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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

stehen, UM nachzudenken, ob er den Schlingel, der noch immer bellte und miaute,
nicht verhaften solle.

Das Häufchen war jetzt bis auf fünf zusammengeschmolzen, und als diese
noch unschlüssig waren, ob sie dem Aufseher nachlaufen und ihn besänftigen oder
ihn, wie Paschka vorschlug, zum Teufel gehen lassen sollten, begann Grischka
mit ungeschickten Gliederverzerrungen hin und her zu treten und zu stampfen,
fluchte, fiel nieder, grunzte noch einmal kläglich und hatte die Besinnung verloren.

"Fertig!" sagte Paschka und stieß ihn mit dem Fuße in die Seite.

Ein anderer befahl Stille, stellte sich am Kopfe des Gefallenen auf und
begann den Totensegen über ihn zu sprechen.

"Halt, halt!" rief Paschka. "Hier auf der Straße darf er doch nicht liegen.
Wir wollen ihn forttragen, anständig, wie man eine Leiche tragen muß. Faßt an."

Sie hoben ihn auf und luden ihn auf die Schultern. Zwei trugen den
Oberkörper und zwei die Beine. So gingen sie in feierlichem Schritt, Bruchstücke
aus Beerdigungsgesängen anstimmend.

Trotz der frühen Stunde begegneten ihnen Bauern, die zum Markt einkamen.
Die Leute sahen mit Staunen auf die Prozession, und einige zogen fromm
die Mützen.

Zum Glück wohnte Grischka in der Nähe. Als die Kameraden bei seiner
Pforte angekommen waren und dieselbe noch verschlossen fanden, berieten
sie sich einen Augenblick, legten ihn dann nieder und schoben ihn mit dem Kopfe
voran unter der Pforte durch, und zwar, da es nebenbei nicht ging, gerade in der
Mitte im Rinnstein.

Der arme bewußtlose Junge sah infolge dieser Behandlung aus wie eine
im Herbste in den Schmutz getretene Vogelscheuche am Wegrande neben einem
Erbsen- oder Haferfelde.

Die vier letzten machten sich nun lachend auf den Heimweg. Sie näherten
sich wieder der Mitte des Fleckens und waren eben an dem Hause vorüber, in
dem die Hebamme wohnte. Da stand Paschka still und wandte sich zurück.

"Das geht nicht, Brüder," sagte er. "Seht das Schild an. Hebamme!
Wohl zehn Jahre, vielleicht auch zwanzig, mag es an diesem jämmerlichen Orte
hängen. Glaubt ihr, daß ein solches unglückliches Schild keine Gefühle habe?
Glaubt ihr, daß es sich nicht nach Freiheit, nach Veränderung sehne, nicht die
Welt sehen und sich sehen lassen wolle? Ich kann nicht, ich muß ihm helfen."

Schnell war er an der Tür und hatte in einem Augenblick das alte Blech
von den Nägeln gerissen. Lachend trug er es den Kameraden zu.

"Wohin damit?"

"In den Bach."

"Gott bewahre!" wandte Paschka ein. "Warum das Ding ersäufen! Es
kostet doch Geld. Und es wird damit auch nicht zufrieden sein. Es will sich
noch seines Lebens freuen." '

"Ja, es muß an einen besseren Ort," lachte ein anderer. "Ich weiß auch,
wohin."

"An die Polizeiverwaltung wollen wir es schlagen, zum Spott dem Narren,
dem Wolski."

"Hurra!" rief Paschka und lief mit dem Schilde voran.


Im Flecken

stehen, UM nachzudenken, ob er den Schlingel, der noch immer bellte und miaute,
nicht verhaften solle.

Das Häufchen war jetzt bis auf fünf zusammengeschmolzen, und als diese
noch unschlüssig waren, ob sie dem Aufseher nachlaufen und ihn besänftigen oder
ihn, wie Paschka vorschlug, zum Teufel gehen lassen sollten, begann Grischka
mit ungeschickten Gliederverzerrungen hin und her zu treten und zu stampfen,
fluchte, fiel nieder, grunzte noch einmal kläglich und hatte die Besinnung verloren.

„Fertig!" sagte Paschka und stieß ihn mit dem Fuße in die Seite.

Ein anderer befahl Stille, stellte sich am Kopfe des Gefallenen auf und
begann den Totensegen über ihn zu sprechen.

„Halt, halt!" rief Paschka. „Hier auf der Straße darf er doch nicht liegen.
Wir wollen ihn forttragen, anständig, wie man eine Leiche tragen muß. Faßt an."

Sie hoben ihn auf und luden ihn auf die Schultern. Zwei trugen den
Oberkörper und zwei die Beine. So gingen sie in feierlichem Schritt, Bruchstücke
aus Beerdigungsgesängen anstimmend.

Trotz der frühen Stunde begegneten ihnen Bauern, die zum Markt einkamen.
Die Leute sahen mit Staunen auf die Prozession, und einige zogen fromm
die Mützen.

Zum Glück wohnte Grischka in der Nähe. Als die Kameraden bei seiner
Pforte angekommen waren und dieselbe noch verschlossen fanden, berieten
sie sich einen Augenblick, legten ihn dann nieder und schoben ihn mit dem Kopfe
voran unter der Pforte durch, und zwar, da es nebenbei nicht ging, gerade in der
Mitte im Rinnstein.

