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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Berliner Universität

ausgezeichnete Laboratorien. Der Fortschritt der Wissenschaft steht in wohl¬
tuendem Einklang mit der Machtentfaltung des Vaterlands. Nach seiner Be¬
freiung erfolgten Ehrenpromotionen. Die philosophische Fakultät zählte auch
den Marschall Vorwärts zu den Ihrigen, der einst so reizend an Stein geschrieben
hatte: "Ich hoffe, mein verehrter Freund, Sie sind von mich zufrieden", und der
auf eine poetische Darbietung antwortete: "In solchen Zeiten muß jeder singen,
wie es ihm ums Herz ist; der eine mit dem Schnabel, der andre mit dein
Säbel." In späterer Zeit gratulierte auch einst dem alten Ranke Bismarck als
Doktor.

Obgleich die Dozenten gleich anfangs mit einer reich und schön besetzten
Tafel aufwarteten, äußerten sich bald Wünsche nach Ergänzung. Darin waren
aber die Gründe der Um- und Fortbildung der Universität nicht enthalten.

Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts glaubte man ziemlich allgemein,
daß die ganze wissenschaftliche Bildung der neuen Zeit auf dem Studium des Alter¬
tums beruhe, womit freilich, vom römischen Recht abgesehn, hauptsächlich das
griechische gemeint war, das die großen Dichter verherrlicht hatten. Diese
Wissenschaft war damals zu reichen Ernten berufen, wie sich besonders bei dem
unvergleichlichen Böckh zeigte. Allmählich begann aber die kritisch-objektive
Stimmung vor der enthusiastischen vorzuherrschen. Die Alten mußten sich einige
Subtraktionsexempel gefallen lassen. Außerdem wuchsen die Germanistik und die
Sprachwissenschaft heran.

Zu herber Selbstbesinnung gezwungen und nicht gewillt, das Bewußtsein
des eigenen Wertes aufzugeben, wendeten sich unsere Vorfahren der eigenen
Vergangenheit zu. Die Romantik schärfte trotz ihrer Phantastereien den geschicht¬
lichen Sinn. Die vergleichende Sprachwissenschaft lenkte den Blick in neue
Fernen. Treitschke behauptet, daß sich schon seit dem Ende der dreißiger Jahre
bemerken ließ, wie in der Schule die Freude an der klassischen Welt abnahm.

Die Philosophie, die durch Kant ihr Ansehn noch verstärkt hatte, in Fichte
durch sittlichen Schwung hinriß, imponierte als oft erdabgewandte Betrachtung
zuerst durch kühne Verheißungen und stand mit Theologie, Recht (Schmalz z. B.
schrieb ein Reines Naturrecht), ja mit den sogenannten exakten Wissenschaften
in engem Zusammenhang. Aber schon nach Hegels Tod (1831) begann die
hohe Flutwelle zu ebben, was auch Schelling (seit 1840 in Berlin) nicht änderte.
Man begann dem konstruktiven Verständnis zu mißtrauen. Der dogmatisch-
rationale Vortrag wich, auch in der Philosophie selbst, vor dem geschichtlichen
zurück. Und vor der geschichtlichen Erkenntnis schwinden mitunter die ewigen
Wahrheiten. Um die Mitte des Jahrhunderts gewann die Philosophie neue
Kraft wie Antäus durch die Berührung mit der Erde, d. h. mit den exakten
Wissenschaften. Z. B. erschien von Lotze 1842 eine Pathologie und Therapie
als mechanische Naturwissenschaften, 1852 eine Medizinische Psychologie.
G. Th. Fechner war eigentlich Physiker. Seine Elemente der Psychophysik
kamen 1860 heraus. Er wollte die Psychologie und Ästhetik exakt machen (bis


Hundert Jahre Berliner Universität

ausgezeichnete Laboratorien. Der Fortschritt der Wissenschaft steht in wohl¬
tuendem Einklang mit der Machtentfaltung des Vaterlands. Nach seiner Be¬
freiung erfolgten Ehrenpromotionen. Die philosophische Fakultät zählte auch
den Marschall Vorwärts zu den Ihrigen, der einst so reizend an Stein geschrieben
hatte: „Ich hoffe, mein verehrter Freund, Sie sind von mich zufrieden", und der
auf eine poetische Darbietung antwortete: „In solchen Zeiten muß jeder singen,
wie es ihm ums Herz ist; der eine mit dem Schnabel, der andre mit dein
Säbel." In späterer Zeit gratulierte auch einst dem alten Ranke Bismarck als
Doktor.

Obgleich die Dozenten gleich anfangs mit einer reich und schön besetzten
Tafel aufwarteten, äußerten sich bald Wünsche nach Ergänzung. Darin waren
aber die Gründe der Um- und Fortbildung der Universität nicht enthalten.

Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts glaubte man ziemlich allgemein,
daß die ganze wissenschaftliche Bildung der neuen Zeit auf dem Studium des Alter¬
tums beruhe, womit freilich, vom römischen Recht abgesehn, hauptsächlich das
griechische gemeint war, das die großen Dichter verherrlicht hatten. Diese
Wissenschaft war damals zu reichen Ernten berufen, wie sich besonders bei dem
unvergleichlichen Böckh zeigte. Allmählich begann aber die kritisch-objektive
Stimmung vor der enthusiastischen vorzuherrschen. Die Alten mußten sich einige
Subtraktionsexempel gefallen lassen. Außerdem wuchsen die Germanistik und die
Sprachwissenschaft heran.

Zu herber Selbstbesinnung gezwungen und nicht gewillt, das Bewußtsein
des eigenen Wertes aufzugeben, wendeten sich unsere Vorfahren der eigenen
Vergangenheit zu. Die Romantik schärfte trotz ihrer Phantastereien den geschicht¬
lichen Sinn. Die vergleichende Sprachwissenschaft lenkte den Blick in neue
Fernen. Treitschke behauptet, daß sich schon seit dem Ende der dreißiger Jahre
bemerken ließ, wie in der Schule die Freude an der klassischen Welt abnahm.

Die Philosophie, die durch Kant ihr Ansehn noch verstärkt hatte, in Fichte
durch sittlichen Schwung hinriß, imponierte als oft erdabgewandte Betrachtung
zuerst durch kühne Verheißungen und stand mit Theologie, Recht (Schmalz z. B.
schrieb ein Reines Naturrecht), ja mit den sogenannten exakten Wissenschaften
in engem Zusammenhang. Aber schon nach Hegels Tod (1831) begann die
hohe Flutwelle zu ebben, was auch Schelling (seit 1840 in Berlin) nicht änderte.
Man begann dem konstruktiven Verständnis zu mißtrauen. Der dogmatisch-
rationale Vortrag wich, auch in der Philosophie selbst, vor dem geschichtlichen
zurück. Und vor der geschichtlichen Erkenntnis schwinden mitunter die ewigen
Wahrheiten. Um die Mitte des Jahrhunderts gewann die Philosophie neue
Kraft wie Antäus durch die Berührung mit der Erde, d. h. mit den exakten
Wissenschaften. Z. B. erschien von Lotze 1842 eine Pathologie und Therapie
als mechanische Naturwissenschaften, 1852 eine Medizinische Psychologie.
G. Th. Fechner war eigentlich Physiker. Seine Elemente der Psychophysik
kamen 1860 heraus. Er wollte die Psychologie und Ästhetik exakt machen (bis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/22>, abgerufen am 15.05.2024.