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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Weiterentwicklung des deutsch-österreichischen Bündnisses

die Vertragsmächte sich beim Kongreß über die künftige Stellung Rußlands in
Bulgarien gemacht hätten. Der Zwiespalt zwischen der deutschen und der
österreichischen Auffassung war damals so groß und so offenkundig, daß man
das zur Zeit in seinem Wortlaut noch nicht bekannte Bündnis in der öffentlichen
Meinung ernstlich für erschüttert hielt. Recht bezeichnend ist eine Rede, die
Graf Andrassy am 16. November 1886 in der ungarischen Delegation hielt.
Von verschiedenen Seiten waren Vorwürfe gegen das Bündnis erhoben worden,
das Österreich-Ungarn in der Balkanpolitik offenbar keinen Rückhalt gewähre.
Andrassy, der das Bündnis geschlossen hatte und nun der Delegation als
Abgeordneter angehörte, fühlte sich dadurch getroffen und versetzte seinem Nach¬
folger, dem Grafen Kalnoky, dessen Politik ihm zu bedächtig war, folgenden
Hieb: das Bündnis werde nur deshalb in der bulgarischen Frage nicht aus¬
genützt, weil Österreich Deutschland immer als Vermittler Rußland gegenüber
in Anspruch nehme; es möge seinen Weg geradeaus gehen, ohne auf Rußland
irgendwie Rücksicht zu nehmen. Man mag bezweifeln, ob seinen Hörern --
mit Ausnahme der Vertreter des Ministeriums des Äußeren, die den Vertrag
kannten -- der Sinn seiner Worte sehr deutlich war; heute, wo wir den
Wortlaut des Vertrages kennen, kann darüber gar kein Zweifel sein: Andrassy
wollte es ohne Rücksicht auf Deutschland zum Kriege treiben; griff Rußland
an, dann war Deutschland eben zur Hilfe verpflichtet. Bismarck hat den Krieg
ja schließlich verhindert; Kalnoky war von seinen Landsleuten mehr gedrängt
als selbst konfliktslustig, Rußland gegenüber machte Bismarck aber von den stärksten
Beschwörungsformeln Gebrauch, ließ es schließlich auch wissen, daß er Öster¬
reich doch nicht im Stiche lassen werde, wenn er auch dessen Standpunkt nicht
teile. Der Zorn der Panslawisten richtete sich denn auch mehr gegen Deutsch¬
land als gegen Österreich. Skobeleff hatte das Wort geprägt, daß der Weg
nach Konstantinopel durchs Brandenburger Tor gehe; und das blieb schließlich
richtig, trotzdem Bismarck wiederholt ausgesprochen hat, daß er den Russen den
Besitz von Konstantinopel durchaus gönne.

Bismarck hat damals eine andre Taktik eingeschlagen als in ähnlicher
Lage vor zwei Jahren Bülow, und letzterem ist dies unter Hinweis auf seinen
großen Vorgänger von mancher Seite verdacht worden. Aber in der Situation
lagen doch zwei wesentliche Unterschiede: erstens war damals die österreichische
Politik, trotzdem sie den Buchstaben des Berliner Vertrags auf ihrer Seite
hatte, doch wesentlich aggressiver, Bulgarien lag zweifellos in der russischen
Einflußsphäre; es war nicht abzusehen, wohin eine Politik nach den Wünschen
der magyarischen Heißsporne führen würde, ein rückhaltloses Eintreten für die
österreichische Politik seitens Deutschlands wäre Wasser auf deren Mühlen
gewesen. Die Aktion bei der Einverleibung Bosniens war von vornherein
begrenzt, was auch in der Räumung des Scmdschaks zum Ausdruck kam, und
das moralische Recht auf Österreichs Seite, wenn es auch den Buchstaben des
Berliner Vertrags verletzte. Zweitens war damals das Verhältnis zu Rußland


