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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage in Lngland

Finanzgesetze gar keinen Einfluß und gegen andre Bills nur ein suspensives
Veto haben sollte. In dem Kampf gegen das Oberhaus hatten die Liberalen
sowohl die Iren wie die Arbeiterpartei auf ihrer Seite. Die Arbeiterpartei
möchte das Oberhaus am liebsten ganz abschaffen, und die Iren erblicken in der
Beschränkung seiner Macht den nächsten Weg zur Erreichung von Homerule.
Aber es war für die Regierung so gut wie ausgeschlossen, ihren Plan in dein
gegenwärtigen Parlament zu verwirklichen. Das Unterhaus allein kann die
Verfassung nicht ändern, auch das Oberhaus muß seine Zustimmung geben.
Dazu wäre ein Peerschub notwendig, und zwar handelt es sich um die Ernennung
von nahezu fünfhundert neuen Peers. Die Ernennung von Peers ist ein Recht
der Krone, und wenn man auch annehmen darf, daß die Krone einem klar und
unzweideutigen Willen der Nation, wie er sich bei den Wahlen kundtut, Folge
geben würde, so konnte doch der Ausfall der Januarwahlen kaum als eine
solche unzweideutige Willenskundgebung der Nation gelten. Eine Regierung,
die nur eine Zweistimmenmehrheit über die Opposition besitzt, wird sich nicht
leicht dazu entschließen, der Krone die Ernennung von fünfhundert neuen Peers
vorzuschlagen. Um eine endgültige Entscheidung herbeizuführen, waren noch¬
malige Wahlen notwendig.

Gerade von diesem Umstände drohte dem Bestände der Koalition Gefahr.
Die Regierung mußte, ehe sie das Parlament von neuem auflöste, dem alten
Budget von 1909, das das Oberhaus abgelehnt hatte, Gesetzeskraft verschaffen.
Jenes Budget war aber in Irland wegen der hohen Wiskysteuern von Anfang
an höchst unpopulär gewesen. Die nationalistische Partei wollte daher nicht
eher für das Budget stimmen, als bis die Regierung ihr Garantien gegeben
hätte, daß sie nach den nächsten Wahlen nicht nur den Willen, sondern auch
die Macht besitzen würde, die Rechte des Oberhauses wirksam zu beschneiden.
Derartige Garantien konnte die Negierung nicht geben. Aber ohne sichere
Aussicht, binnen kurzer Zeit die wichtigste Vorbedingung sür Homerule zu
erreichen, wollte der Führer der Nationalisten, Mr. Redmond, alles vermeiden,
was seiner Partei in Irland schaden könnte. Er mußte auf die budgetfeind¬
liche Stimmung daheim um so größere Rücksicht nehmen, als eben in den
letzten Wahlen Mr. William O'Brien eine zweite nationalistische Partei geschaffen
hatte, die zunächst zwar nur elf Abgeordnete zählte, die aber fast ebenso viel
Stimmen aufgebracht hatte wie ihre Gegner. Die Stellung der alten par¬
lamentarischen Partei war ohnehin schwierig genug. Irland ist in einer tief¬
greifenden Umwandlung begriffen. Durch die Ablösung der Grundherrschaften
und die Begründung eines Bauernstandes zu Eigentumsrechten erhält das Land
eine völlig neue wirtschaftliche und soziale Struktur. Eine jungirische Literatur
und eine Mische Sprachbewegung sind entstanden; politisch-wirtschaftliche und
kulturelle Organisationen wie "Sinn-Fein" und die Gallsche Liga haben neue
nationale Ideale aufgestellt. Auf allen Gebieten sind neue Lebenskräfte ent¬
sprossen. Politisch sind diese jungen Bewegungen und Organisationen vorläufig


Die politische Lage in Lngland

Finanzgesetze gar keinen Einfluß und gegen andre Bills nur ein suspensives
Veto haben sollte. In dem Kampf gegen das Oberhaus hatten die Liberalen
sowohl die Iren wie die Arbeiterpartei auf ihrer Seite. Die Arbeiterpartei
möchte das Oberhaus am liebsten ganz abschaffen, und die Iren erblicken in der
Beschränkung seiner Macht den nächsten Weg zur Erreichung von Homerule.
Aber es war für die Regierung so gut wie ausgeschlossen, ihren Plan in dein
gegenwärtigen Parlament zu verwirklichen. Das Unterhaus allein kann die
Verfassung nicht ändern, auch das Oberhaus muß seine Zustimmung geben.
Dazu wäre ein Peerschub notwendig, und zwar handelt es sich um die Ernennung
von nahezu fünfhundert neuen Peers. Die Ernennung von Peers ist ein Recht
der Krone, und wenn man auch annehmen darf, daß die Krone einem klar und
unzweideutigen Willen der Nation, wie er sich bei den Wahlen kundtut, Folge
geben würde, so konnte doch der Ausfall der Januarwahlen kaum als eine
solche unzweideutige Willenskundgebung der Nation gelten. Eine Regierung,
die nur eine Zweistimmenmehrheit über die Opposition besitzt, wird sich nicht
leicht dazu entschließen, der Krone die Ernennung von fünfhundert neuen Peers
vorzuschlagen. Um eine endgültige Entscheidung herbeizuführen, waren noch¬
malige Wahlen notwendig.

