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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Berliner Universität

wissenschaftliche Staatsinstitute befanden und sich das geistige Leben in einer
stattlichen Reihe von Vorlesungen befriedigte, die z. B. von dem herrlichen,
vielseitigen Schleiermacher, Fichte, F. A. Wolf, C. W. Hufeland gehalten wurden,
so daß gegen 1810 die Universität inoffiziell eigentlich schon da war. Gegen
den Plan zuckte aus den Ätherhöhen der Akademie als schreckhafter Blitz das
Paradoxon, die Wissenschaft sei ausschließlicher Besitz der Akademie. Der
Akademiker habe den Genieblick, dessen der Universitätsprofessor nicht bedürfe.
Nach verschiedenen Plänen der Organisation hatte der König die Entscheidung
gebracht. Die Universität war dann ebenso ein Ergebnis fürstlicher Begründung
wie volkstümlichen Lebens, intellektueller Bedürfnisse wie moralischer Triebkräfte.
W. v. Humboldts zäher Energie verdankte man (1809 bis 1810) die Organisierung.
Für die Auditorien ("die Weisheitszellen") schenkte der König das Palais des
1802 verstorbenen Prinzen Heinrich, nachdem es dem Schicksal entgangen war,
ein Postamt oder eine Brauerei zu werden. Sehr mühsam mußte aus allerlei
Kassen das Geld zusammengesucht, die Zahl der Dozenten von außerhalb
ergänzt werden. In vielen Zügen trat ihre vaterländische Gesinnung und sitt¬
liche Größe hervor, die den Tod fürs Vaterland nicht scheuen wollte. Der
erste eingesetzte Rektor war der vielseitige Jurist Schmalz, der erste erwählte
Fichte, der arme Leineweberssohu (1762 bis 1814), der ein unstetes Leben
geführt und den Hunger kennen gelernt hatte. Bei der Eröffnung gab es keine
feierlichen Aufzüge, Proklanrationen und temperamentvollen Toaste. Das Vater¬
land hatte trauernd sein Antlitz verhüllt; seine Söhne fühlten den Schmerz der
geliebten Mutter. Die Existenz der meisten Dozenten war das, was die
Franzosen Konorable incliZencs nennen, eine ehrenhafte Dürftigkeit. Ihre
Zahl betrug mit 6 Akademikern und 5 Lektoren 63. Sie steigerte sich
1859 auf 173, 1895 auf 345, 1910 auf beinahe 500. Immatrikuliert waren
1810: 454 Studenten, im Jahre 1888: 5631; im Jahre 1909 gab es
9242 Hörer, darunter 632 weibliche; dazu kamen von anderen Instituten 5156,
so daß im ganzen 14398 berechtigte Hörer vorhanden waren. Frauen als
Hospitantinnen traten zuerst in größerer Menge im Jahre 1895 hervor. Die
Zahl der Vorlesungen betrug 1810 (mit Ausschluß von 5 Lektoren) 116; jetzt
sind 1110 angekündigt, davon theologische 60, juristische 87, medizinische über 400,
philosophische 558. Anfänglich kostete die Universität ungefähr 160000 Mark,
gegenwärtig wird der Etat etwa 3 Millionen betragen.

Bald wurde das wissenschaftliche Leben durch die Politik unterbrochen.
Studenten und Dozenten zogen ins Feld. Für die Bedürftigen wurde mannig¬
fach gesorgt.