Die Weiterentwicklung des deutsch-österreichischen Bündnisses

die Vertragsmächte sich beim Kongreß über die künftige Stellung Rußlands in
Bulgarien gemacht hätten. Der Zwiespalt zwischen der deutschen und der
österreichischen Auffassung war damals so groß und so offenkundig, daß man
das zur Zeit in seinem Wortlaut noch nicht bekannte Bündnis in der öffentlichen
Meinung ernstlich für erschüttert hielt. Recht bezeichnend ist eine Rede, die
Graf Andrassy am 16. November 1886 in der ungarischen Delegation hielt.
Von verschiedenen Seiten waren Vorwürfe gegen das Bündnis erhoben worden,
das Österreich-Ungarn in der Balkanpolitik offenbar keinen Rückhalt gewähre.
Andrassy, der das Bündnis geschlossen hatte und nun der Delegation als
Abgeordneter angehörte, fühlte sich dadurch getroffen und versetzte seinem Nach¬
folger, dem Grafen Kalnoky, dessen Politik ihm zu bedächtig war, folgenden
Hieb: das Bündnis werde nur deshalb in der bulgarischen Frage nicht aus¬
genützt, weil Österreich Deutschland immer als Vermittler Rußland gegenüber
in Anspruch nehme; es möge seinen Weg geradeaus gehen, ohne auf Rußland
irgendwie Rücksicht zu nehmen. Man mag bezweifeln, ob seinen Hörern —
mit Ausnahme der Vertreter des Ministeriums des Äußeren, die den Vertrag
kannten — der Sinn seiner Worte sehr deutlich war; heute, wo wir den
Wortlaut des Vertrages kennen, kann darüber gar kein Zweifel sein: Andrassy
wollte es ohne Rücksicht auf Deutschland zum Kriege treiben; griff Rußland
an, dann war Deutschland eben zur Hilfe verpflichtet. Bismarck hat den Krieg
ja schließlich verhindert; Kalnoky war von seinen Landsleuten mehr gedrängt
als selbst konfliktslustig, Rußland gegenüber machte Bismarck aber von den stärksten
Beschwörungsformeln Gebrauch, ließ es schließlich auch wissen, daß er Öster¬
reich doch nicht im Stiche lassen werde, wenn er auch dessen Standpunkt nicht
teile. Der Zorn der Panslawisten richtete sich denn auch mehr gegen Deutsch¬
land als gegen Österreich. Skobeleff hatte das Wort geprägt, daß der Weg
nach Konstantinopel durchs Brandenburger Tor gehe; und das blieb schließlich
richtig, trotzdem Bismarck wiederholt ausgesprochen hat, daß er den Russen den
Besitz von Konstantinopel durchaus gönne.

Bismarck hat damals eine andre Taktik eingeschlagen als in ähnlicher
Lage vor zwei Jahren Bülow, und letzterem ist dies unter Hinweis auf seinen
großen Vorgänger von mancher Seite verdacht worden. Aber in der Situation
lagen doch zwei wesentliche Unterschiede: erstens war damals die österreichische
Politik, trotzdem sie den Buchstaben des Berliner Vertrags auf ihrer Seite
hatte, doch wesentlich aggressiver, Bulgarien lag zweifellos in der russischen
Einflußsphäre; es war nicht abzusehen, wohin eine Politik nach den Wünschen
der magyarischen Heißsporne führen würde, ein rückhaltloses Eintreten für die
österreichische Politik seitens Deutschlands wäre Wasser auf deren Mühlen
gewesen. Die Aktion bei der Einverleibung Bosniens war von vornherein
begrenzt, was auch in der Räumung des Scmdschaks zum Ausdruck kam, und
das moralische Recht auf Österreichs Seite, wenn es auch den Buchstaben des
Berliner Vertrags verletzte. Zweitens war damals das Verhältnis zu Rußland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/15>, abgerufen am 15.05.2024.