Der arme bewußtlose Junge sah infolge dieser Behandlung aus wie eine
im Herbste in den Schmutz getretene Vogelscheuche am Wegrande neben einem
Erbsen- oder Haferfelde.

Die vier letzten machten sich nun lachend auf den Heimweg. Sie näherten
sich wieder der Mitte des Fleckens und waren eben an dem Hause vorüber, in
dem die Hebamme wohnte. Da stand Paschka still und wandte sich zurück.

„Das geht nicht, Brüder," sagte er. „Seht das Schild an. Hebamme!
Wohl zehn Jahre, vielleicht auch zwanzig, mag es an diesem jämmerlichen Orte
hängen. Glaubt ihr, daß ein solches unglückliches Schild keine Gefühle habe?
Glaubt ihr, daß es sich nicht nach Freiheit, nach Veränderung sehne, nicht die
Welt sehen und sich sehen lassen wolle? Ich kann nicht, ich muß ihm helfen."

Schnell war er an der Tür und hatte in einem Augenblick das alte Blech
von den Nägeln gerissen. Lachend trug er es den Kameraden zu.

„Wohin damit?"

„In den Bach."

„Gott bewahre!" wandte Paschka ein. „Warum das Ding ersäufen! Es
kostet doch Geld. Und es wird damit auch nicht zufrieden sein. Es will sich
noch seines Lebens freuen." '

„Ja, es muß an einen besseren Ort," lachte ein anderer. „Ich weiß auch,
wohin."

„An die Polizeiverwaltung wollen wir es schlagen, zum Spott dem Narren,
dem Wolski."

„Hurra!" rief Paschka und lief mit dem Schilde voran.


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[0190] Im Flecken stehen, UM nachzudenken, ob er den Schlingel, der noch immer bellte und miaute, nicht verhaften solle. Das Häufchen war jetzt bis auf fünf zusammengeschmolzen, und als diese noch unschlüssig waren, ob sie dem Aufseher nachlaufen und ihn besänftigen oder ihn, wie Paschka vorschlug, zum Teufel gehen lassen sollten, begann Grischka mit ungeschickten Gliederverzerrungen hin und her zu treten und zu stampfen, fluchte, fiel nieder, grunzte noch einmal kläglich und hatte die Besinnung verloren. „Fertig!" sagte Paschka und stieß ihn mit dem Fuße in die Seite. Ein anderer befahl Stille, stellte sich am Kopfe des Gefallenen auf und begann den Totensegen über ihn zu sprechen. „Halt, halt!" rief Paschka. „Hier auf der Straße darf er doch nicht liegen. Wir wollen ihn forttragen, anständig, wie man eine Leiche tragen muß. Faßt an." Sie hoben ihn auf und luden ihn auf die Schultern. Zwei trugen den Oberkörper und zwei die Beine. So gingen sie in feierlichem Schritt, Bruchstücke aus Beerdigungsgesängen anstimmend. Trotz der frühen Stunde begegneten ihnen Bauern, die zum Markt einkamen. Die Leute sahen mit Staunen auf die Prozession, und einige zogen fromm die Mützen. Zum Glück wohnte Grischka in der Nähe. Als die Kameraden bei seiner Pforte angekommen waren und dieselbe noch verschlossen fanden, berieten sie sich einen Augenblick, legten ihn dann nieder und schoben ihn mit dem Kopfe voran unter der Pforte durch, und zwar, da es nebenbei nicht ging, gerade in der Mitte im Rinnstein. Der arme bewußtlose Junge sah infolge dieser Behandlung aus wie eine im Herbste in den Schmutz getretene Vogelscheuche am Wegrande neben einem Erbsen- oder Haferfelde. Die vier letzten machten sich nun lachend auf den Heimweg. Sie näherten sich wieder der Mitte des Fleckens und waren eben an dem Hause vorüber, in dem die Hebamme wohnte. Da stand Paschka still und wandte sich zurück. „Das geht nicht, Brüder," sagte er. „Seht das Schild an. Hebamme! Wohl zehn Jahre, vielleicht auch zwanzig, mag es an diesem jämmerlichen Orte hängen. Glaubt ihr, daß ein solches unglückliches Schild keine Gefühle habe? Glaubt ihr, daß es sich nicht nach Freiheit, nach Veränderung sehne, nicht die Welt sehen und sich sehen lassen wolle? Ich kann nicht, ich muß ihm helfen." Schnell war er an der Tür und hatte in einem Augenblick das alte Blech von den Nägeln gerissen. Lachend trug er es den Kameraden zu. „Wohin damit?" „In den Bach." „Gott bewahre!" wandte Paschka ein. „Warum das Ding ersäufen! Es kostet doch Geld. Und es wird damit auch nicht zufrieden sein. Es will sich noch seines Lebens freuen." ' „Ja, es muß an einen besseren Ort," lachte ein anderer. „Ich weiß auch, wohin." „An die Polizeiverwaltung wollen wir es schlagen, zum Spott dem Narren, dem Wolski." „Hurra!" rief Paschka und lief mit dem Schilde voran.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/190>, abgerufen am 01.11.2024.