darum baten die Gnostiker ihren Christos, sie aus dem Kampfe
(pe"Iemv8) zu erlösen und dem Mißklang (asymptionia) ein Ende zu bereiten,'
so mag wohl auch die Bitte des Vaterunser aufgefaßt worden sein: "Und erlöse
uns von dem Übel!" In schlichter Schönheit hat Jakob Böhm diesen Gedanken
ausgesprochen:

Diese Weltanschauung muß notwendig auch ihre besondere Erkenntnis¬
theorie in sich tragen. Die rationalistische Erkenntnis beruht im Wesen auf
zwei Faktoren: einmal auf der konkreten Erfahrung und der ihr folgenden
abstrahierenden Urteilskraft; und sodann auf der Schlußfolgerung, in bereit
Mittelpunkt der Kausalbegriff steht. Den ersteren dieser Wege zur Erkenntnis
verwirft die Mystik vollkommen. Denn die Erfahrungstatsachen im gewöhn¬
lichen Sinne liegen auf dem Gebiet der Teilung, des Widerspruchs, der Vielheit.
Sie sind nicht Wesen, sondern wechselnde Erscheinungen des Wesens; jede
zeigt ein anderes Bild, ein unvollkommenes, keine das Ganze, die Gottheit.
"Gott aus seinen Werken erkennen" ist meines Erachtens eine ganz unmystische
Redensart. Nicht, als ob das undenkbar wäre; denn die Gesamtheit der
Werke, also der ganze Kosmos, ist ein Abbild Gottes. Aber wer darf sich
vermessen, mit irdischen Augen die Welt überschauen zu wollen? Und ferner:
in jedem Dinge wohnt und lebt Gott, insofern es von ihm ausgegangen ist,
und außer Gott nichts ist. So wir das Ding aber mit unserem sterblichen
Auge anblicken, sehen wir nur das Unwesentliche davon, nämlich die vergängliche
Erscheinung. Sie scheint uns etwas Selbständiges; und wenn das Ding, das
Tier, der Mensch vernichtet wird, stirbt, so sagen wir: es ist nicht mehr. Und


Über das Studiuni der Mystik

Entstehens. Der von Gott ausgehende schöpferische Logos (.das Wort') des Anfangs
wird zum Messias am Schluß des Weltdramas. Seinem Abstieg durch die (meist)
sieben Himmelsregionen entspricht ein gleicher Aufstieg. Die Entfaltung der
göttlichen Einheit zur kosmischen Vielheit wird am jüngsten Tag widerrufen
durch eine Sammlung aller Vielheit zur Einheit. Die unio mystica wird zur
Tatsache. So wird das Leben, nicht nur das des Einzelnen, sondern auch des
Kosmos — wie Sir Thomas Browne sagt — zum „Zwischenspiel zwischen
zwei Ewigkeiten". Und der Ewigkeit, als der höchsten Realität, gegenüber ist
es weniger als nebensächlich, ist es nur Schein, Traum. Es gibt letzten Endes
überhaupt kein wirkliches Geschehen, denn das Wirkliche geschieht nicht,
sondern ist.

Der Mystiker vermag also den Zeitbegriff aus seinem Denken zu ent¬
fernen, hat keinen Platz für ihn übrig. Wie sollte er da den Begriff des
Fortschrittes erfassen können? Fortschreiten heißt sich von der Gottheit ent¬
fernen, sich aus der Einheit in die Vielheit verlieren. Wo aber Vielheit, da
ist Streit. Darum baten die Gnostiker ihren Christos, sie aus dem Kampfe
(pe»Iemv8) zu erlösen und dem Mißklang (asymptionia) ein Ende zu bereiten,'
so mag wohl auch die Bitte des Vaterunser aufgefaßt worden sein: „Und erlöse
uns von dem Übel!" In schlichter Schönheit hat Jakob Böhm diesen Gedanken
ausgesprochen:

