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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage in England

wurde. Allerdings lag ein Präzedenzfall vor. Als im Jahre 1884 das Ober¬
haus die Gladstonesche Wahlrechtsreform abgelehnt hatte, traten auf Anregung
der Königin Viktoria die Führer der beiden Parteien zu privaten Besprechungen
zusammen, und in der Tat wurde ein Ausgleich erzielt. Aber jetzt handelte es
sich um eine weit umfassendere und schwierigere Frage. Die Beratungen der
Konferenz zogen sich über eine so lange Zeit hin, daß eine Unklarheit der inner-
politischen Lage entstand, für die es seit langem kein Beispiel gegeben hat.
Man ist in England daran gewöhnt, daß das politische Leben sich zu einem
sehr großen Teil in der Öffentlichkeit abspielt. Statt dessen waren die Tagungen
der Konferenz geheim, und die Parteien hatten sich mit Rücksicht auf sie einer
Art von Gottesfrieden unterwerfen müssen, der ihre Agitation lähmte. Die
bedeutendste Streitfrage war von der öffentlichen Diskussion nahezu ausgeschaltet.
Wahrend sollst die Herbstferien zu einer ausgiebigen Agitation benutzt werden,
erschienen jetzt die Führer kaum noch auf der Rednertribüne, oder sprachen
mindestens nicht über das eine Problem, das die ganze Situation beherrschte
Die kampflustigen Geister in beiden Parteien begannen unter dem erzwungenen
Waffenstillstand ungeberdig zu werden. Um die Verwirrung der öffentlichen
Meinung vollständig zu machen, wurde eine Fülle von Gerüchten von neuen
verfassungspolitischen Ideen und Projekten in das Publikum geworfen, die die
hergebrachten Parteigrenzen beständig überschritten, ohne daß die Führer in
billigenden oder absprechendem Sinne dazu Stellung nehmen konnten. Immer
dringender sehnte man das Ende der Konferenz herbei.

Der Konflikt der beiden Häuser des Parlaments reicht in seinen Anfängen
in die Zeit des letzten Gladstoneschen Ministeriums zurück, wo die Lords die
Homerulebill und den Gesetzentwurf über die Entstaatlichung der anglikanischen
Kirche in Wales verwarfen. Die Liberalen waren damals zu schwach, um den
Streit durchzufechten; die Wahlen von 1895 begründeten eine zehnjährige
Herrschaft der Konservativen. Aber bald nachdem die Wahlen von 1906 die
Liberalen wieder an die Regierung gebracht hatten, brach der Konflikt von
neuen: aus. Das Oberhalls wies die liberale Schulbill und die Novelle zur
Schankgesetzgebung zurück, und als es im vorigen Herbst auch das Budget
ablehnte, wurde die Krisis akut. Das Parlament wurde aufgelöst, allein die
Neuwahlen waren für beide Parteien eine Enttäuschung; keine gewann die
absolute Mehrheit. In dem neuen Hause zählten die Liberalen 275, die
Unionisten 273 Mitglieder. Die Liberalen waren auf eine Koalition mit der
Arbeiterpartei und den Iren angewiesen. Diese Koalition gab der Regierung
allerdings eine Unterhausmehrheit von über hundert Stimmen, aber es war
doch eben nur eine Koalition, und die Verbündeten stellten ihre Bedingungen.
Vor allem erhielt die Negierung die Unterstützung der irischen Nationalisten nur
unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Für die Liberalen selbst waren die
Wahlen ein Kampf um die Suprematie des Unterhauses gewesen. Ihr Ziel
war, die Rechte des Oberhauses durch ein Gesetz so zu beschränken, daß es auf


Die politische Lage in England

wurde. Allerdings lag ein Präzedenzfall vor. Als im Jahre 1884 das Ober¬
haus die Gladstonesche Wahlrechtsreform abgelehnt hatte, traten auf Anregung
der Königin Viktoria die Führer der beiden Parteien zu privaten Besprechungen
zusammen, und in der Tat wurde ein Ausgleich erzielt. Aber jetzt handelte es
sich um eine weit umfassendere und schwierigere Frage. Die Beratungen der
Konferenz zogen sich über eine so lange Zeit hin, daß eine Unklarheit der inner-
politischen Lage entstand, für die es seit langem kein Beispiel gegeben hat.
Man ist in England daran gewöhnt, daß das politische Leben sich zu einem
sehr großen Teil in der Öffentlichkeit abspielt. Statt dessen waren die Tagungen
der Konferenz geheim, und die Parteien hatten sich mit Rücksicht auf sie einer
Art von Gottesfrieden unterwerfen müssen, der ihre Agitation lähmte. Die
bedeutendste Streitfrage war von der öffentlichen Diskussion nahezu ausgeschaltet.
Wahrend sollst die Herbstferien zu einer ausgiebigen Agitation benutzt werden,
erschienen jetzt die Führer kaum noch auf der Rednertribüne, oder sprachen
mindestens nicht über das eine Problem, das die ganze Situation beherrschte
Die kampflustigen Geister in beiden Parteien begannen unter dem erzwungenen
Waffenstillstand ungeberdig zu werden. Um die Verwirrung der öffentlichen
Meinung vollständig zu machen, wurde eine Fülle von Gerüchten von neuen
verfassungspolitischen Ideen und Projekten in das Publikum geworfen, die die
hergebrachten Parteigrenzen beständig überschritten, ohne daß die Führer in
billigenden oder absprechendem Sinne dazu Stellung nehmen konnten. Immer
dringender sehnte man das Ende der Konferenz herbei.