Gerade von diesem Umstände drohte dem Bestände der Koalition Gefahr.
Die Regierung mußte, ehe sie das Parlament von neuem auflöste, dem alten
Budget von 1909, das das Oberhaus abgelehnt hatte, Gesetzeskraft verschaffen.
Jenes Budget war aber in Irland wegen der hohen Wiskysteuern von Anfang
an höchst unpopulär gewesen. Die nationalistische Partei wollte daher nicht
eher für das Budget stimmen, als bis die Regierung ihr Garantien gegeben
hätte, daß sie nach den nächsten Wahlen nicht nur den Willen, sondern auch
die Macht besitzen würde, die Rechte des Oberhauses wirksam zu beschneiden.
Derartige Garantien konnte die Negierung nicht geben. Aber ohne sichere
Aussicht, binnen kurzer Zeit die wichtigste Vorbedingung sür Homerule zu
erreichen, wollte der Führer der Nationalisten, Mr. Redmond, alles vermeiden,
was seiner Partei in Irland schaden könnte. Er mußte auf die budgetfeind¬
liche Stimmung daheim um so größere Rücksicht nehmen, als eben in den
letzten Wahlen Mr. William O'Brien eine zweite nationalistische Partei geschaffen
hatte, die zunächst zwar nur elf Abgeordnete zählte, die aber fast ebenso viel
Stimmen aufgebracht hatte wie ihre Gegner. Die Stellung der alten par¬
lamentarischen Partei war ohnehin schwierig genug. Irland ist in einer tief¬
greifenden Umwandlung begriffen. Durch die Ablösung der Grundherrschaften
und die Begründung eines Bauernstandes zu Eigentumsrechten erhält das Land
eine völlig neue wirtschaftliche und soziale Struktur. Eine jungirische Literatur
und eine Mische Sprachbewegung sind entstanden; politisch-wirtschaftliche und
kulturelle Organisationen wie „Sinn-Fein" und die Gallsche Liga haben neue
nationale Ideale aufgestellt. Auf allen Gebieten sind neue Lebenskräfte ent¬
sprossen. Politisch sind diese jungen Bewegungen und Organisationen vorläufig


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[0368] Die politische Lage in Lngland Finanzgesetze gar keinen Einfluß und gegen andre Bills nur ein suspensives Veto haben sollte. In dem Kampf gegen das Oberhaus hatten die Liberalen sowohl die Iren wie die Arbeiterpartei auf ihrer Seite. Die Arbeiterpartei möchte das Oberhaus am liebsten ganz abschaffen, und die Iren erblicken in der Beschränkung seiner Macht den nächsten Weg zur Erreichung von Homerule. Aber es war für die Regierung so gut wie ausgeschlossen, ihren Plan in dein gegenwärtigen Parlament zu verwirklichen. Das Unterhaus allein kann die Verfassung nicht ändern, auch das Oberhaus muß seine Zustimmung geben. Dazu wäre ein Peerschub notwendig, und zwar handelt es sich um die Ernennung von nahezu fünfhundert neuen Peers. Die Ernennung von Peers ist ein Recht der Krone, und wenn man auch annehmen darf, daß die Krone einem klar und unzweideutigen Willen der Nation, wie er sich bei den Wahlen kundtut, Folge geben würde, so konnte doch der Ausfall der Januarwahlen kaum als eine solche unzweideutige Willenskundgebung der Nation gelten. Eine Regierung, die nur eine Zweistimmenmehrheit über die Opposition besitzt, wird sich nicht leicht dazu entschließen, der Krone die Ernennung von fünfhundert neuen Peers vorzuschlagen. Um eine endgültige Entscheidung herbeizuführen, waren noch¬ malige Wahlen notwendig. Gerade von diesem Umstände drohte dem Bestände der Koalition Gefahr. Die Regierung mußte, ehe sie das Parlament von neuem auflöste, dem alten Budget von 1909, das das Oberhaus abgelehnt hatte, Gesetzeskraft verschaffen. Jenes Budget war aber in Irland wegen der hohen Wiskysteuern von Anfang an höchst unpopulär gewesen. Die nationalistische Partei wollte daher nicht eher für das Budget stimmen, als bis die Regierung ihr Garantien gegeben hätte, daß sie nach den nächsten Wahlen nicht nur den Willen, sondern auch die Macht besitzen würde, die Rechte des Oberhauses wirksam zu beschneiden. Derartige Garantien konnte die Negierung nicht geben. Aber ohne sichere Aussicht, binnen kurzer Zeit die wichtigste Vorbedingung sür Homerule zu erreichen, wollte der Führer der Nationalisten, Mr. Redmond, alles vermeiden, was seiner Partei in Irland schaden könnte. Er mußte auf die budgetfeind¬ liche Stimmung daheim um so größere Rücksicht nehmen, als eben in den letzten Wahlen Mr. William O'Brien eine zweite nationalistische Partei geschaffen hatte, die zunächst zwar nur elf Abgeordnete zählte, die aber fast ebenso viel Stimmen aufgebracht hatte wie ihre Gegner. Die Stellung der alten par¬ lamentarischen Partei war ohnehin schwierig genug. Irland ist in einer tief¬ greifenden Umwandlung begriffen. Durch die Ablösung der Grundherrschaften und die Begründung eines Bauernstandes zu Eigentumsrechten erhält das Land eine völlig neue wirtschaftliche und soziale Struktur. Eine jungirische Literatur und eine Mische Sprachbewegung sind entstanden; politisch-wirtschaftliche und kulturelle Organisationen wie „Sinn-Fein" und die Gallsche Liga haben neue nationale Ideale aufgestellt. Auf allen Gebieten sind neue Lebenskräfte ent¬ sprossen. Politisch sind diese jungen Bewegungen und Organisationen vorläufig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/368>, abgerufen am 03.06.2024.