Diese Weltanschauung muß notwendig auch ihre besondere Erkenntnis¬
theorie in sich tragen. Die rationalistische Erkenntnis beruht im Wesen auf
zwei Faktoren: einmal auf der konkreten Erfahrung und der ihr folgenden
abstrahierenden Urteilskraft; und sodann auf der Schlußfolgerung, in bereit
Mittelpunkt der Kausalbegriff steht. Den ersteren dieser Wege zur Erkenntnis
verwirft die Mystik vollkommen. Denn die Erfahrungstatsachen im gewöhn¬
lichen Sinne liegen auf dem Gebiet der Teilung, des Widerspruchs, der Vielheit.
Sie sind nicht Wesen, sondern wechselnde Erscheinungen des Wesens; jede
zeigt ein anderes Bild, ein unvollkommenes, keine das Ganze, die Gottheit.
„Gott aus seinen Werken erkennen" ist meines Erachtens eine ganz unmystische
Redensart. Nicht, als ob das undenkbar wäre; denn die Gesamtheit der
Werke, also der ganze Kosmos, ist ein Abbild Gottes. Aber wer darf sich
vermessen, mit irdischen Augen die Welt überschauen zu wollen? Und ferner:
in jedem Dinge wohnt und lebt Gott, insofern es von ihm ausgegangen ist,
und außer Gott nichts ist. So wir das Ding aber mit unserem sterblichen
Auge anblicken, sehen wir nur das Unwesentliche davon, nämlich die vergängliche
Erscheinung. Sie scheint uns etwas Selbständiges; und wenn das Ding, das
Tier, der Mensch vernichtet wird, stirbt, so sagen wir: es ist nicht mehr. Und


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[0084] Über das Studiuni der Mystik Entstehens. Der von Gott ausgehende schöpferische Logos (.das Wort') des Anfangs wird zum Messias am Schluß des Weltdramas. Seinem Abstieg durch die (meist) sieben Himmelsregionen entspricht ein gleicher Aufstieg. Die Entfaltung der göttlichen Einheit zur kosmischen Vielheit wird am jüngsten Tag widerrufen durch eine Sammlung aller Vielheit zur Einheit. Die unio mystica wird zur Tatsache. So wird das Leben, nicht nur das des Einzelnen, sondern auch des Kosmos — wie Sir Thomas Browne sagt — zum „Zwischenspiel zwischen zwei Ewigkeiten". Und der Ewigkeit, als der höchsten Realität, gegenüber ist es weniger als nebensächlich, ist es nur Schein, Traum. Es gibt letzten Endes überhaupt kein wirkliches Geschehen, denn das Wirkliche geschieht nicht, sondern ist. Der Mystiker vermag also den Zeitbegriff aus seinem Denken zu ent¬ fernen, hat keinen Platz für ihn übrig. Wie sollte er da den Begriff des Fortschrittes erfassen können? Fortschreiten heißt sich von der Gottheit ent¬ fernen, sich aus der Einheit in die Vielheit verlieren. Wo aber Vielheit, da ist Streit. Darum baten die Gnostiker ihren Christos, sie aus dem Kampfe (pe»Iemv8) zu erlösen und dem Mißklang (asymptionia) ein Ende zu bereiten,' so mag wohl auch die Bitte des Vaterunser aufgefaßt worden sein: „Und erlöse uns von dem Übel!" In schlichter Schönheit hat Jakob Böhm diesen Gedanken ausgesprochen: Diese Weltanschauung muß notwendig auch ihre besondere Erkenntnis¬ theorie in sich tragen. Die rationalistische Erkenntnis beruht im Wesen auf zwei Faktoren: einmal auf der konkreten Erfahrung und der ihr folgenden abstrahierenden Urteilskraft; und sodann auf der Schlußfolgerung, in bereit Mittelpunkt der Kausalbegriff steht. Den ersteren dieser Wege zur Erkenntnis verwirft die Mystik vollkommen. Denn die Erfahrungstatsachen im gewöhn¬ lichen Sinne liegen auf dem Gebiet der Teilung, des Widerspruchs, der Vielheit. Sie sind nicht Wesen, sondern wechselnde Erscheinungen des Wesens; jede zeigt ein anderes Bild, ein unvollkommenes, keine das Ganze, die Gottheit. „Gott aus seinen Werken erkennen" ist meines Erachtens eine ganz unmystische Redensart. Nicht, als ob das undenkbar wäre; denn die Gesamtheit der Werke, also der ganze Kosmos, ist ein Abbild Gottes. Aber wer darf sich vermessen, mit irdischen Augen die Welt überschauen zu wollen? Und ferner: in jedem Dinge wohnt und lebt Gott, insofern es von ihm ausgegangen ist, und außer Gott nichts ist. So wir das Ding aber mit unserem sterblichen Auge anblicken, sehen wir nur das Unwesentliche davon, nämlich die vergängliche Erscheinung. Sie scheint uns etwas Selbständiges; und wenn das Ding, das Tier, der Mensch vernichtet wird, stirbt, so sagen wir: es ist nicht mehr. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/84>, abgerufen am 17.06.2024.