Der Konflikt der beiden Häuser des Parlaments reicht in seinen Anfängen
in die Zeit des letzten Gladstoneschen Ministeriums zurück, wo die Lords die
Homerulebill und den Gesetzentwurf über die Entstaatlichung der anglikanischen
Kirche in Wales verwarfen. Die Liberalen waren damals zu schwach, um den
Streit durchzufechten; die Wahlen von 1895 begründeten eine zehnjährige
Herrschaft der Konservativen. Aber bald nachdem die Wahlen von 1906 die
Liberalen wieder an die Regierung gebracht hatten, brach der Konflikt von
neuen: aus. Das Oberhalls wies die liberale Schulbill und die Novelle zur
Schankgesetzgebung zurück, und als es im vorigen Herbst auch das Budget
ablehnte, wurde die Krisis akut. Das Parlament wurde aufgelöst, allein die
Neuwahlen waren für beide Parteien eine Enttäuschung; keine gewann die
absolute Mehrheit. In dem neuen Hause zählten die Liberalen 275, die
Unionisten 273 Mitglieder. Die Liberalen waren auf eine Koalition mit der
Arbeiterpartei und den Iren angewiesen. Diese Koalition gab der Regierung
allerdings eine Unterhausmehrheit von über hundert Stimmen, aber es war
doch eben nur eine Koalition, und die Verbündeten stellten ihre Bedingungen.
Vor allem erhielt die Negierung die Unterstützung der irischen Nationalisten nur
unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Für die Liberalen selbst waren die
Wahlen ein Kampf um die Suprematie des Unterhauses gewesen. Ihr Ziel
war, die Rechte des Oberhauses durch ein Gesetz so zu beschränken, daß es auf


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[0367] Die politische Lage in England wurde. Allerdings lag ein Präzedenzfall vor. Als im Jahre 1884 das Ober¬ haus die Gladstonesche Wahlrechtsreform abgelehnt hatte, traten auf Anregung der Königin Viktoria die Führer der beiden Parteien zu privaten Besprechungen zusammen, und in der Tat wurde ein Ausgleich erzielt. Aber jetzt handelte es sich um eine weit umfassendere und schwierigere Frage. Die Beratungen der Konferenz zogen sich über eine so lange Zeit hin, daß eine Unklarheit der inner- politischen Lage entstand, für die es seit langem kein Beispiel gegeben hat. Man ist in England daran gewöhnt, daß das politische Leben sich zu einem sehr großen Teil in der Öffentlichkeit abspielt. Statt dessen waren die Tagungen der Konferenz geheim, und die Parteien hatten sich mit Rücksicht auf sie einer Art von Gottesfrieden unterwerfen müssen, der ihre Agitation lähmte. Die bedeutendste Streitfrage war von der öffentlichen Diskussion nahezu ausgeschaltet. Wahrend sollst die Herbstferien zu einer ausgiebigen Agitation benutzt werden, erschienen jetzt die Führer kaum noch auf der Rednertribüne, oder sprachen mindestens nicht über das eine Problem, das die ganze Situation beherrschte Die kampflustigen Geister in beiden Parteien begannen unter dem erzwungenen Waffenstillstand ungeberdig zu werden. Um die Verwirrung der öffentlichen Meinung vollständig zu machen, wurde eine Fülle von Gerüchten von neuen verfassungspolitischen Ideen und Projekten in das Publikum geworfen, die die hergebrachten Parteigrenzen beständig überschritten, ohne daß die Führer in billigenden oder absprechendem Sinne dazu Stellung nehmen konnten. Immer dringender sehnte man das Ende der Konferenz herbei. Der Konflikt der beiden Häuser des Parlaments reicht in seinen Anfängen in die Zeit des letzten Gladstoneschen Ministeriums zurück, wo die Lords die Homerulebill und den Gesetzentwurf über die Entstaatlichung der anglikanischen Kirche in Wales verwarfen. Die Liberalen waren damals zu schwach, um den Streit durchzufechten; die Wahlen von 1895 begründeten eine zehnjährige Herrschaft der Konservativen. Aber bald nachdem die Wahlen von 1906 die Liberalen wieder an die Regierung gebracht hatten, brach der Konflikt von neuen: aus. Das Oberhalls wies die liberale Schulbill und die Novelle zur Schankgesetzgebung zurück, und als es im vorigen Herbst auch das Budget ablehnte, wurde die Krisis akut. Das Parlament wurde aufgelöst, allein die Neuwahlen waren für beide Parteien eine Enttäuschung; keine gewann die absolute Mehrheit. In dem neuen Hause zählten die Liberalen 275, die Unionisten 273 Mitglieder. Die Liberalen waren auf eine Koalition mit der Arbeiterpartei und den Iren angewiesen. Diese Koalition gab der Regierung allerdings eine Unterhausmehrheit von über hundert Stimmen, aber es war doch eben nur eine Koalition, und die Verbündeten stellten ihre Bedingungen. Vor allem erhielt die Negierung die Unterstützung der irischen Nationalisten nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Für die Liberalen selbst waren die Wahlen ein Kampf um die Suprematie des Unterhauses gewesen. Ihr Ziel war, die Rechte des Oberhauses durch ein Gesetz so zu beschränken, daß es auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/367>, abgerufen am 15.05.2024.