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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Dmitri Mcreshkowsky

eine Begabung gezeigt, die Fremdes so feinsinnig neu zu gestalten weiß, daß
man es für eigenen Besitz halten könnte. Unter seinen Gedichten fällt das
"Sakjamuni" betitelte auf wegen der Schilderung der hungernden Bettlerschar,
die zur Nachtzeit in den Tempel Buddhas eindringt, um aus der Krone des
Standbilds den funkelnden Diamant zu stehlen. Ein furchtbares Strafgericht
scheint sich den Unglücklichen in Blitz und Donner anzukündigen. Aber als
einer von den Ärmsten wutentbrannt an das Bild herantritt und den Gott
ungerecht und erbarmungslos schilt, erhebt sich dieser von seinen: Thron, um
vor dem Bettler schweigend zu knien und ihm den funkelnden Edelstein selbst
zu reichen. In einem andern Gedicht wird bereits dem Meister, der in dem
Mailänder Dominikanerkloster das heilige Abendmahl an die Wand des
Refektoriums zauberte, als einem der Größten von allen führenden Geistern
eine weihevolle Huldigung dargebracht. Daß ein Dichter zu uns spricht, der
vieles zu sagen hat, ahnen wir beim sinnschweren Klang dieser Verse. Zur
Gewißheit wird es aber erst, wenn er zu seinen kritischen Arbeiten die Feder
ansetzt und die Höhe seiner Kunst selbst durch die Art bestimmt, wie er seine
Persönlichkeit in dem allseitigen geistigen Erfassen großer geschichtlicher Epochen
zur Geltung bringt.

In seinem Buche "Jntentions" schildert Oskar Wilde das freundschaftliche
Gespräch zweier Engländer, die in einem prächtig eingerichteten Bibliothekzimmer
eines Hauses am Piccadilln beim Schein der Lichter über weiche Teppiche
schreiten, den Duft ihrer Zigaretten einsaugen, das dumpfe nächtliche Brausen
Londons wie geheimnisvoll verklingende Musik an ihr Ohr dringen lassen und
im Nachgeschmack edler Speisen und Getränke sich über das Verhältnis von
Kunst und Kritik unterhalten. Der Dialog verteilt die Rollen derartig, daß
jede Bemerkung des einen in ritterlicher Weise von dem andern bestritten wird,
so daß man den Eindruck zweier Jongleure empfängt, die sich bunte Bälle zu¬
werfen und sie geschickt auffangen. Sieger bleibt aber zuletzt der temperamentvolle
Gilbert, der das Wesen der Kritik untersucht und dabei die Ansicht vertritt,
daß sie auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe etwas schöpferisches, Unabhängiges
und der Kunst völlig Ebenbürtiges darstelle. Sie soll das, was im Reich des
Schönen als Wort, Form, Farbe oder Klang entstanden ist, in neuer Fassung
zeigen und die feinste Kultur von unzähligen Geschlechtern derartig ausströmen
lassen, daß sie dadurch die geistige Atmosphäre eines ganzen Zeitalters bestimmt.
Der Künstler entnimmt seine Stoffe dem Leben, das er in seinen Höhen und
Tiefen abschreitet. Der Kritiker im vollendeten Sinne des Worts durchdringt
in ähnlicher Weise die Kunst, zeigt sie in unmittelbarer Verbindung mit der
Gegenwart und macht sie zu etwas lebendig Fortwirkendem, das die Welt
bewegt und beglückt.

Ein solcher Kritiker ist allerdings ebenso selten wie ein großer Dichter,
Maler, Bildhauer und Musiker, und Männer dieser Art waren in Rußland gerade
so dünn gesät wie überall. Als bedeutungsvollste unter diesen Persönlichkeiten


Dmitri Mcreshkowsky

eine Begabung gezeigt, die Fremdes so feinsinnig neu zu gestalten weiß, daß
man es für eigenen Besitz halten könnte. Unter seinen Gedichten fällt das
„Sakjamuni" betitelte auf wegen der Schilderung der hungernden Bettlerschar,
die zur Nachtzeit in den Tempel Buddhas eindringt, um aus der Krone des
Standbilds den funkelnden Diamant zu stehlen. Ein furchtbares Strafgericht
scheint sich den Unglücklichen in Blitz und Donner anzukündigen. Aber als
einer von den Ärmsten wutentbrannt an das Bild herantritt und den Gott
ungerecht und erbarmungslos schilt, erhebt sich dieser von seinen: Thron, um
vor dem Bettler schweigend zu knien und ihm den funkelnden Edelstein selbst
zu reichen. In einem andern Gedicht wird bereits dem Meister, der in dem
Mailänder Dominikanerkloster das heilige Abendmahl an die Wand des
Refektoriums zauberte, als einem der Größten von allen führenden Geistern
eine weihevolle Huldigung dargebracht. Daß ein Dichter zu uns spricht, der
vieles zu sagen hat, ahnen wir beim sinnschweren Klang dieser Verse. Zur
Gewißheit wird es aber erst, wenn er zu seinen kritischen Arbeiten die Feder
ansetzt und die Höhe seiner Kunst selbst durch die Art bestimmt, wie er seine
Persönlichkeit in dem allseitigen geistigen Erfassen großer geschichtlicher Epochen
zur Geltung bringt.

