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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Weiterentwicklung des deutsch-österreichischen Bündnisses

abgesehen davon, daß dies zum Stimmungsgehalt seiner Rede schlecht gepaßt
hätte. Und dies bringt mich auf den schwachen Punkt des deutsch-österreichischen
Bundesverhältnisses.

Es handelt sich um folgendes: Nach dem Wortlaute des Vertrags war
das Deutsche Reich vor zwei Jahren sicherlich nicht verpflichtet, sogleich zu
erklären, daß es sich unbedingt auf Seite Österreichs stelle; aber in dem Augen¬
blick, wo Rußland, etwa infolge des Einmarsches österreichischer Truppen in
Serbien, Österreich den Krieg erklärte, war der Bündnisfall zweifellos gegeben.
Die spitzfindigste Haarspalterei hätte hier nicht Österreich -- etwa deshalb, weil
es durch die Annexion Bosniens den Berliner Vertrag verletzt habe -- als den
Angreifer hinstellen können; denn erstens wäre Rußland doch unter allen Um¬
ständen formell der Angreifer gewesen, aber auch materiell im Unrecht, weil es
tatsächlich durch Geheimverträge, die zum Teil zeitlich weit zurückliegen, zum
Teil jüngsten Datums waren, zur Annexion seine Zustimmung gegeben hatte.
Aber sehen wir selbst davon ab, nehmen wir an, daß Österreich wirklich und
ganz unzweideutig der Angreifer gewesen wäre: wenn der Bismarcksche Stand¬
punkt richtig war, daß das Deutsche Reich Österreich als Großmacht aus der
Landkarte Europas nicht entbehren könne, dann hätte es doch mindestens ein¬
springen müssen, wenn Österreich von Rußland, Serbien und wahrscheinlich als
dritten im Bunde Italien besiegt am Boden gelegen hätte. Man lese in den
"Gedanken und Erinnerungen" nach: als Bismarck von russischer Seite gezwungen
wird, zwischen Österreich und Rußland zu wählen, läßt er Nußland wissen,
"daß wir zwar ertragen könnten, daß unsre Freunde (d. i. Österreich und
Rußland) gegeneinander Schlachten verlören odee gewonnen, aber nicht, daß
einer von beiden so schwer verwundet und geschädigt werde, daß seine Stellung
als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde".
Das war drei Jahre vor Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses.

Nach Abschluß des Bündnisses hat es eine Situation gegeben, die mit der
Annexionstnse vor zwei Jahren sehr viel Ähnlichkeit hatte: die bulgarische Krise
in den Jahren 1885 bis 1887. Die deutsche und die österreichische Politik
gingen damals sehr verschiedene Wege. Nach Bismarcks Meinung hätte man
Rußland an der Gewaltpolitik gegenüber Bulgarien gar nicht hindern sollen;
denn sicherlich hätten die Russen ganz erfolglos an diesem Knochen herum¬
gewürgt und der Pcmslawismus hätte einen unheilbaren Stoß erhalten, wem?
die Bulgaren die russische Liebe einmal recht gründlich am eigenen Leibe genossen
hätten; schließlich hätten sie sich ihre Freiheit doch auch gegen Rußland erkämpft.
Und da sah Bismarck zweifellos viel weiter als die die österreichische Politik
leitenden magyarischen Politiker. Das formale Recht war indes zweifellos auf
Seite Österreichs: eine Besetzung Bulgariens durch Rußland hätte dem Wortlaut
des Berliner Vertrags widersprochen. Bismarck legte ihn jedoch in seiner
berühmten Rede vom 6. Februar 1888 eher zugunsten Rußlands aus, d. h.
er sprach nicht vom Wortlaute des Vertrages, sondern von den Gedanken, die


Die Weiterentwicklung des deutsch-österreichischen Bündnisses

abgesehen davon, daß dies zum Stimmungsgehalt seiner Rede schlecht gepaßt
hätte. Und dies bringt mich auf den schwachen Punkt des deutsch-österreichischen
Bundesverhältnisses.

Es handelt sich um folgendes: Nach dem Wortlaute des Vertrags war
das Deutsche Reich vor zwei Jahren sicherlich nicht verpflichtet, sogleich zu
erklären, daß es sich unbedingt auf Seite Österreichs stelle; aber in dem Augen¬
blick, wo Rußland, etwa infolge des Einmarsches österreichischer Truppen in
Serbien, Österreich den Krieg erklärte, war der Bündnisfall zweifellos gegeben.
Die spitzfindigste Haarspalterei hätte hier nicht Österreich — etwa deshalb, weil
es durch die Annexion Bosniens den Berliner Vertrag verletzt habe — als den
Angreifer hinstellen können; denn erstens wäre Rußland doch unter allen Um¬
ständen formell der Angreifer gewesen, aber auch materiell im Unrecht, weil es
tatsächlich durch Geheimverträge, die zum Teil zeitlich weit zurückliegen, zum
Teil jüngsten Datums waren, zur Annexion seine Zustimmung gegeben hatte.
Aber sehen wir selbst davon ab, nehmen wir an, daß Österreich wirklich und
ganz unzweideutig der Angreifer gewesen wäre: wenn der Bismarcksche Stand¬
punkt richtig war, daß das Deutsche Reich Österreich als Großmacht aus der
Landkarte Europas nicht entbehren könne, dann hätte es doch mindestens ein¬
springen müssen, wenn Österreich von Rußland, Serbien und wahrscheinlich als
dritten im Bunde Italien besiegt am Boden gelegen hätte. Man lese in den
„Gedanken und Erinnerungen" nach: als Bismarck von russischer Seite gezwungen
wird, zwischen Österreich und Rußland zu wählen, läßt er Nußland wissen,
„daß wir zwar ertragen könnten, daß unsre Freunde (d. i. Österreich und
Rußland) gegeneinander Schlachten verlören odee gewonnen, aber nicht, daß
einer von beiden so schwer verwundet und geschädigt werde, daß seine Stellung
als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde".
Das war drei Jahre vor Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses.

Nach Abschluß des Bündnisses hat es eine Situation gegeben, die mit der
Annexionstnse vor zwei Jahren sehr viel Ähnlichkeit hatte: die bulgarische Krise
in den Jahren 1885 bis 1887. Die deutsche und die österreichische Politik
gingen damals sehr verschiedene Wege. Nach Bismarcks Meinung hätte man
Rußland an der Gewaltpolitik gegenüber Bulgarien gar nicht hindern sollen;
denn sicherlich hätten die Russen ganz erfolglos an diesem Knochen herum¬
gewürgt und der Pcmslawismus hätte einen unheilbaren Stoß erhalten, wem?
die Bulgaren die russische Liebe einmal recht gründlich am eigenen Leibe genossen
hätten; schließlich hätten sie sich ihre Freiheit doch auch gegen Rußland erkämpft.
Und da sah Bismarck zweifellos viel weiter als die die österreichische Politik
leitenden magyarischen Politiker. Das formale Recht war indes zweifellos auf
Seite Österreichs: eine Besetzung Bulgariens durch Rußland hätte dem Wortlaut
des Berliner Vertrags widersprochen. Bismarck legte ihn jedoch in seiner
berühmten Rede vom 6. Februar 1888 eher zugunsten Rußlands aus, d. h.
er sprach nicht vom Wortlaute des Vertrages, sondern von den Gedanken, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/14>, abgerufen am 15.05.2024.