Etwa fünfundzwanzig Institute, die allmählich entstanden, waren mit der Uni¬
versität verbunden, zum Teil in sehr bescheidenen Räumen untergebracht und durch¬
weg nicht in Verlegenheit, wie die vorhandenen Mittel verbraucht werden könnten.
Der Staat hatte etwa 4^ Millionen Einwohner und verfügte über 13 Millionen
Taler. Jetzt haben die Institute wundervolle Häuser, kostbare Sammlungen,


Grenzboten IV 1910 2
Hundert Jahre Berliner Universität

wissenschaftliche Staatsinstitute befanden und sich das geistige Leben in einer
stattlichen Reihe von Vorlesungen befriedigte, die z. B. von dem herrlichen,
vielseitigen Schleiermacher, Fichte, F. A. Wolf, C. W. Hufeland gehalten wurden,
so daß gegen 1810 die Universität inoffiziell eigentlich schon da war. Gegen
den Plan zuckte aus den Ätherhöhen der Akademie als schreckhafter Blitz das
Paradoxon, die Wissenschaft sei ausschließlicher Besitz der Akademie. Der
Akademiker habe den Genieblick, dessen der Universitätsprofessor nicht bedürfe.
Nach verschiedenen Plänen der Organisation hatte der König die Entscheidung
gebracht. Die Universität war dann ebenso ein Ergebnis fürstlicher Begründung
wie volkstümlichen Lebens, intellektueller Bedürfnisse wie moralischer Triebkräfte.
W. v. Humboldts zäher Energie verdankte man (1809 bis 1810) die Organisierung.
Für die Auditorien („die Weisheitszellen") schenkte der König das Palais des
1802 verstorbenen Prinzen Heinrich, nachdem es dem Schicksal entgangen war,
ein Postamt oder eine Brauerei zu werden. Sehr mühsam mußte aus allerlei
Kassen das Geld zusammengesucht, die Zahl der Dozenten von außerhalb
ergänzt werden. In vielen Zügen trat ihre vaterländische Gesinnung und sitt¬
liche Größe hervor, die den Tod fürs Vaterland nicht scheuen wollte. Der
erste eingesetzte Rektor war der vielseitige Jurist Schmalz, der erste erwählte
Fichte, der arme Leineweberssohu (1762 bis 1814), der ein unstetes Leben
geführt und den Hunger kennen gelernt hatte. Bei der Eröffnung gab es keine
feierlichen Aufzüge, Proklanrationen und temperamentvollen Toaste. Das Vater¬
land hatte trauernd sein Antlitz verhüllt; seine Söhne fühlten den Schmerz der
geliebten Mutter. Die Existenz der meisten Dozenten war das, was die
Franzosen Konorable incliZencs nennen, eine ehrenhafte Dürftigkeit. Ihre
Zahl betrug mit 6 Akademikern und 5 Lektoren 63. Sie steigerte sich
1859 auf 173, 1895 auf 345, 1910 auf beinahe 500. Immatrikuliert waren
1810: 454 Studenten, im Jahre 1888: 5631; im Jahre 1909 gab es
9242 Hörer, darunter 632 weibliche; dazu kamen von anderen Instituten 5156,
so daß im ganzen 14398 berechtigte Hörer vorhanden waren. Frauen als
Hospitantinnen traten zuerst in größerer Menge im Jahre 1895 hervor. Die
Zahl der Vorlesungen betrug 1810 (mit Ausschluß von 5 Lektoren) 116; jetzt
sind 1110 angekündigt, davon theologische 60, juristische 87, medizinische über 400,
philosophische 558. Anfänglich kostete die Universität ungefähr 160000 Mark,
gegenwärtig wird der Etat etwa 3 Millionen betragen.

Bald wurde das wissenschaftliche Leben durch die Politik unterbrochen.
Studenten und Dozenten zogen ins Feld. Für die Bedürftigen wurde mannig¬
fach gesorgt.