In seinem Buche „Jntentions" schildert Oskar Wilde das freundschaftliche
Gespräch zweier Engländer, die in einem prächtig eingerichteten Bibliothekzimmer
eines Hauses am Piccadilln beim Schein der Lichter über weiche Teppiche
schreiten, den Duft ihrer Zigaretten einsaugen, das dumpfe nächtliche Brausen
Londons wie geheimnisvoll verklingende Musik an ihr Ohr dringen lassen und
im Nachgeschmack edler Speisen und Getränke sich über das Verhältnis von
Kunst und Kritik unterhalten. Der Dialog verteilt die Rollen derartig, daß
jede Bemerkung des einen in ritterlicher Weise von dem andern bestritten wird,
so daß man den Eindruck zweier Jongleure empfängt, die sich bunte Bälle zu¬
werfen und sie geschickt auffangen. Sieger bleibt aber zuletzt der temperamentvolle
Gilbert, der das Wesen der Kritik untersucht und dabei die Ansicht vertritt,
daß sie auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe etwas schöpferisches, Unabhängiges
und der Kunst völlig Ebenbürtiges darstelle. Sie soll das, was im Reich des
Schönen als Wort, Form, Farbe oder Klang entstanden ist, in neuer Fassung
zeigen und die feinste Kultur von unzähligen Geschlechtern derartig ausströmen
lassen, daß sie dadurch die geistige Atmosphäre eines ganzen Zeitalters bestimmt.
Der Künstler entnimmt seine Stoffe dem Leben, das er in seinen Höhen und
Tiefen abschreitet. Der Kritiker im vollendeten Sinne des Worts durchdringt
in ähnlicher Weise die Kunst, zeigt sie in unmittelbarer Verbindung mit der
Gegenwart und macht sie zu etwas lebendig Fortwirkendem, das die Welt
bewegt und beglückt.

Ein solcher Kritiker ist allerdings ebenso selten wie ein großer Dichter,
Maler, Bildhauer und Musiker, und Männer dieser Art waren in Rußland gerade
so dünn gesät wie überall. Als bedeutungsvollste unter diesen Persönlichkeiten


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[0042] Dmitri Mcreshkowsky eine Begabung gezeigt, die Fremdes so feinsinnig neu zu gestalten weiß, daß man es für eigenen Besitz halten könnte. Unter seinen Gedichten fällt das „Sakjamuni" betitelte auf wegen der Schilderung der hungernden Bettlerschar, die zur Nachtzeit in den Tempel Buddhas eindringt, um aus der Krone des Standbilds den funkelnden Diamant zu stehlen. Ein furchtbares Strafgericht scheint sich den Unglücklichen in Blitz und Donner anzukündigen. Aber als einer von den Ärmsten wutentbrannt an das Bild herantritt und den Gott ungerecht und erbarmungslos schilt, erhebt sich dieser von seinen: Thron, um vor dem Bettler schweigend zu knien und ihm den funkelnden Edelstein selbst zu reichen. In einem andern Gedicht wird bereits dem Meister, der in dem Mailänder Dominikanerkloster das heilige Abendmahl an die Wand des Refektoriums zauberte, als einem der Größten von allen führenden Geistern eine weihevolle Huldigung dargebracht. Daß ein Dichter zu uns spricht, der vieles zu sagen hat, ahnen wir beim sinnschweren Klang dieser Verse. Zur Gewißheit wird es aber erst, wenn er zu seinen kritischen Arbeiten die Feder ansetzt und die Höhe seiner Kunst selbst durch die Art bestimmt, wie er seine Persönlichkeit in dem allseitigen geistigen Erfassen großer geschichtlicher Epochen zur Geltung bringt. In seinem Buche „Jntentions" schildert Oskar Wilde das freundschaftliche Gespräch zweier Engländer, die in einem prächtig eingerichteten Bibliothekzimmer eines Hauses am Piccadilln beim Schein der Lichter über weiche Teppiche schreiten, den Duft ihrer Zigaretten einsaugen, das dumpfe nächtliche Brausen Londons wie geheimnisvoll verklingende Musik an ihr Ohr dringen lassen und im Nachgeschmack edler Speisen und Getränke sich über das Verhältnis von Kunst und Kritik unterhalten. Der Dialog verteilt die Rollen derartig, daß jede Bemerkung des einen in ritterlicher Weise von dem andern bestritten wird, so daß man den Eindruck zweier Jongleure empfängt, die sich bunte Bälle zu¬ werfen und sie geschickt auffangen. Sieger bleibt aber zuletzt der temperamentvolle Gilbert, der das Wesen der Kritik untersucht und dabei die Ansicht vertritt, daß sie auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe etwas schöpferisches, Unabhängiges und der Kunst völlig Ebenbürtiges darstelle. Sie soll das, was im Reich des Schönen als Wort, Form, Farbe oder Klang entstanden ist, in neuer Fassung zeigen und die feinste Kultur von unzähligen Geschlechtern derartig ausströmen lassen, daß sie dadurch die geistige Atmosphäre eines ganzen Zeitalters bestimmt. Der Künstler entnimmt seine Stoffe dem Leben, das er in seinen Höhen und Tiefen abschreitet. Der Kritiker im vollendeten Sinne des Worts durchdringt in ähnlicher Weise die Kunst, zeigt sie in unmittelbarer Verbindung mit der Gegenwart und macht sie zu etwas lebendig Fortwirkendem, das die Welt bewegt und beglückt. Ein solcher Kritiker ist allerdings ebenso selten wie ein großer Dichter, Maler, Bildhauer und Musiker, und Männer dieser Art waren in Rußland gerade so dünn gesät wie überall. Als bedeutungsvollste unter diesen Persönlichkeiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/42>, abgerufen am 15.05.2024.