Etwa fünfundzwanzig Institute, die allmählich entstanden, waren mit der Uni¬
versität verbunden, zum Teil in sehr bescheidenen Räumen untergebracht und durch¬
weg nicht in Verlegenheit, wie die vorhandenen Mittel verbraucht werden könnten.
Der Staat hatte etwa 4^ Millionen Einwohner und verfügte über 13 Millionen
Taler. Jetzt haben die Institute wundervolle Häuser, kostbare Sammlungen,


Grenzboten IV 1910 2
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[0021] Hundert Jahre Berliner Universität wissenschaftliche Staatsinstitute befanden und sich das geistige Leben in einer stattlichen Reihe von Vorlesungen befriedigte, die z. B. von dem herrlichen, vielseitigen Schleiermacher, Fichte, F. A. Wolf, C. W. Hufeland gehalten wurden, so daß gegen 1810 die Universität inoffiziell eigentlich schon da war. Gegen den Plan zuckte aus den Ätherhöhen der Akademie als schreckhafter Blitz das Paradoxon, die Wissenschaft sei ausschließlicher Besitz der Akademie. Der Akademiker habe den Genieblick, dessen der Universitätsprofessor nicht bedürfe. Nach verschiedenen Plänen der Organisation hatte der König die Entscheidung gebracht. Die Universität war dann ebenso ein Ergebnis fürstlicher Begründung wie volkstümlichen Lebens, intellektueller Bedürfnisse wie moralischer Triebkräfte. W. v. Humboldts zäher Energie verdankte man (1809 bis 1810) die Organisierung. Für die Auditorien („die Weisheitszellen") schenkte der König das Palais des 1802 verstorbenen Prinzen Heinrich, nachdem es dem Schicksal entgangen war, ein Postamt oder eine Brauerei zu werden. Sehr mühsam mußte aus allerlei Kassen das Geld zusammengesucht, die Zahl der Dozenten von außerhalb ergänzt werden. In vielen Zügen trat ihre vaterländische Gesinnung und sitt¬ liche Größe hervor, die den Tod fürs Vaterland nicht scheuen wollte. Der erste eingesetzte Rektor war der vielseitige Jurist Schmalz, der erste erwählte Fichte, der arme Leineweberssohu (1762 bis 1814), der ein unstetes Leben geführt und den Hunger kennen gelernt hatte. Bei der Eröffnung gab es keine feierlichen Aufzüge, Proklanrationen und temperamentvollen Toaste. Das Vater¬ land hatte trauernd sein Antlitz verhüllt; seine Söhne fühlten den Schmerz der geliebten Mutter. Die Existenz der meisten Dozenten war das, was die Franzosen Konorable incliZencs nennen, eine ehrenhafte Dürftigkeit. Ihre Zahl betrug mit 6 Akademikern und 5 Lektoren 63. Sie steigerte sich 1859 auf 173, 1895 auf 345, 1910 auf beinahe 500. Immatrikuliert waren 1810: 454 Studenten, im Jahre 1888: 5631; im Jahre 1909 gab es 9242 Hörer, darunter 632 weibliche; dazu kamen von anderen Instituten 5156, so daß im ganzen 14398 berechtigte Hörer vorhanden waren. Frauen als Hospitantinnen traten zuerst in größerer Menge im Jahre 1895 hervor. Die Zahl der Vorlesungen betrug 1810 (mit Ausschluß von 5 Lektoren) 116; jetzt sind 1110 angekündigt, davon theologische 60, juristische 87, medizinische über 400, philosophische 558. Anfänglich kostete die Universität ungefähr 160000 Mark, gegenwärtig wird der Etat etwa 3 Millionen betragen. Bald wurde das wissenschaftliche Leben durch die Politik unterbrochen. Studenten und Dozenten zogen ins Feld. Für die Bedürftigen wurde mannig¬ fach gesorgt. Etwa fünfundzwanzig Institute, die allmählich entstanden, waren mit der Uni¬ versität verbunden, zum Teil in sehr bescheidenen Räumen untergebracht und durch¬ weg nicht in Verlegenheit, wie die vorhandenen Mittel verbraucht werden könnten. Der Staat hatte etwa 4^ Millionen Einwohner und verfügte über 13 Millionen Taler. Jetzt haben die Institute wundervolle Häuser, kostbare Sammlungen, Grenzboten IV 1910 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/21>, abgerufen am 15.05.2024.